Von Rosa Pessl

17:05 Uhr, Wien Donaucity. Marie sitzt auf einer Bank und schaut gebannt den Tauben zu, die sich gerade um einen Brotkrumen streiten. Schwarze Mascara-Spuren verlaufen über ihre Wangen, ihr Lippenstift ist verwischt. Sie ist tief in ihre Gedanken versunken, als ihr Smartphone piepsend das Eintreffen einer Textnachricht verkündet.

Papa: Marie, wo bist du?
Marie: In der Donaucity, wieso?
Papa: Wann fährst du nach Hause?
Marie: Um 17:26 von Kaisermühlen.
Papa: Ah, die fahre ich, wir sehen uns dann …
Papa: später …
Papa: zu Hause …

Zittrig tippt Maries Vater Johannes die letzten Nachrichten an seine Tochter. Sein Herz rast. Seine Gesichtsfarbe – schneeweiß. Sein Atem stockt. Doch Marie darf nichts merken. Voller Verzweiflung vergräbt er sein Gesicht in seinen Händen. “Das darf nicht wahr sein!”, murmelt er immer wieder, während er sich auf und ab wippt.

Minuten später läutet das Handy von Hauptkommissar Lichtner. Ein Anruf mit unterdrückter Nummer …

Anonym: Heute um 18:18 Uhr passiert es!
Lichtner: Was meinen Sie damit?
Anonym: 18:18 Uhr! Verstehen Sie?

Hauptkommissar Lichtner ist klar: Dieser Anruf war kein Scherz! Seit Monaten ermittelt er gegen die rechtsextreme Sekte “Jünger der reinen Liebe”, für die die Achtzehn eine mystische Zahl ist.

17:26 Uhr, Wien – Kaisermühlen. Die Menschentraube an der U-Bahn-Haltestelle wird immer größer. Endlich fährt die U1 ein. Langsam wälzt sich die Traube in die U-Bahn, unter ihnen auch Marie. “Bitte steigen Sie nicht mehr ein!”, schallt es aus den Lautsprechern. Die U-Bahn setzt sich in Gang und lässt zwei Dutzend Menschen verärgert zurück. Am Praterstern leert sich die Bahn zu einem erträglichen Maß. Sechs Männer und vier Frauen mit schwarzen Aktentaschen unter ihrem Arm geklemmt, steigen zu und verteilen sich auf die einzelnen Waggons.

Abermals läutet das Handy des Kommissars. Ein Kollege ist dran: “Wir haben es! Der Anruf kam direkt von der U-Haltestelle Leopoldau”. Schnell eilt Lichtner zu seiner Pinnwand und überfliegt die dort hängenden Steckbriefe. Sein Blick bleibt bei einem Bild hängen und befiehlt: “Lassen Sie alle U-Bahnstationen räumen! SOFORT!”

“Nächste Haltestelle: Stephansplatz”, verkündet die Lautsprecheransage fröhlich. Doch die ansonsten so stark frequentierte Station ist menschenleer. Wie in Trance steuert Johannes jetzt die U-Bahn. Er hält nicht an. Schweißperlen tropfen von seiner Stirn, dennoch friert er. Die Station Karlsplatz ist ebenso gespenstisch leer. Johannes fährt auch hier weiter.

Ein nicht sahnendes Raunen geht durch das Zuginnere. Plötzlich bremst Johannes ruckartig und bleibt mitten im Tunnel stehen. Das Licht geht aus; es ist stockdunkel. Nur die Displays einiger Handys leuchten wie Glühwürmchen in einer Sommernacht.

“Mei..e Da…n und …. kkkkrrrrrrk … tech… Pa… krrrk”, die Lautsprecherdurchsage gibt Unverständliches von sich. “Entschuldigung, haben Sie die Durchsage verstanden? Wissen Sie was los ist?”, wird René von einer älteren Dame gefragt, die ihm gegenübersitzt. Doch René hört sie nicht. Viel zu sehr ist der Mittdreißiger in den Chat mit seinem Freund vertieft.

Rene: Sehen wir uns heute?
Walter: Ich kann heute nicht. Meine Frau …
Rene: Ach immer sie.
Walter: Du weißt es!
Rene: Was …?
Walter: Es hätte nie so weit kommen dürfen …
Rene: Was?
Walter: Das, letzten Freitag…
Rene: Ach ja?
Walter: Ich kann es mir nicht erlauben!
Rene: Was?
Walter: Es geht nicht, versteh doch…
Rene: Walter, ich liebe dich!

“Krrrkrrrrkkkrrr Dam.. und Herrrkrrrk.. Jemand kkkkrrrrk Notbremkr gezogen. Sobald krrrrrrk Grund kkkkrrk ..finden, kkkkrrrrrrkkk die Farkkrrrr fort. Danke kkkkkrrrrkkkk…”, krächzt der Lautsprecher. Johannes’ Handy zeigt zehn Anrufe in Abwesenheit von Hauptkommissar Lichtner. Damit hatte Johannes gerechnet. Er weiß, dass der Kommissar ihn schon länger im Visier hat. Sein Anruf mit unterdrückter Nummer war wohl eher ein Akt der Hilflosigkeit. Nackte Angst kriecht an ihm hoch. Die Jünger sind für ihn seine Familie.

Die Fahrgäste bekommen nichts mit. Sonja strahlt – verschmitzt lächelnd – auf das Display ihres Handys.

