Von Lilly Schwarzfischer

Deutlich spüre ich wie die U-Bahn über die Schienen rattert. Ein donnerndes Vibrieren, das durch jeden Knochen meines Leibes fährt.

„Ja, sie gehört zu den älteren Modellen“, sagt der breit grinsende Mann neben mir. „Man kann ihren Herzschlag noch fühlen.“

Anscheinend ist der erfolglose Versuch, meinen Kopf an der Trennwand anzulehnen, nicht unbeobachtet geblieben.

„Kater?“

Mein äußerst genervter Blick versucht seinen Schädel zu durchbohren. Obwohl er eigentlich recht hat. Allerdings schmerzt der Gedanke an das dadurch verlorene Jobinterview noch zu sehr und ich gehe nicht darauf ein.

„Sind Sie nicht schon ein wenig zu alt dafür?“

Mein Kopf fährt wieder herum. Schneller diesmal, was einen gefrorenen Dolch durch mein Gehirn jagt. Ich mustere ihn genau, sein schlohweißes Haar und sein verwaschen graues Auge. Über dem anderen klebt eine Augenklappe aus Kunststoff, wie man sie oft nach einer Operation bekommt.

„Und sind Sie nicht schon ein wenig zu alt dafür, junge Frauen in der U-Bahn anzuquatschen?“

Er lacht dröhnend und einige Passagiere werfen ihm verärgerte Blicke zu.

„Da haben Sie wohl recht.“ Mit seinem übertriebenen Grinsen scheint er sich über mich lustig zu machen.

 

Plötzlich stoppt die U-Bahn mit einem so heftigen Ruck, dass mein Kopf mit voller Wucht gegen die Trennwand zwischen den Sitzen knallt. Funken explodieren vor meinem Blickfeld. Als der pochende Schmerz langsam abklingt, merke ich, dass ich auf dem Boden knie. Anscheinend bin ich vom Sitz gerutscht.

„Stell dich doch nicht so an!“, spöttelt eine kalte Stimme hinter mir.

Benommen drehe ich mich um und starre in das Gesicht des alten Mannes, das nur durch die warme Deckenbeleuchtung der Bahn erhellt wird. Sie zeichnet abstruse Schatten in die zahlreichen Fältchen um sein Auge und seinen Mund. Sein Grinsen gleicht einer Grimasse und ich erschauere.

„Ach, komm“, schnurrt er, „So furchterregend bin ich doch wohl nicht. Aber wenn dich mein Äußeres so stört…“

In einer außergewöhnlich fließenden Bewegung zuckt er die Schultern. Im nächsten Augenblick sitzt auf dem Platz des Mannes ein kleiner Junge mit strohblondem Haar und meerblauen Augen. Seine Beine baumeln knapp über dem Boden. Nur das albtraumhafte Grinsen bleibt.

Ich kreische auf und möchte mich schnellstmöglich von ihm wegziehen. Allerdings hält mich nach kaum einem Meter der gegenüberliegende Sitz auf. Panisch sehe ich mich nach anderen Passagieren um, doch die U-Bahn ist leer. Die dunkelblauen Sitze einladend.

Ohne Hoffnung auf Rettung wende ich mich dem Kleinen wieder zu; der mich erwartungsvoll anstarrt. Er sitzt zu ruhig für ein Kind, keiner seiner Muskeln zuckt.

Ich klappe den Mund auf, aber kein Laut entflieht meinen Lippen. Dämonisch und glockenhell quillt ein Lachen aus seiner Gurgel. Es kriecht in kalten Spiralen über meine Wirbelsäule.

Endlich schaffe ich zu fragen: „Wer … Was bist du?“

„Oh“, haucht er und lehnt sich im Sitz zurück. „Man hat mir im Laufe der Geschichte viele Namen gegeben. Hades zum Beispiel. Oder Odin.“

Er zählt an seinen zierlichen Fingern ab: „Mot, Osiris, ach ja, und Yama. Besonders gut gefällt mir Izanami. Mehr könntest du dir wahrscheinlich nicht merken, Menschlein. Aber du kannst mich einfach Tod nennen.“

Sein Grinsen wird breiter. „Wenn du möchtest.“

Heilige, verdammte Scheiße.

