Michael Kothe

Thomas legt die Füße auf die Konsole, schlägt die Beine übereinander, lehnt sich zurück und verschränkt die Hände hinter dem Nacken. Aus dem altmodischen MP3-Player, den er auf irgendeinem  gottverlassenen intergalaktischen Flohmarkt aufgetrieben hat, gibt es die Neue Deutsche Welle auf die Ohren. So lässt sich´s aushalten! Zeit, in den Tag hineinzuträumen, hat er reichlich. Erst in vierzehn Tagen wird er das Bremsmanöver einleiten, wenn die Umlaufbahn von Saran 1 erreicht ist. Und so genießt er die zwölf gespeicherten Musiktitel.

Er fühlt sich nicht als Held, eher als Weichei. Seine Befehlsgewalt über Schiff und Besatzung verdankt er dem Zufall. Die Zentrale hatte seine Personalakte falsch abgelegt, und das nächste freie Kommando wurde ihm zugeteilt. Ein Vorgesetztentyp ist er auch nicht. Das Personal der Stardust 4 tanzt ihm auf der Nase herum, hartgesottene Raumfahrer mit langer Erfahrung, kernigen Sprüchen und zahllosen Kerben in den Griffschalen ihrer Strahlenwaffen und in ihren Gesichtern. Von einem Dünnbrettbohrer wie Thomas lassen sie sich nichts sagen. Dass die Gesellschaft sich an militärischen Strukturen orientiert wie auch seine Vorliebe für die NDW bescherten ihm den Spitznamen Major Tom, Respekt aber nicht. So ist er froh, dass die Mannschaft ihn in seinem Kommandostand in Frieden lässt.

Tom seufzt und richtet den Blick auf den Monitor. Die wahnsinnige Geschwindigkeit des Raumfrachters lässt das Aufflackern vorbeiziehender Sonnensysteme als psychedelisches Farbenspiel ablaufen. Er beugt sich gemächlich vor, um ein Objekt heranzuzoomen, dass die Stardust zu begleiten scheint. Er grinst amüsiert, kann sich nicht entscheiden, ob dieses lila Gewaber ein Kalmar oder ein Oktopus sein soll. Mit Interesse verfolgt er das Näherkommen des Weltraumkraken. Er schüttelt den Kopf. Weltraumkraken? Hirngespinste! Er schließt die Augen und widmet sich seiner Musik.

 

Mmpff! Ein Schmatzen dringt durch seine Kopfhörer. Schlagartig pumpt sich Adrenalin in jede Faser seines Bewusstseins. Das Geräusch kennt er aus Lehrfilmen der Raumfahrtakademie. Geistesgegenwärtig drückt er den Alarmknopf, entriegelt dadurch auch alle Waffenschränke im Schiff, seine Mannschaft braucht nur Sekunden, um sich aufzurüsten. Er schiebt den Lautstärkeregler hoch: »Hier spricht der Kommandant. Andockmanöver von Raumpiraten! Dies ist keine Übung.« Seine Stimme schnappt über, klingt eine halbe Oktave zu hoch. »Ich wiederhole: Dies ist keine Übung!« Gelächter von irgendwoher tönt aus dem Lautsprecher, Monitore geben ihm den Blick frei auf eine feixende Mannschaft. Den Kameras recken sich Mittelfinger entgegen. Bis ein Kreischen dazu führt, dass die Finger eingezogen werden. Tom sieht die Mannschaft zu den Waffen hetzen.

Eine Kamera zoomt das Loch heran, das eine Lochsäge in den Rumpf gefräst hat, Das zylinderförmige Werkzeug dichtet das Schiff gegen das Vakuum des Weltalls ab. Durch die mannsgroße Öffnung sieht er die Feinde eindringen – Tintenfische!

