Von Gabriele Lengemann                                                 

„Du wirst schon sehen, Vera“, sagte Ilse an diesem blendend sonnigen Frühlingsmorgen zu Ihrer Freundin, „wir machen uns einen richtig schönen Tag.“

Mürrisch schüttelte Vera Ilses Hand ab, als diese sich bei ihr einhaken wollte. Wieso nur hatte sie sich von Ilse zu diesem bescheuerten Ausflug überreden lassen?

Schöne Tage gab es für Vera schon lange nicht mehr. Im letzten Herbst war ihr Ehemann verstorben, seither verlief ihr Leben traurig und trostlos. Den Winter über hatte sie sich völlig in ihrer Wohnung eingeigelt, lediglich ihre Freundin Ilse und ihr Sohn Max hatten Kontakt zu ihr.
Heute hatte Ilse sie überredet, mit der U-Bahn bis zum Hafen zu fahren, dort ein wenig das Treiben zu beobachten und anschließend irgendwo eine Kleinigkeit essen zu gehen.
 „Ilse, ich wurde vor 79 Jahren in Altona geboren. Ich kenne den Hafen besser als den Weg von meinem Wohnzimmer ins Bad“, hatte sie zunächst widersprochen.  Schließlich hatte sie sich aber doch ihren Mantel angezogen und einen Hut aufgesetzt und lief nun mit Ilse den kurzen Fußweg hinüber zum Bahnhof Hamburg-Billstedt.
„Wenn es nach meinem Sohn geht, kannst du mich bald hier besuchen“, sagte Vera, als sie an der neuen Seniorenwohnanlage “Gesundbrunnen“ vorbeikamen.
„Die vermieten auch 20 m² Appartements mit Küchenzeile und Hausnotrufanlage. Max meint, das sei ideal für meine Bedürfnisse.“
„Max kann dir doch nicht vorschreiben, wo du wohnst“.  Ilse war entsetzt.
„Er mischt sich mittlerweile überall ein“, erzählte Vera weiter. „Stell dir vor, er hat angeboten, meine Zeitschriftenabonnements zu kündigen, er findet, das sind unnötige Ausgaben“.
„Da steckt doch deine Schwiegertochter dahinter, dieses Biest“, regte sich Ilse auf, die es immer sehr genoss, im Wintergarten von Veras großer, gemütlicher Altbauwohnung in den stets aktuellen Hochglanzmagazinen der Regenbogenpresse zu blättern.

Mittlerweile waren die beiden an der Haltestelle Hamburg-Billstedt angekommen und stiegen in die U 4, von der sie in Zukunft nur noch als dem “Turbo-Hafen-Express“ reden würden.
Es waren zunächst nur wenige Fahrgäste in der Bahn, so dass die Freundinnen keine Mühe hatten, gegenüberliegende Plätze zu finden. Allerdings herrschte bereits nach den nächsten beiden Haltestellen ein unangenehmes Gedränge im Gang neben Ilse und Vera. Nach dem Halt “Horner Rennbahn“ beschleunigte der Zug auf einmal und hielt die hohe Geschwindigkeit. Die Fahrgäste wurden unruhig, Kinder suchten Schutz auf dem Schoß ihrer Mütter. Der Waggon ächzte, als würde er gleich auseinanderbrechen.  Unsicher und verängstigt blickte Ilse zu Vera.
„Ein richtig schöner Tag, nicht wahr, Ilse?“, stöhnte diese.

Der Zug durchfuhr den nächsten Haltebahnhof und den übernächsten. Vera meinte, ungläubiges Staunen in den Gesichtern der Menschen zu lesen, die auf den Bahnsteigen warteten, als der Zug einfach vorbeiraste. Ein paar Augenblicke später erkannte sie etwas Rotes, das am Fenster vorbeiflog. Es war das Licht einer Ampel, die die Weichenstellung regelte. Jetzt würde es jeden Moment zu einem Zusammenstoß kommen. Vera hielt den Atem an und schloss die Augen. Sie, die am Morgen noch gebetet hatte, der liebe Gott möge sie zu sich holen, bat nun um Gnade und darum, weiterzuleben.

Es dauerte gefühlt Stunden, aber in Wirklichkeit nur einige Minuten, bis die U-Bahn endlich ihre Fahrt verlangsamte und schließlich in einem Tunnel zum Stehen kam.
Alle Fahrgäste waren mit dem Schrecken davongekommen. Eine Lautsprecherstimme verkündete, dass ein technischer Defekt Ursache für das Bremsversagen sei. Die Stimme bat um Geduld, da andere Züge, die sich auf demselben Gleis befänden, erst entfernt werden müssten. An einen Ausstieg in dem schmalen Tunnel war nicht zu denken.

Es dauerte eine ganze Weile, dann hatten sich die meisten Leute in der U-Bahn beruhigt. Nur Ilse schluchzte noch leise vor sich hin. Mit zitternden Händen hielt sie sich rechts und links in den Polstern der Sitzbank fest.

„Wir werden ersticken“, stammelte sie. „Oder ertrinken, wenn das Wasser nach unten durch die Schächte fließt, werden wir alle ertrinken“.
Vera hatte sich wieder einigermaßen gefangen.
„Es könnte auch ein Feuer ausbrechen oder wir werden von den Ratten, die hier unten leben, gefressen“, meinte sie lapidar, wie es ihre Art war.
 „Aber das wird nicht passieren, wir kommen hier lebend wieder raus“.
 Sie holte eine kleine Wasserflasche aus ihrer Handtasche, gab Ilse zu trinken und versuchte, die Freundin zu beruhigen. Ilse verschüttete das meiste Wasser, da das Zittern nicht nachlassen wollte, und auch die Tränen wollten einfach nicht versiegen.