Ich drücke mich gegen den Sitz und presse meine Handballen auf meine Augen, bis rote Schlieren davor zu tanzen beginnen. Wie Blut, verschmiert auf einer schwarzen Leinwand. Sei weg, bitte, sei weg! Langsam senke ich die Hände, aber immer noch sitzt der Kleine vor mir. Überdeutlich spüre ich den abgenutzten Stoff in meinem Rücken. Ich atme zitternd ein.

„Was willst du von mir? Bin ich gestorben? Ist es das?“

„Oh nein.“ Er lacht wieder. „Weißt du, wenn mir langweilig ist, suche ich mir die erbärmlichsten Menschchen aus und … na ja, spiele ein wenig mit ihnen.“

Er rutscht von seinem Sitz und kommt mit einem langen, fließenden Schritt auf mich zu. Geschickt packt er mein Kinn und zwingt meine Augen mit so viel Kraft auf sein Gesicht, dass mir schwindelig wird. Er grinst breiter.

„Lass mich los!“, versuche ich zu kreischen.

Als ich beginne, mich unter seinem Griff zu winden, wird er nur fester.

„Tztztz. Dummer, kleiner Mensch.“ Sein Flüstern klingt wie Nebel auf einem Friedhof. Hart und schnell schlägt mein Herz gegen meine Rippen. Langsam hebt er seine freie Hand und lässt sich an den Fingernägeln Krallen wachsen. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Die Krallen wandern zu meinem Hals und beginnen an meiner Haut zu kratzen. Ich warte darauf, heißes Blut an meiner Kehle hinab rinnen zu spüren.

„Bitte“, flehe ich. „Tu mir nichts.“

Er lacht. Böse und kalt und vollkommen ungerührt. Eine Kralle bohrt sich tief in das weiche Fleisch unter meinem Kinn. Ich traue mich nicht, zu atmen.

„Nein, versprochen. Und um das zu beweisen, lass uns mit einem Ratespiel beginnen.“ Jetzt tritt das Grinsen wieder auf sein Gesicht.

„Wohin, glaubst du, gehen Menschen nach ihrem Tod?“

„In den Himmel“, stoße ich hervor.

Seine Fratze wird breiter, aber er schüttelt den Kopf.

„In die Hölle?“

Wieder ein Kopfschütteln.

„In die Unterwelt?“

Wieder. Als ich zum vierten Mal den Mund aufmachen will, unterbricht er mich, indem er seine Kralle wieder tiefer in mein Fleisch bohrt.

„Nein nur drei Antworten. So gehen eure Spielchen doch. Nicht wahr?“

Er beginnt meinen Kopf langsam hin und her zu drehen, als würde er mein Genick brechen wollen.

„Es ist so arrogant von euch Menschen, anzunehmen, dass ihr ein Leben nach dem Tod habt. Als wäre jeder Einzelne von euch etwas Besonderes. Im großen, weiten Multiversum.“ Lange bohrt er seinen Blick in meinen.

„Aber… aber wofür existierst du dann?“ Meine Stimme zittert. Ich befürchte, seine Mundwinkel müssten bald seine Ohren berühren.

„Wofür existierst du, Menschlein? Mein Dasein ist genauso sinnlos wie deines. Nur wesentlich“, er gluckst, „wesentlich länger. Deshalb vertreibe ich meine Zeit gerne mit solchen Spielen. Nun sag:“ Seine Stimme wird tiefer und seine Augen kommen den meinen näher. Das Meerblau wird zu einem dunklen Grün.

„Wieso ist dein Leben so erbärmlich.“

Was?

„Du glaubst doch nicht, dass ich darauf antworte!“

Das Grinsen wird zu einer außerweltlichen Grimasse. Immer höher scheint sein Kopf über mir aufzuragen. Seine Hand wandert von meinem Kinn zu meiner Kehle und schleudert mich gegen das Fenster hinter dem Sitz. Das Glas erzittert von der Wucht. Luft will aus meiner Lunge weichen, kommt aber nicht an seinem festen Griff vorbei. Immer weiter schiebt er mich an der Wand hoch. Seine Haare beginnen zu brennen und fallen als feine Asche zu Boden. Die Flammen stecken seine Kopfhaut an, dann sein Gesicht. Mir wird schwindelig. Die Haut schält sich von seinen Jochbeinen und fällt in Fetzen zu Boden. Auch über meine Glieder zucken die Flammen, aber sie verbrennen mich nicht, sondern fühlen sich an wie krabbelnde Käfer. Ein erbärmliches Röcheln entweicht meiner Kehle. Meine Augen tränen wegen des Schmerzes und des hellen Lichts und ich kneife sie zu. Erst als hinter meinen geschlossenen Lidern keine roten Schatten mehr tanzen, sehe ich wieder hin.