Major Tom agiert panisch, er springt aus dem Sessel auf, gibt ihm dabei einen Drehimpuls, der ihn seinerseits zu Fall bringt. Er rappelt sich auf, reckt sich zur Wand, zieht sich an der Unterkante der Nische hoch und nimmt seine persönliche Strahlenpistole heraus. Was will er eigentlich damit? Auf der Akademie war er ein lausiger Schütze, und an Bord hat er Angst, er könne damit die Außenhülle aufschweißen. Er atmet tief durch und steckt unentschlossen die Pistole ins Hüftholster. Ihm ist klar, dass seine Mannschaft mit den Eindringlingen fertig werden muss. Was aber soll er machen? Soll er die Schotten schließen, um ein Vordringen aufzuhalten?  Oder soll er sie offenlassen, um seinen Leuten den Rückzug zu ermöglichen? Was sagt das Sicherheitshandbuch? Wild scrollt er über die Dateisymbole auf dem Monitor. Das Handbuch versteckt sich hinter gefühlten hundert Symbolen, die er jetzt nicht mehr auseinanderhalten kann. Er gibt auf. Panisch presst er den einen Knopf, verriegelt alle Sektoren. Seine Mannschaft muss ab jetzt jedes Schott manuell öffnen.

Sein Blick wandert nach oben. Der Bildschirm präsentiert ihm ein regelrechtes Schlachtenszenario, seine Männer werfen sich in voller Gefechtsmontur und mit den mächtigsten Handfeuerwaffen, die er kennt, kleinen Gruppen halbtransparenter Tintenfische entgegen. Das einzig Feste an denen scheint ihre Waffe zu sein: ein Laserschwert, das sie mit den Enden ihrer Fangarme umklammern. Lauthals lacht er auf. Die Jedis von der Dunklen Seite! Lächerlich, damit ein Schiff wie seines entern zu wollen!

Major Tom beruhigt sich. Er fühlt sich in Sicherheit, ist überzeugt, dass seine Mannschaft die Invasion bald gestoppt haben wird. Er gleitet in seinen Sessel und greift zum Joystick, der die Kameras lenkt. Genüsslich verfolgt er die einzelnen Kämpfe. Die Angreifer sind in der Minderzahl, haben nur Nahkampfwaffen und werden in Stücke geschossen. Hei, wie die Tentakel fliegen!

 

Freilich lohnt sich ein Angriff auf seinen Frachter aus zweierlei Hinsicht: Die Ladung ist ein Vermögen wert, und außerdem hat seine Gesellschaft gegen das interstellare Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen. Die illegalen Sicherheitscodes erlauben ihren Raumkreuzern, sich allen von Menschen bevölkerten Systemen zu nähern, ohne deren Abwehrmechanismen zu aktivieren. Im Gegenteil, keine Waffe würde je einen Stardust-Kreuzer unter Beschuss nehmen. Während Major Tom diesem Gedanken nachhängt, sieht er die erste Gruppe seiner Männer zusammensinken, zerstückelt von Laserschwertern. Lautlos. Die Kameras übertragen keinen Ton.

»Sch…, wie ist das möglich?«

Die nächste Kamera zeigt es ihm. Die Laserschwerter wachsen Toms Kämpfern entgegen und zerlegen sie regelrecht in Scheiben. Kauterisieren, sodass nicht einmal Blut fließt. Die zweite Gruppe ist aufgerieben, dann die dritte!

Eine Kameradrohne hat nun auf der Außenhülle das gegnerische Raumschiff erfasst und sendet die Bilder nach innen. »Ich hab´s gewusst! Es ist ein Kalmar!« Euphorie erfasst Major Tom, der Realität entrückt klatscht er sich auf die Schenkel vor Freude, das erkannt zu haben. »Ha, Kalmare haben zehn Fangarme, Oktopusse nur acht! Zudem sind beim Kalmar zweie länger als die anderen.«

Die breiten Enden dieser beiden legen sich nun flächig auf die Hülle der Stardust 4, auch der Kalmarkörper schmiegt sich an die Oberfläche. Die acht ungenutzten Arme richten sich auf, ihre Enden weisen nach vorn, in Flugrichtung: Waffen. Mit der Vernichtungskraft eines Sternenzerstörers!

