Von Renate Oberrisser

„Aus dem Weg. Vorsicht. Darf ich mal durch.“ Hans sprintet die Treppe runter zur U-Bahn-Station. Immer zwei Stufen gleichzeitig. Wendig schummelt er sich noch durch den regen Fahrgastwechsel. Rechtzeitig vor dem zischenden Schließen der Türe hechtet er in den Wagen und lässt sich auf den erstbesten freien Platz fallen.

„Geschafft, geschafft, geschafft“, murmelt er wie in einem Selbstgespräch. Das Notebook platziert er auf seinen Knien. Der Rucksack landet am Boden. Hans richtet sich auf eine längere Fahrt ein. Sinnierend späht er in die monoton am Fenster vorbeiziehende Dunkelheit des Tunnels. Dösig nimmt er aus der Ferne leise Töne wahr. Sie erinnern ihn an ein Lied. 

‚Das hat doch Reinhard Mey gesungen!‘ Seine Lippen formen stumm Wörter zur Melodie.

 

Aus der Dunkelheit schwebten über’m Gleis drei Lichter, mein Zug fuhr ein.
Eine Wagentür schlug. …

Und ich war im Abteil ganz allein.
Lautlos fuhren wir an, …

und die Welt da draußen verschwand …

durch die Dunkelheit drang
Der monotone Klang
Der Räder auf dem Schienenstrang,
Ein einsamer Gesang,
Den stählernen Weg entlang. *

 

Unwillkürlich muss Hans an die Panikattacken seiner Kindheit, im falschen Zug zu sitzen, denken. Um diesen Gedanken zu vertreiben schneidet er Grimassen. Verwundert merkt er, dass sich nur sein Gesicht in der Fensterscheibe spiegelt. Der surrende Fahrtwind nimmt an Intensität zu und mit rasender Geschwindigkeit pfeift ein Gegenzug vorbei. Die Stahlräder quietschen in ohrenbetäubender Lautstärke auf den Schienen.

 

„Was ist hier los?“, fragt er sich, nur diesmal lauter und schaut sich irritiert im U-Bahn-Wagen um. Dieser ist menschenleer. Weit mehr als diese Isolation wundert ihn die Länge der bereits gefahrenen Strecke. Rein gefühlsmäßig wäre zumindest eine Stationsdurchsage längst fällig gewesen. Unschlüssig starrt Hans in die Dunkelheit und giert auf das Auftauchen einer beleuchteten U-Bahn-Station. Ihn beschleicht das ungute Gefühl, die U-Bahn rase, wie von einer dämonischen Kraft getrieben, ungebremst den Pfad der Selbstzerstörung entlang.  Die rot leuchtenden Zahlen im Überkopfanzeiger zur Fahrgastinformation zählen in rasender Geschwindigkeit rauf. 2203, 2204, 2205 …

 

Verwirrt versucht Hans die Bedeutung der Zahlen zu erraten. Sekunden, Minuten, Zentimeter, Meter, km/h, Lichtgeschwindigkeit, Grad Celsius, Fahrenheit ??? Gefühlt wurde die zulässige Höchstgeschwindigkeit längst überschritten. Die zurückgelegte Entfernung kann er nicht mehr erahnen. Kaltschweißig krallt er sich am Sitz fest. Wie bei einer Achterbahnfahrt wird er durchgerüttelt. Instinktiv macht er sich auf eine steile Bergabfahrt gefasst, schließt die Augen und hält die Luft an.  Die U-Bahn legt sich in die Kurve, senkt sich vorne nach unten und stürzt einem Katarakt gleichend in die Tiefe. Wie eine Daune wird er durch die Luft gewirbelt, um unmittelbar mit seiner tatsächlichen Lage konfrontiert zu werde. Die Bahn scheint eine Strecke in der Art eines Möbiusbandes entlang zu rasen. Ruckartig schwankt der Wagen. Erst kurz nach links. Dann abrupt nach rechts. als überdenke er seine weitere Route. Im nächsten Moment dreht sich der Zug und rast kopfüber weiter durch die Dunkelheit. Überrumpelt stürzt Hans ins Wagendach, das sich schlagartig unter ihm befindet. Die fahle Innenbeleuchtung schaltet sich komplett aus. Der Laptop poltert lautstark herum, der Rucksack purzelt hinterher. Panisch realisiert er seine Kindheitsangst im falschen Zug zu sitzen. 