Veronika: Na, wie war dein Wochenende?
Sonja: Heiß!
Veronika: Ihr habt es tatsächlich gemacht?
Sonja: Ja, klar!
Veronika: Hätte ich nicht gedacht, dass du das durchziehst!
Sonja: Wieso? Es war verdammt geil.
Veronika: Mann oder Frau?
Sonja: Mann!
Veronika: Was hat Albert dazu gesagt?
Sonja: Er fand es geil, auch mal zuzusehen.
Veronika: Wie habt ihr den Mann kennengelernt?
Sonja: Über 3nder …

Fünf Reihen hinter Sonja hat Marie Platz genommen. Im Schutz der Dunkelheit bahnen sich Tränen den Weg über ihre Wangen. Ungehindert tropfen sie auf ihr Handy, während sie vornübergebeugt tippt.

Marie: Komme gerade vom Arzt.
Lisa: Und?
Marie: Ja!
Lisa: Sch***. Bist du dir wirklich sicher?
Marie: Ja, 100pro.
Lisa: Wer?
Marie: Jörg!
Lisa: Auch das noch. Weiß er es schon?
Marie: Ja, er hat mich begleitet.
Lisa: Und …?
Marie: Mensch Lisa. Er ist verheiratet …
Lisa: Ich weiß! Und dein Lehrer …
Marie: Er will, dass ich es wegmache …
Lisa: Und du???
Marie: Mein Vater bringt mich um …

“Krrrkrk. Krrrkrkkkrk …”, der Lautsprecher hat sich endgültig in wirres Gekrächze und Gestöhne verfangen. Eine ältere Dame berührt Maries Handgelenk. Die Sechzehnjährige erschrickt. “Entschuldigen Sie”, meint die Dame schuldbewusst, “wissen Sie, was los ist?”

Marie wischt verstohlen ihre Tränen weg und versucht die Dame zu beruhigen: “Nein, aber keine Angst”, stammelt sie, “mein Vater fährt die Bahn heute. Das macht er schon seit 20 Jahren. Der weiß, was er tut.”

Johannes hockt zusammengekauert in der Fahrerkabine. Ein kleiner Lichtfunke strahlt ihn an. Immer wieder schaut er sich beängstigt um und versucht so unauffällig wie möglich zu tippen.

Johannes: Beeilen Sie sich, bitte!
Lichtner: Bleiben Sie ruhig. Wir sind auf dem Weg!
Johannes: Sie haben nur mehr fünf Minuten!
Lichtner: Lassen Sie das Licht in der Bahn aus!
Johannes: Um 18:18 kommt der Befehl. Dann geht es los!
Johannes: Meine Tochter ist unter den Fahrgästen!
Lichtner: Johannes, sobald ich JETZT schreibe, machen Sie sofort alle Türen auf und dann schalten Sie die Lichter ein. Haben Sie verstanden?

18:16: Johannes stiert auf das Display seines Handys. Er antwortet nicht mehr. Im Dunkeln des Tunnels meint er Gestalten zu sehen, die sich an die Bahn heranpirschen. Seine Kehle schnürt sich zu.

Zwei Minuten später schrillen die Handys von 11 Menschen wie im Chor, darunter auch das Handy von Johannes. 28 Zeichen strahlen ihm entgegen: “Im Namen Gottes! Erlöst sie!” Wenige Sekunden später erreicht ihn die Nachricht von Hauptkommissar Lichtner “JETZT!” Johannes zögert und sieht zu seiner Aktentasche. Ein Dolch mit eingraviertem Hakenkreuz lugt hervor.

Lichtner hakt nach: Denken Sie an Ihre Tochter!!!

Johannes’ Hand bewegt sich wie ferngesteuert zu seiner Aktentasche und möchte den Dolch greifen. Verrat ahnten die “Jünger der reinen Liebe” mit der Todesstrafe, das weiß Johannes.

Lichtner: Retten Sie Ihre Tochter!!!!

“Ihre Tochter…” hämmert es in Johannes Kopf. Seine Hand gleitet von der Aktentasche ab und fährt zitternd über die Tasten seines Cockpits. Dann drückt er zwei Knöpfe. Die Türen springen auf. Das Licht erstrahlt. Noch bevor sich die Fahrgäste orientieren, können stürmen bis auf die Zähne bewaffnete Männer die Waggons. “Polizei!! Lassen Sie die Dolche fallen. Sofort …”

19:30 Abendnachrichten

“In den frühen Abendstunden stürmte die Spezialeinheit Cobra die Wiener U1. Nur knapp konnte ein blutiges Massaker durch Mitglieder der rechtsextremen Sekte “Jünger der reinen Liebe” verhindert werden. 10 Sektenmitglieder wurden festgenommen. Dass niemand verletzt wurde, ist nicht zuletzt dem beherzten Agieren des U-Bahnfahrers zu verdanken. Die Sekte sieht sich als Behüter der reinen Liebe, die aus ihrer Sicht nur zwischen Mann und Frau in aufrechter Ehe praktiziert werden kann …”

Achtzehn Monate später

René und Walter sind mittlerweile glücklich verheiratet. Sonja erfreut sich immer noch ihrer sexuellen Freizügigkeit zu dritt. Johannes lebt als John Taylor mit Tochter Marie und seiner kleinen Enkelin in Toronto.

 

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