»Da hat George Lucas Recht gehabt! Alles, was vorstellbar ist, wird es irgendwann einmal geben. Das war schon so bei Jules Verne und Hans Dominik!« Tom klatscht in die Hände vor Begeisterung. Er kennt diese Waffen aus der Theorie. Ihre Reichweite wird nur durch ihre schwer zu beherrschende Treffsicherheit begrenzt. Aus den Augenwinkeln nimmt er wahr, wie seine letzte Gruppe sauber zerkleinert zu Boden geht. Fasziniert beobachtet er, wie sich der Kalmar weiter streckt und beinahe zur Länge der Stardust 4 aufwächst.

Ein Bersten lässt Major Tom zusammenfahren. Er kann das Geräusch einordnen. Ein Schott wurde durchbrochen. Endlich erkennt er die Gefahr, die nicht nur ihm persönlich als dem einzigen Überlebenden droht, sondern die auf die gesamte menschliche Rasse zurast.

»Relativ langsam«, errechnet Major Tom, »vierzehn Tage dauert es noch. Naja, abzüglich der Waffenreichweite, die der Frachter ja nicht selbst zurücklegen muss – also noch zehn bis zwölf … Minuten

Nun ist ihm klar, warum der Überfall gerade hier stattgefunden hat. Auch wenn er einen Hilferuf absetzt, ein Not- oder Warnsignal, kann niemand rechtzeitig zu Hilfe eilen, kann niemand mehr die Systeme so umprogrammieren, dass sie die Stardust 4 ihrerseits zerstören würden!

 

»Die Stardust 4 zerstören!« Wie Schuppen fällt es Major Tom von den Augen. Die einzige Option zur Rettung von Milliarden Menschenleben in seiner Hand! Er ist Herr über Leben und Tod. Gottgleich.  »Äh, dann sprenge ich mich ja selbst in die Luft!« Er zittert. Überlegt fieberhaft, sinnt nach Alternativen. Findet keine. Das nächste Schott bricht. Jetzt bleibt noch eins bis zum Kommandoraum. Das Sicherheitshandbuch fällt ihm wieder ein, das Stichwort Selbstzerstörungsmechanismus. Dieser Zungenbrecher hämmert sich in sein Hirn, klammert sich bis an die allerletzte Synapse. Seine Gedanken wandern zur Schublade unter der Konsole. Hierin liegt das Sicherheitshandbuch in gedruckter Form. Altmodisch, aber griffbereit. Er weiß: Der Code für die Selbstzerstörung steht gleich auf Seite 4. Tom hechtet zur Schublade. Er ist zum Glück ein Weichei, will sich gegen jede Eventualität abgesichert wissen und hatte deshalb alle Handbücher der Stardust 4 ausgedruckt. Er wuchtet den Wälzer auf die Konsole, blättert blind zum Kapitel Selbstzerstörung.

Er schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Oh mein Gott, ein 32-stelliger alphanumerischer Code mit Groß- und Kleinschreibung!« Er zwingt sich zur Ruhe. »Naja, wenigstens keine Sonderzeichen!«

Blind huschen seine Finger über die Tasten. Er wundert sich über die unvermutete Treffsicherheit. Er ist stolz, die Menschheit zu retten. Wie wird man ihn feiern, Major Tom, den Helden, den Supermann! Zwar posthum, aber er hat es allen gezeigt. Den Weltraumpiraten, seiner Gesellschaft und der Weltöffentlichkeit, schließlich wird alles unzerstörbar aufgezeichnet. Noch ein letzter Tastendruck, die Eingabetaste! Sein Finger schwebt darüber, als er hinter sich ein Krachen hört: Die Tintenfische haben sich den Weg in die Kommandozentrale gebahnt. Na und? Seine Hand senkt sich, er wendet sich seinen Feinden zu, sein Mund zieht sich in die Breite.

Das Grinsen gefriert ihm jäh im Gesicht, er richtet den Blick wieder auf den Monitor.

Herzlichen Glückwunsch, dass Sie sich für den Kauf der Raumschiff-Einbauküche Orbit 2500 entschieden haben. Sie haben die Bedienung über die Zentralsteuerung freigeschaltet …

Während das Laserschwert auf ihn niederzuckt, presst Major Tom seine letzten Worte durch die Lippen: »Scheiße! Falsches Handbuch.«

 

V2