„Hilfe! Hilfe! Holt mich hier raus!“ Sein Schreien verhallt ungehört. Mit den Fäusten hämmert Hans gegen das Sicherheitsglas. Fast blind tastet er im Schein der rot leuchtenden Zahlen verzweifelt nach einem Alarmknopf, einer Notbremse. 3724, 3725, 3726 …

 

Langsam einatmen. Langsam ausatmen. Tief durchatmend versucht er sich zu beruhigen. Hysterie macht die Situation nicht besser.

‚Wie gehe ich am besten mit meinem Dämonen um? Denk nach. Wenn ich ihn beim Namen nenne, verliert er seine Macht …  Hirngespinst. Einbildung. Wahnvorstellung.‘

„Warum bin ich hier in dieser U-Bahn und lasse mich wie im Schleudergang einer Waschmaschine durchrütteln?“ Monologisierend tastet Hans nach einer Haltestange. Diesmal will er gut vorbereitet sein auf die nächste Aktion der Hängebahn. Noch einmal überlebt er einen Looping im freien Fall nicht. Von einer sanft ächzenden Änderung überrumpelt, verspürt er ein leichtes Bremsen. Sanft gleitet der Zug in seine ursprüngliche Fahrtposition. Erleichtert hangelt Hans sich von der Decke herunter und setzt sich auf einen Einzelplatz am Fenster.  Darin schimmert spiegelverkehrt und rot 4607, 4608, 4609 …

 

Nervös nimmt Hans in der Ferne einen Lichtschein wahr. Was hält diese mysteriöse U-Bahn-Fahrt jetzt wieder für ihn bereit? Fast rechnet er mit dem Auftauchen einer Geisterstadt à la Karl May Wildwest-Manier nur in einer Geisterbahn-Version. Ein Schauder läuft ihm den Rücken hinunter bei dem Gedanken an Spinnweben im Gesicht und eine sich von hinten auf seine Schulter schiebende Knochenhand.

„Wuah hahaha“, lacht er laut auf, um dem Spuk zuvorzukommen und kneift die Augen fest zusammen.

„Ding. Dong. Endstation. Bitte alle aussteigen.“

„Huch, das ging jetzt aber schnell.“ Erschrocken zuckt er zusammen. Die U-Bahn fährt in die Station ein. Die Türen öffnen sich. Menschen strömen hinaus.

„Geschafft, geschafft, geschafft. Punktgenau. Zufälle könnten nicht besser und genauer berechnet werden“, murmelt Hans erneut wie in einem Selbstgespräch und verlässt aufatmend die U-Bahn. Hinter ihm leuchten rote Zahlen durch das Fenster. 5553, 5554, 5555

Renate sitzt im kleinen Café an ihrem Stammtisch in einer Nische. Vor ihr steht mittlerweile die dritte Tasse Espresso und sie tippt in ihrem Laptop herum, drückt auf senden und schickt ihre Geschichte an den Best-Action-Verlag.

‚Bin ich froh, dass das Thema der Literaturausschreibung Für diese U-Bahn-Fahrt braucht man starke Nerven und nicht Wenn ein Flugzeug auf einen Bergkamm zusteuert war‘, denkt sie noch. 

‚War das schon die reinste geistige Mutprobe bei meiner U-Bahn-Phobie für einen Text mit maximal 5555 Zeichen. Und erst bei meiner Flugangst. Nicht auszudenken, was mir da alles einfallen würde.‘

 

Über den Wolken

Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein

Alle Ängste, alle Sorgen

Sagt man

Blieben darunter verborgen

Und dann

Würde was uns groß und wichtig erscheint

Plötzlich nichtig und klein **

 

Leise vor sich hin summend öffnet Renate ein neues Dokument. Ihre Finger beginnen wie von selbst zu tippen und schicken ihren Protagonisten erneut auf eine außergewöhnliche Reise:

 

Atemlos erreicht Hans den Check-in-Schalter. Der letzte Aufruf seines Fluges schallt gerade durch den Abflugbereich ….

 

Version 3

* aus Reinhard Mey Die Eisenbahnballade https://www.youtube.com/watch?v=W33vMqBqZdo

** aus Reinhard Mey Über den Wolken https://www.youtube.com/watch?v=pkU4uoamBy4