Von Nadja Kaspar

„Paapaaa!?“

„Ja?“

„Können wir Monopoly spielen?“ 

„Ich muss doch jetz malochen. Aber wenn ich heutnachmittach wiederkomme, gehdet los. Du kanns nache Schule schommal allet aufbaun. Tschüss Großer!“

Franz Ottmer verließ die Wohnung im fünften Stock der Mietskaserne mit gewohnt flauem Gefühl in der Magengegend. Dabei hatte er Ricky noch nicht einmal angelogen. Dass er zur Arbeit ging, entsprach ja allgemein gesehen der Wahrheit. Und doch schwang das schlechte Gewissen im Hintergrund mit, denn Franz verschwieg seinem Sohn jegliche weiteren Details –.

Ricky war neun Jahre alt, ein guter Schüler, und Franz war mächtig stolz auf ihn, vor allem auf seine Drei in Mathe. Wenn es so weiterging, würde er nach der vierten Klasse im nächsten Jahr eine Realschule besuchen und einen Abschluss machen können, was ihm, Franz, nicht vergönnt gewesen war.

Franzens aktueller Arbeitsplatz befand sich im Erdgeschoss eines großen Shopping-Komplexes. Einschlägige Schilder wiesen ihm den Weg, falls er diesen einmal vergessen sollte. Franz Ottmer war Reinigungskraft, Fachrichtung Toiletten. So war das, und das war auch weiter nicht schlimm, wenn da nicht die Figur seines  autoritären und überaus angesehenen Vaters tief in seinem Innern eingestanzt gewesen wäre. Dass er selbst nicht autoritär war, hatte sich bereits in den frühesten Lebensjahren seines Sohnes herausgestellt; er liebte es einfach zu sehr, mit Ricky herumzualbern, ihm in seine kleine Kinderwelt zu folgen und so oft es ging Fünfe gerade sein zu lassen. Die Sache mit dem Ansehen war jedoch eine andere –.

Fünf Damentoiletten sowie zwei Herrentoiletten nebst Pissoirs gehörten zu seinem Refugium. Die Damenseite war selbstverständlich zuerst dran, mit der „Morgentoilette“. Da legte er wert drauf. Als nach einer halben Stunde alles blitzte und blinkte, überall frische Klorollen verteilt, die Papier- und Seifenspender geprüft, und wenn nötig nachgefüllt waren, nahm Franz sein Porzellanschälchen und stellte es behutsam auf den Tisch zwischen den beiden Toiletteneingängen. Erfreulicherweise war sein Arbeitgeber fortschrittlich genug, ihm das eingenommene „Tellergeld“ voll zuzugestehen, was nicht unbedingt der Normalfall war, in diesem Gewerbe.

Feierlich schloss er die Tür zur Öffentlichkeit auf. An diesem Morgen standen dort bereits zwei schick gekleidete Damen, die verdächtig schnell auf die richtigen Türen zutrippelten.

Franz hatte durchaus Gefallen daran, die Leute, die seine WC-Anlage besuchten, zu begutachten und insgeheim Wetten mit sich selbst abzuschließen, was die Sauberkeit und die Spendenbereitschaft anging. Diese beiden Damen schätzte er fachmännisch wie folgt ein: Die Hygiene betreffend würden beide im wahrsten Sinne des Wortes die Sau rauslassen. Natürlich nur, solange sie sich auf sicherem Terrain hinter der Klotür befanden. Die Klobrillen würden hernach fröhlich mit großen und kleinen Urintropfen gesprenkelt sein. Eventuell ein nur nachlässig eingewickelter Tampon im Mülleimer und ein paar liebliche „Bremsspuren“ in der Schüssel. Sobald sich die beiden Damen außerhalb des Örtchens wieder in öffentlicher Beobachtung befanden, würden sie sich äußerst brav die Hände waschen und  desinfizieren, um anschließend ihre glitzernden Geldbörsen zu zücken. Da sie zu zweit waren und natürlich vor der Freundin nicht als kniepig gelten wollten, würden sie mehr als die erwünschten fünfzig Cent in sein Schüsselchen fallen lassen.

Es kam äußerst selten vor, dass Franz diese Wetten verlor. Dafür war er schon zu lange im Geschäft.

***

Der Vormittag verlief ruhig. Aufgrund des aktuellen Ramba-Zamba um diesen Corona-Virus, war die Shopping-Laune der Leute etwas gedämpft. Gerade als Franz anfangen wollte, sich zu langweilen, surrte sein Handy in der Hosentasche.

