Von Ellen Loeper-Cremer

Ich hasse U-Bahnfahren: zu viele Menschen, zu viele undefinierbare Ausdünstungen, die durch die stickigen Gänge wabern, zu viele fremde Körper, die sich aneinander quetschen müssen. Triste, desinteressierte Gesichter, die vor sich hin stieren oder angestrengt in ein Buch, auf´s Handy starren.

Ich mag diese erzwungene Nähe nicht, fühle mich unwohl, fühle mich beobachtet.

Dabei beobachte ich selbst die ganze Zeit meine Umgebung, schaue immer wieder kurz auf und werfe verstohlene Blicke auf die Fahrgäste, als suchte ich jemanden.

Schließlich hole ich auch mein Smartphone heraus und versinke in einer anderen Welt.

 

Plötzlich senkt sich das Abteil steil nach unten und rast bergab. Reflexartig halte ich mich irgendwo fest, um nicht auf den Platz gegenüber zu stürzen.

Eigenartig, normalerweise ist die Strecke schnurgerade. Als es endlich wieder normal weiter geht, spüre ich eine Veränderung: Die Luft ist mit einem Mal stickiger, es ist warm, fast heiß.

Ich öffne meine Winterjacke, werfe dabei einen Blick auf mein Gegenüber – und traue meinen Augen nicht: „Sofie, wie kommst du denn auf einmal hierher?“

„Hallo, Lukas, schön dich wiederzusehen, hab schon gedacht, du hast mich komplett vergessen.“

„Das musst du gerade sagen, Schwesterherz! Wo hast du denn die vergangenen Monate gesteckt? Nur ein knappes ‚Ich melde mich bei euch`. Mehr Infos gab’s ja nicht von dir.“

Sofie lächelt mühsam: „Ich hab´s einfach nicht mehr ausgehalten. Ständig waren die Scheinwerfer auf mich gerichtet, ständig hieß es `Sofie hier, Sofie da`. Ich brauchte dringend Abstand!“

„Und was ist mit deinem Studium? Willst du keine Menschenleben mehr retten?“

„Das hab ich geschmissen. Ich engagiere mich jetzt lieber für was wirklich Wichtiges!“

„Und was soll das sein?“, will ich wissen.

Sofie schaut mich entgeistert an: „Wo lebst du denn, Lukas? Check mal die ganzen Social-Media-Kanäle, da siehst du, was überall abgeht. Da kann ich nicht mehr nur zugucken!“

 

Sie fährt sich müde mit dem rechten Ärmel über ihr Gesicht und hinterlässt schmutzig-graue Schlieren darauf. Ihre rote Rastamähne hat sie zu einem wuchtigen Zopf zusammengebunden. Ein zerschlissener Stoffrucksack liegt auf ihrem Schoß. Sie trägt keine Schuhe, ist tatsächlich barfuß unterwegs. Und das im Winter. „Ich war lange echt neidisch auf dich, Brüderchen, das kannst du mir glauben! Du konntest immer machen, was du wolltest. Dich haben sie in Ruhe gelassen. Das war alles kein Problem.“

„Gab´s überhaupt Probleme in unserer Familie? Alles war doch immer Bestes, die Fassade blütenweiß.“ Ich kann mir einen sarkastischen Unterton nicht verkneifen.

 

Plötzlich wird es dunkel, die U-Bahn rast durch einen Tunnel und passiert ohne Stopp die nächste Station. Als ich wieder aufblicke, schaue ich in die Gesichter meiner Eltern.

„Lukas, warum lässt du dich so selten bei uns blicken? Was treibst du denn so? Hast du was von Sofie gehört?“ Der Tonfall meiner Mutter pendelt zwischen erstaunt oder vorwurfsvoll hin und her.

„Alles bestens“, erwidere ich wie aus der Pistole geschossen. „Mir geht´s gut und wie geht´s euch so?“

„Ja, bei uns ist auch alle gut, danke“, antwortet sie schnell. Sie schaut kurz zu meinem Vater herüber, ihr Blick ist kühl, fast abschätzig.