Vor mir stehe… ich.

Erschrocken möchte ich nach Luft schnappen, aber die Hand an meiner Kehle lässt es nicht zu. Stumpfe Haarsträhnen fallen in meine eingesunkenen Augen und umrahmen mein fahles Gesicht. Eingefallene Wangen entblößen meine scharfen Gesichtszüge.

Ich sehe so… tot aus. Gezeichnet vom wochenlangen Abrackern.

Und was hat es mir gebracht? Ich habe trotzdem gekniffen und stattdessen meine Gehirnzellen weggesoffen.

Wie immer, würden meine Eltern mir sagen.

„Beantworte meine Frage!“, fordert der Tod ruhig.

Nur ein wenig lockert sich seine Hand und lässt erfrischende, kalte Luft durch meine Luftröhre strömen. Obwohl sie wie ein Stahlschwamm durch meine Kehle schrappt, sauge ich sie gierig ein. Endlich hört mein Kopf wieder auf, sich zu drehen und ich huste kläglich. In dem Moment erkenne ich, dass ich keine Antwort habe.

„Weil… weil ich nichts gut genug kann, um etwas zu erreichen?“, rate ich heiser, „Weil ich nicht genug Talent habe, um nicht erbärmlich zu sein?“

Der Tod schüttelt den Kopf. Das Grinsen wird sanfter und verwandelt sich in ein fast freundliches Lächeln.

„Du hast Hunger und kletterst jeden Tag auf einen Baum voll süßer Äpfel. Während du kletterst, beginnen deine Glieder zu schmerzen. Du bist dir sicher, dass du es nicht schaffst und statt deine Kräfte zu verbrauchen, kletterst du wieder hinunter. Irgendwann verhungerst du, an dem Apfelbaum lehnend.“

„Ich… was?“

„Denk nach!“, keift er. Das Grinsen kommt zurück.

„Es war schön mit dir zu plaudern, aber ich kann dich leider nicht länger mit meiner Anwesenheit beehren.“

Die dunkelgrünen Augen bohren sich ein letztes Mal in meinen Kopf und er lässt los. Wind pfeift durch meine Haare, während ich an Dunkelheit vorbeischieße. Schneller und schneller, bis ich erwarte, die Geschwindigkeit müsse mich zerreißen.

 

Deutlich spüre ich wie die U-Bahn über die Schienen rattert. Ein donnerndes Vibrieren, das durch jeden Knochen meines Leibes fährt. Ich öffne meine Lider. Wild keuchend sehe ich mich um. Wir nehmen gerade wieder Geschwindigkeit auf, nachdem wir an einer Haltestelle gehalten haben. Die Letzte, bevor ich hinaus muss.

Zitternd stoße ich meinen Atem aus und sehe zu dem Mann hinüber. Er sitzt ruhig da und grinst mich an. Nur schwer unterdrücke ich den Drang zu schreien.

Was zur Hölle war das?

Die U-Bahn schießt in den nächsten Tunnel. Langsam beruhige ich mein klopfendes Herz. Erst als mein Atem ganz flach und gleichmäßig geht, stehe ich auf und trete an die Schiebetür. Die Bahn wird langsamer. Als ich aussteige, sehe ich mich noch mal verstohlen nach dem Mann um, der mich immer noch unheimlich angrinst. Hektisch sprinte ich hinaus.

In dem Moment ruft er mir nach: „Vergiss nicht, deine Äpfel zu pflücken!“

 

Lange starre ich der U-Bahn nach, die schon in der Schwärze des Tunnels verschwunden ist. Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer der Agentur. In der Hoffnung auf eine zweite Chance.

 

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