Monika Heil

Wie es kam, dass ich mir ein neues Hobby zulegte, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Meine Freundin hatte mich ungewollt darauf aufmerksam gemacht, als sie vom neuesten Projekt ihres Lebenspartners erzählte. Er arbeitete an einer Dokumentation über Vor- und Nachteile von Partnerbörsen. So fing ich an, bei meinen Spaziergängen durchs Internet in den einschlägigen Portalen zu surfen. Das lenkte, zumindest vorübergehend, von der Tristesse meines Alltags ab. Außer den gelegentlichen Besuchen meiner Enkelinnen Mia und Petra gibt es nicht viel Abwechslung in meinem Alltag. Ihre alleinerziehende Mutter ist berufstätig und freut sich, wenn ich ihr ab und zu die Kinder abnehme. Die vierzehnjährige Mia ist schon ein besonderer Sonnenschein, die mich mit ihren heiteren Sprüchen immer wieder aufmuntert.

 

Seit ich Witwe wurde, lebe ich allein in meiner Drei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand in ländlicher Idylle. Hobbys habe ich schon, mein Theater-Abo in der Stadthalle, meine geliebten Bücher, das Fernsehen. Und ab zu eine Tagesfahrt mit dem örtlichen Reiseunternehmen in die nähere Umgebung, die meine Enkelin meist mit dem Hinweis: »alles nur ole Lüüt´» abtut.

 

Und nun das Internet. »Man wird alt wie ´ne Kuh und lernt immer noch dazu», wie Mia so treffend bemerkte. Sie hat mir das Wichtigste beigebracht. »Alles ganz einfach«, behauptete sie. »Ist wie surfen ohne Wellen. Heißt auch so.» Naja. Doch, es macht mir zunehmend Spaß. Interessant, was sich da so anbietet. Wie gesagt, auf die Partnerbörse hat mich meine Freundin gebracht. »Je oller, je doller«, war Mias Kommentar. Ich habe das Thema in ihrem Beisein daraufhin nicht mehr erwähnt.

 

Ich stellte fest, dass es offene und anonyme Portale gab, welche, die Geld kosteten und andere, die kostenfrei waren. Ich legte mir extra eine zweite E-mail-Adresse zu, denn Anonymität war mir in diesem Zusammenhang wichtig. Fortan chattete ich unter dem Decknamen Luna-Vera und es machte mir zunehmend Spaß, ja ich empfand sogar einen kleinen Nervenkitzel, wenn ich auf Online-Suche ging. Es fühlte sich fast so an, wie der Beginn meiner Kurzaffäre mit Erich. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Beklommen fragte ich mich ab und zu, was wäre, wenn ich wirklich den Traummann fände? Und immer wieder: will ich das überhaupt? Meine Antwort war klar: Nein. Ich wollte nur ein bisschen Ablenkung. Eines blieb mir unabdingbar wichtig. Ich wollte unvoreingenommen mit interessanten Männern kommunizieren und mich nicht von Äußerlichkeiten ablenken lassen. Bis ich meine Grundsätze wegen Karsten brach und mich doch aus der Deckung wagte.

 

Ein Witwer, Ende fünfzig, hatte es geschafft, mein Herz zu berühren. Er hatte sich als Architekt und Vater zweier erwachsener Töchter vorgestellt. Es folgten Wochen, in denen ich jeden Abend auf sein »Hallo« und unsere virtuellen Gespräche wartete. Mit Karsten konnte ich über alles reden – Reisen, Bücher, Theater, gesellschaftliche Probleme, sogar über Politik. Eigentlich gab es kein Thema, bei dem ich nicht spürte, wir hatten die gleiche Wellenlänge. Karsten schien es wert zu sein, meine selbstgemachten Regeln über Bord zu werfen. Im Nachhinein weiß ich, es wäre besser gewesen, auf diese Begegnung zu verzichten.

 

Wir trafen uns zum Mittagessen im Fährhaus an der Elbe. Da wir Fotos nicht ausgetauscht hatten, verabredeten wir uns im klassisch-kitschigen Stil. Jeder trug – wie vereinbart – ein Taschenbuch bei sich. Ich betrat als Erste das Lokal. So konnte ich in meinem Exemplar lesen, bis mein unbekannter Bekannter auftauchte. Jedes Mal, wenn sich die Eingangstür öffnete, schaute ich gespannt von den Seiten auf. Karsten trug sein Exemplar vor sich her wie eine Landkarte, auf der er die richtige Route studierte. Ich klappte spontan mein Buch zu und wollte es blitzschnell in meiner Umhängetasche verschwinden lassen, als könnte ich mich ohne dieses Erkennungszeichen unsichtbar machen und dadurch unseren Kontakt verhindern. Karsten war schneller. Eine beigefarbene Kugel, die nach preisreduziertem After-shave aus der Drogerie roch, rollte auf mich zu. Ich registrierte, der Mann war mindestens einen Kopf kleiner als ich, hatte mehr als zwanzig Kilogramm Übergewicht und schnaufte bei der kleinsten Anstrengung wie ein Walross. Er hatte eine Glatze, oder richtiger, eine Dreiviertelglatze, denn im Nacken kringelte sich ein schmaler, zu langer Haarkranz, der zu seinem ausgedünnten, grauen Vollbart passte. Das allein war noch kein Problem. Sein Herpes und seine gerötete Nase störten mich allerdings mächtig. Woher letzteres kam, wurde mir später klar, denn sein Bier- und Schnapskonsum während unseres gemeinsamen Essens entpuppten sich als beträchtlich. Als er meinen Tisch erreicht hatte, erkannte ich einen weiteren Grund, diesen Mann in Zukunft zu meiden. Er roch noch Schweiß und Rauch.