„Schätzeken, hi! – Ja, bei mir is allet in Butta. Nich viel los hier. – Die Schule nacher Dritten dicht? Ach Gott, dat is doch völliger Mummpitz.. wieso dat denn jetz?! – Er kommt schon kla. Hat ja nen Schlüssel. – Die drehn doch völlich durch, sach ma..! Wie lang solln dat gehn?! – Ach komm, erzähl mir nix. – Ja, ja.. – … – Moment mal, Schätzken,.. da hinten.. – … – Scheiße!!! –…–“

Wenige Sekunden später prallte das Handy unsanft auf die Fliesen neben Franz` weiße Galoschen. Er starrte in Richtung Bäcker. Dort legte Ricky gerade Geld auf die Theke – Ricky! Scheiße, scheiße, scheiße!! Einen Moment später kam sein Sohn tatsächlich in Richtung  Toiletten. Was tun?! Was sollte er bloß tun, verdammt noch mal?! Panik sammelte sich in seiner Brust. Instinktiv wählte er einen der – in diesem Augenblick – einzig sicheren Orte. Blitzschnell verschloss er die Tür und atmete erst einmal durch. Der Puls puckerte wild in seinen Ohren. Verdammt! Ricky war doch sonst nicht hier unterwegs! Noch bis vor Kurzem hatten sie ihn überhaupt nicht alleine auf die Straße gehen lassen, allerhöchstens auf den Spielplatz, direkt unten im Hof. Doch es ließ sich nicht leugnen, dass der Junge stramm auf seinen zehnten Geburtstag zuging, und die ganzen elterlichen Bedenken langsam nicht mehr zählten: Ricky wollte die Welt auf eigene Faust erkunden. Mit Bitten und Betteln und einer Menge Versprechen hatte er schließlich einen eigenen Haus- und Wohnungsschlüssel erwirkt.

Und nun war er hier..!

Nicht, dass Franz das nicht schon vorher in Erwägung gezogen hätte, aber dass es so schnell gehen würde! Das Einkaufszentrum war wirklich deutlich weiter entfernt als der nette Spielplatz vor dem Hochhaus. Bianca hatte Franz bisher gedeckt. Ob sie ihn nun doch verraten hatte?! Er konnte es sich kaum vorstellen. Seine Frau war eine herzensgute Seele und vollkommen treu und loyal ihm gegenüber. Sie arbeitete an der Kasse eines Lebensmittel-Discounters und würde heute erst am frühen Abend nach Hause kommen.

„Papa?“ Die so vertraute Stimmte schallte ungewöhnlich laut  gegen die weiß gefliesten Wände.

Franz hielt die Luft an.

„Papa? Bist du hier?“

Anstatt zu antworten hob Franz sehr langsam ein Bein und stellte seinen rechten Fuß in allerhöchster Vorsicht auf die Klobrille!

Schritte kamen näher. Rickys Schritte. Sein Kind, sein über alles geliebter Sohn. Krampfhaft dachte Franz nach. Er könnte einfach die Klospülung betätigen, herauskommen, überrascht tun und Ricky dann lässig zum Vater-Sohn-Shopping einladen. Wenn, ja, wenn da nicht seine Arbeitskleidung gewesen wäre – mit dem Aufdruck des fröhlich gelb-blauen Reinigungsmännchens. Ausziehen, die Toilette hinunterspülen, in Boxershorts vor seinen Sohn treten!? Auch keine Option –. Franz fühlte eine Schweißperle seine Stirn hinunter rieseln, als er sich mit dem rechten Bein hochdrückte und seinen zweiten Fuß auf die Klobrille stellte. Das Plastik knackte.

„Papa. Ich hab dich doch grad noch gesehen. Sag doch wenigstens, in welchem Klo du bist –.“

Die Jungenstimme klang nun unsicher. Das zähflüssige Gefühl von Scham waberte in Franz` Bauch und stieg hoch in seinen Kopf. Ihm wurde schwindelig. In diesem Moment hörte er eine alt bekannte Melodie – das Handy! Es lag noch immer auf dem Boden im Eingangsbereich! Fröhliche Gitarrenmusik schallte nun durch den Raum. Vor Schreck zuckte er zusammen – und da geschah es: Franz machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite und trat ins Leere – vielmehr, mitten ins Klo! Seine Fuß verhakte sich tief unten in der Schüssel, während der Rest seines Körpers das Gleichgewicht verlor, zur Seite kippte und mit einem Rumms auf dem Boden landete. Augenblicklich schoss ein scharfer Schmerz durch sein rechtes Bein.

Franz schrie laut auf –.

***

Trotz Corona hatte man Franz Ottmer im städtischen Krankenhaus aufgenommen und in Windeseile wieder hergestellt. Doch freuen konnte er sich über seine Genesung nicht. Wie eine Lawine an Alpträumen fielen immer wieder die Bilder über ihn her. Er, Franz, auf dem Boden neben dem Klosett. Ricky, der über die Toilettentür geklettert war und mit seinen kleinen Händen den wehen Fuß aus der Schüssel zerrte. Blaulicht. Ricky, der nicht bei ihm bleiben durfte, Bianca, die ihm keine Zigaretten bringen durfte. Die raubeinige Schwester, die knapp auf das generelle Besuchsverbot hinwies.

Auf dem Weg nach Hause machte Franz sich nun auf das Schlimmste gefasst und ging in Gedanken zum 394. Mal seine Ansprache an Ricky durch. Niemals mehr würde er ihm etwas verheimlichen, ihn gar belügen, sein gesamtes armseliges Leben würde er wahrheitsgemäß vor ihm ausbreiten, sich reumütig entschuldigen.

Als er den Wohnungsschlüssel in der Tür drehte, schwang ihm die helle Kinderstimme entgegen:

„Paaaapaa!“ Obwohl er anfing zu zittern, räusperte Franz sich tapfer, bereit, sich seinem Sohn zu stellen.

„Papa, können wir jetzt endlich Monopoly spielen?“ –

 

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