Mein Vater richtet sich umständlich auf. Er zieht die Augenbrauen hoch: „Es wäre ja durchaus einmal angebracht gewesen und man hätte sich in der Tat auch darüber gefreut, ein Lebenszeichen von dir zu erhalten, um sichergehen zu können, dass es wenigstens einem unserer Kinder hinreichend gut geht. Deine Mutter und ich, also wir machen uns so unsere Gedanken, ob du, ob ihr…  aber das kannst du doch besser sagen, Kerstin.“

Sie dreht sich demonstrativ von ihm weg: „Ich weiß nicht, was du sagen willst, lieber Kurt“ erwidert sie scharf. Stattdessen fragt sie mich noch einmal nach Sofie, ob ich was von ihr gehört habe. Ihre Stimme klingt schrill, zittert leicht. Das lässt mich nicht ganz kalt, so kenne ich sie nicht. Sie ist die Managerin, die Zeremonienmeisterin in unserer Familie. Sie sorgt dafür, dass alles reibungslos läuft. Aber sie fängt sich schnell wieder: „Sofie könnte uns ja wenigstens ab und zu einmal anrufen. Ich habe ihr doch extra das neueste Handymodell gekauft. Aber nichts, kein Ton!“

 

Ich schaue meine Eltern an und sehe zwei ältere, gut situierte Herrschaften vor mit sitzen: Seit 30 Jahren sind sie verheiratet, doch es könnten genauso gut zwei wildfremde Menschen sein, die zufällig mit derselben U-Bahn fahren. Meine Mutter hat die Beine übereinandergeschlagen und sitzt kerzengerade am Fenster. Ihre Haare sind einen Tick zu lang und zu blond gefärbt. Ihre untersetzte, füllige Figur kaschiert sie geschickt mit einem schwarzen, wallenden Mantel. Hektisch zieht sie an ihrer Zigarette (neuerdings raucht sie) und blinzelt unentwegt mit den Augen – eigentlich verträgt sie keine Kontaktlinsen. Mein Vater hat sich einen Bart wachsen lassen. Die grau-melierten Stoppeln verdecken seine schwammig-weichen Gesichtszüge. Sehr gewöhnungsbedürftig. Aber immerhin, er wirkt damit irgendwie eindrucksvoller, respekteinflößender. Seine große, massige Gestalt verteilt sich fast über die gesamte Sitzbank. Meine Mutter muss sich regelrecht in die andere Ecke ans Fenster drücken.

 

Bevor ich antworten kann, rast die U-Bahn wieder in die Dunkelheit. Noch einmal senkt sich das gesamte Abteil steil hinab in die Tiefe. „Was ist hier los? Wo bin ich nur gelandet?“ Panik steigt in mir hoch: „Wie komme ich hier bloß wieder raus?!“

 

„Ist nicht so schön, hier festzustecken, oder?“ Meine Schwester sitzt jetzt direkt neben mir. Die Nähe tut gut. Sie schaut mich verschmitzt an: „Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir immer unter den großen Baum im Garten `König und Königin´ gespielt haben. Alle waren unsere Untertanen und mussten tun, was wir sagten. Wir hatten so viel Spaß dabei. Und wie habe ich diesen Baum geliebt!“

„Ja“, zwischen uns passte kein Blatt Papier. Und dann dieser Abgang von dir, sang- und klanglos. Warum hast du mir bloß nichts gesagt?!“ 

 

Sie legt vorsichtig ihren Arm um meine Schulter: „Ach Lukas, ich hab´s doch versucht. Aber deine Zockerei – ich bin einfach nicht mehr an dich rangekommen.“

Ich muss schlucken: „Du hast ja keine Ahnung, was bei uns abgeht, seit du dich nicht mehr meldest. Mutter war richtig hysterisch, als sie deine dürftige Abschiedsnachricht las. Und Vater – der lässt sich nach deinem Abgang noch weniger zu Hause blicken. Ich fahre auch kaum noch dahin.“

 

Sofie nestelt am Reißverschluss ihres abgewetzten Parkas herum, ihr rechtes Knie wippt wie ferngesteuert auf und ab: „Ganz ehrlich, das war doch schon lange nur eine Show, die wir da alle abgeliefert haben: die perfekte Familie. Je weniger die jetzt von mir mitbekommen, umso besser! Aber ich hätte nie gedacht, dass DU mich hier unten verrotten lässt, Lukas! Erinnere dich an mich. Du darfst mich nicht vergessen!“ Ihre Stimme ist auf einmal brüchig, stockt zwischen den Worten. Ich will mich zu ihr drehen, will sie umarmen. Doch sie ist weg, einfach weg. 

 

Die U-Bahn rauscht in den nächsten Tunnel hinein. Wie im Fieberwahn rasen die Gedanken durch meinen Kopf. Bilder von Sofie und mir flackern wie kurze Filmszenen vor meinen Augen auf. Eins bleibt haften: Sofie und ich im Garten, unter dem großen Baum. Sie liebt Bäume über alles.

Mit einem Mal wird mir klar, wo ich Sofie finden kann. Ich weiß, wo ich suchen muss!

 

Sanft gleitet die U-Bahn in die hell erleuchtete Station. Ich steige aus, laufe die Rolltreppe hoch und mache mich auf den Weg.

V2