»Nicht aus dem Fenster springen«, warnte er lachend in Anspielung auf den vereinbarten Buchtitel.

»Da ich noch nicht hundert bin, hat das noch Zeit«, konterte ich. Karsten begrüßte mich, als seien wir langjährige Freunde und setzte sich keuchend. Dabei zog er ein rotkariertes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über Stirn und kahlen Schädel.

 

Unser gemeinsames Mittagessen verlief ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Welch ein Unterschied zwischen dem Karsten im Internet und dem Mann, der mit mir an einem Tisch saß. Spontan zog ich eine imaginäre Mauer auf, die keiner von uns beiden so richtig wieder abbauen konnte. Irritiert registrierte ich Karstens unmotivierte Sprechpausen. Es schien, als würde er den Satz, den er als nächstes aussprechen wollte, erst einmal prüfen, bevor er ihn über die Lippen brachte. Ich kann es nicht richtig erklären, doch ich hatte ständig das Gefühl, als benutze er eine fremde Sprache. Karsten merkte es kaum, denn meist huschte sein Blick an mir vorbei. In Gedanken rief ich mir unsere abwechslungsreichen und amüsanten Internetdialoge in Erinnerung. Es half nichts. Ich wusste, diesen Mann wollte ich nie wieder sehen. Egal wie intelligent und charmant er sich äußern konnte. Je zurückhaltender ich mich gab, desto lebhafter schien er zu werden. Und dann versuchte er, gleich ein nächstes Treffen vereinbaren.

»Ich komme gern zu dir. Vielleicht abends? Du könntest ja was Leckeres kochen, dann sparen wir uns die teuren Rechnungen hier im Restaurant. Und wenn du ein lecker Weinchen da hast, bleibe ich gern über Nacht, damit ich nicht mehr fahren muss.«

Nein danke. Lieber blieb ich für alle Zeiten allein. Er war natürlich mit seinem Auto da. Ich mochte nicht daran denken, was bei seinem Alkoholkonsum alles passieren konnte. Während er, nachdem er die Rechnung verlangt hatte, zur Toilette ging, zahlte ich. Dass er geizig war, hatte ich schnell begriffen. Schon der Beginn unserer Mahlzeit ließ mich das ahnen.

»Ich trinke Bier. Ist billiger als Wein. Solltest du auch tun.« Ich verkniff mir eine Antwort und bestellte, wie immer in diesem Lokal, meinen Lieblingsfisch. Prompt kam sein Einwurf:

»Was, Zander isst du? Hast du mal auf den Preis geschaut? Ich finde, Matjes tut´s auch.«

»Lass mal. Heute ist mir einfach nach Zander und Chardonnay«, antwortete ich und nickte dem Kellner freundlich zu.

»Dann nimm wenigstens den Pino Grigio. Der kostet einen Euro weniger.«

»Karsten, bitte! Ich zahle, was ich bestelle, also bestelle ich, was ich möchte. Klar?«

Er schaute mich verdutzt an, nickte und gab der Bedienung seine Bestellung auf. Mit stoischer Ruhe entfernte sich der Kellner.

 

Karsten nahm die Tatsache, dass ich die Rechnung beglichen hatte, mit einem freundlichen »Danke schön, das nächste Mal revanchiere ich mich«, zur Kenntnis. »Sehen wir uns nächste Woche wieder?«, fragte er auf dem Parkplatz.

»Mal sehen«, wich ich aus.

»Wir telefonieren, ja?«

»Meinst du, das hat Sinn?«

»Wir sollten heute Abend nochmal darüber reden. Im Chat.«

Eine inkontinente, kleine Wolke verkürzte den Dialog, denn wir hatten beide keinen Regenschirm dabei.

»Okay. Komm gut heim.«

»Du auch.« Jeder rannte zu seinem Fahrzeug, während ein großer Schwarm Krähen krächzend über uns hinweg zog. Auch sie schienen es eilig zu haben, irgendwohin zu kommen, bevor der Niederschlag stärker wurde. Ich wusste, dass wir uns nie wiedersehen würden und war nur froh, dass meine Enkelin Mia nicht dabei war. Ich glaubte ihren Kommentar zu hören, als sich seine und meine Wege an der nächsten Ampel trennten.

»Das war ja wohl ein Griff ins Klo, oder Oma?«

Wie zur Bestätigung gab ich ein kurzes Hupzeichen und bog Richtung Stadt ab. Am Abend beendete ich unsere Bekanntschaft. Schriftlich, freundlich, konsequent. Ob Karsten meine Beweggründe verstand, war mir gleichgültig.

 

Mia und ihre fünfjährige Schwester Petra kamen am nächsten Mittag zum Essen zu mir. Wie meist schnappte sie sich nach kurzer Begrüßung ihre Sitzungsliteratur, wie sie die Micky-Mouse-Heftchen aus dem Nachlass ihres verstorbenen Großvaters nannte und verschwand auf der Toilette. »Erst Futter für den Geist, dann Futter für den Magen.» Die kleine Petra streckte mir zur Begrüßung einen Lolli entgegen. Gehorsam öffnete ich den Mund und lutschte – scheinbar begeistert – das klebrige Zeug.

»Schmeckt´s dir, Oma?», strahlte sie mich an.

»Und wie», beeilte ich mich zu antworten.

»Komisch, Frederik hat ihn eben ausgespuckt, weil der so arg süß ist«, grinste sie mich an.

 

Ich liebe meine Enkeltöchter. Brauche ich da noch einen Mann? Die einen sagen so, die anderen so würde Mia antworten, wenn ich sie danach fragte. Tue ich aber nicht.

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