Die meisten Fahrgäste kauerten eng nebeneinander auf den Sitzen. Viele hatten sich aber auch im Mittelgang auf ihren Jacken oder Rucksäcken niedergelassen, am hinteren Ausgang umarmte ein weißhaariger Mann in zerschlissener Jacke seine Gitarre, als wäre sie seine Geliebte. Kinder quengelten, ihre Mütter tippten Nachrichten in Handys, Männer in Anzügen wischten sich den Schweiß von der Stirn.

Zwei Reihen hinter Vera und Ilse saß ein junger Mann. Julius war Student, hatte sämtliche Abschlussprüfungen mit Bravour bestanden und war auf dem Weg zu seiner Abschlussfeier. Dass er zu dieser nicht mehr pünktlich erscheinen würde, war ihm nach einer Stunde des Ausharrens im       U-Bahn Waggon klar geworden. Jetzt beobachtete er allerdings schon eine Zeit lang die ältere Dame vor ihm, die immer wieder in Tränen ausbrach und das lenkte ihn von seiner Enttäuschung ab.

Einer plötzlichen Eingebung folgend stand er auf, bahnte sich einen Weg nach vorn zu Ilse und reichte ihr die Hand.
„Guten Tag, gnädige Frau“, sagte er und machte dabei eine kleine Verbeugung. „Ich bedanke mich ganz herzlich, dass sie zu meiner kleinen Abschlussfeier hier in der Linie 4 gekommen sind.“
Julius hatte einen Hut mit Quaste aufgesetzt und sah jetzt so aus wie ein amerikanischer Student bei der Zeugnisübergabe.
Vera riss die Augen auf. Ging der Sauerstoff denn schon zur Neige, dass sich dieser Typ hier so seltsam benahm? Sie wollte ihm gerade die Meinung sagen, als ihr die sekundenschnelle Verwandlung ihrer Freundin die Sprache verschlug.  Die Angst verschwand aus Ilses Gesicht und sie lächelte Julius an. Erstaunlich schnell erhob sie sich von ihrem Sitz und reichte ihm die Hand.
„Das habe ich gern gemacht“, sagte sie leise.
Vera musste lachen und konnte auch nicht damit aufhören, als Julius sich ihr zuwandte, um sich bei ihr ebenfalls für die Teilnahme an seiner Feier zu bedanken.

Mittlerweile waren weitere Fahrgäste aufmerksam geworden. Manche begannen zu applaudieren. Erlösendes Gelächter mischte sich mit Bravorufen. Handys wurden gezückt und Julius ließ sich geduldig mit Gratulanten, die ihre Daumen in die Höhe streckten, fotografieren.
Ilse stand die ganze Zeit kerzengerade und freute sich mit den anderen.

Vera sah plötzlich die kleine blonde Ilse mit den vielen Sommersprossen und den Grübchen vor sich, die bereits in der ersten Klasse neben ihr gesessen hatte und deren Leben von da an untrennbar mit dem ihren verbunden war. Die burschikose, schlagfertige Vera und die zarte, zaghafte Ilse. Vertraute durch alle Gezeiten.

Ilses Gesicht war alt und faltig geworden. Ihre Augen aber waren immer noch die Augen des zierlichen, kleinen Mädchens mit den dicken Zöpfen. Ungläubiges Erstaunen lag darin, aber auch Neugier und Lebensfreude, und Vera schnürte es vor Rührung fast die Kehle zu, als sie ihre Freundin so betrachtete. 

Mit einem Mal fühlte sie sich richtig schäbig, weil sie Ilse in letzter Zeit oft ungerecht und abweisend behandelt hatte.  Sie griff nach Ilses Händen, um sich daran hochzuziehen, und dann drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange.

Kurze Zeit später spielte der Gitarrenmann „Congratulations“ von Cliff Richard. Spätestens hier begann auch Vera das ganze Spektakel zu genießen und wie viele andere sang sie mit.

Die Party war in vollem Gange, als sich der Zug langsam wieder in Bewegung setzte und Richtung Hafen City weiterfuhr. Vera fühlte sich gelöst und leicht wie lange nicht mehr, als sie mit Ilse wieder ans Tageslicht trat und in den Himmel über Hamburg blickte, der heute so blau und wolkenlos war wie am Anbeginn der Zeit.

Im Taxi nach Hause betrachtete sie wohlwollend Ilse, deren Wangen immer noch von der Aufregung gerötet waren und die unermüdlich auf sie einredete.
„Ilse, was hältst du davon, wenn wir mal weiterfahren als nur bis zum Hafen?“, unterbrach sie ihre Freundin. „Wir könnten doch mal eine Kreuzfahrt machen, uns noch ein wenig von der Welt ansehen. Wieso fahren wir nicht mal für ein paar Wochen weg oder gleich für einen Monat?“
Ilse riss die Augen auf.
„Ist das dein Ernst?“, fragte sie.
„Sicher“, bekräftigte Vera „wir gehen morgen ins Reisebüro und suchen uns etwas richtig Schönes aus und wenn dein Erspartes nicht reicht, ich habe genug für uns beide.“

Als Vera abends im Bett lag, freute sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein klein wenig auf den nächsten Tag, und als sie in den Schlaf hinüberglitt, lächelte sie, denn sie stellte sich das Gesicht ihres Sohnes vor, wenn er in ein paar Wochen ihre Kontoauszüge durchsehen würde.

                                                                               V3