Von Christiane Labusga

Das sollte die letzte durchgebrachte Nacht sein. Denn egal, wie sehr sie sich auch vergaß beim Tanzen, sobald sie auf dem Heimweg in der S-Bahn zur Ruhe kam, überfiel sie wieder die Erinnerung. Matthias war tot, war im Streit gegangen, und sie hatten nicht mehr die Chance gehabt, sich zu versöhnen.

Oben auf der Almhütte, bei einem kräftigen Bier mit Blick ins dünn besiedelte Tal, hatte Matthias ihr auf der Hochzeitsreise eröffnet, dass er nicht weit entfernt einen gut erhaltenen Hof gekauft hatte. Dort sollten sie leben, Kinder bekommen, eine glückliche Familie werden. Mit Hund, er hatte an alles gedacht.

„Ist doch egal, wo ich lebe, ich kann überall programmieren und entwerfen, dafür brauche ich Berlin nicht. Hier ist es wunderschön, ich wollte schon immer hier leben.“

Uli, die bis dahin die Abwechslung von der Hektik der Großstadt genossen hatte, war ein Brechreiz in den Hals gestiegen. „Nein!“, hatte sie hervorgewürgt. „Nein und nochmals nein! Was willst du hier programmieren? Software für Melkroboter? Hier ist doch alles geistig tot, hast du nichts mitbekommen die letzten Tage? Wovon reden die Leute hier? Von absolutem Bullshit, im wahrsten Sinne des Wortes! Dass du so etwas über meinen Kopf hinweg beschließt, hätte ich dir nie zugetraut.“

„Die Leute hier sind nicht anders, als die in Berlin“, hatte Matthias geantwortet, bevor sie in einen leisen, aber dafür umso erbitterten Streit gerieten. Als sie zu ihrem Hotel abstiegen, hatten sie schon nicht mehr miteinander gesprochen, und am nächsten Morgen war Matthias allein zu einer Bergtour aufgebrochen.

Sie hatte ihn erst in der Leichenhalle des Krankenhauses wiedergesehen, wohin ihn die Bergwacht nach seinem Absturz gebracht hatte. Und sie hatte sogar, ganz kurz nur, gedacht: „Gott sei Dank!“

Dieser letzte Gedanke zog sie immer wieder in die Erinnerung zurück und auch jetzt war sie so sehr darin versunken, dass sie zuerst kaum bemerkte, dass jemand sie ansprach.

„Werteste, wach uff!“ Spucketröpfchen, Bierdunst. „Ick will ja nit stören, aber haste mal n Euro für mir?“

Eine heruntergekommene Frau hatte sich neben Uli gesetzt. Sie blickte sich um, drei andere waren noch da, ein Grufti-Pärchen und einer mit einer Werkzeugtasche. Die Partygänger wurden langsam mit den ersten Arbeitern durchmischt. Obwohl es noch tiefdunkel draußen war, brachte der erste, der nicht angesäuselt und mit verschmierter Schminke im Gesicht in den Waggon stieg, sondern grau und frisch nach Rasierwasser riechend, so etwas wie Morgendämmerung in das Abteil.

Bis Ostkreuz war es noch weit, Uli wollte die Pennerin loswerden.

„Klar, ich hab‘s aber nur groß, hier, nimm den Fünfer!“

„Mädchen“, die Frau riss ihr den Schein aus der Hand, „det reicht für uns beede. Willste nich mitjehen?“

„Nee, ich muss heim, mich hinlegen.“

„Jut, jut“, die Alte zwängte sich schnell vom Sitz hoch in den Gang, erleichtert, die Beute nicht wieder teilen zu müssen.

„Denn mach et jut, ick jeh mal.“

Uli blickte hinaus, der Himmel wurde langsam heller, die wenigen Sterne, die man durch den Lichtdom über dem nächtlichen Berlin eben noch hatte sehen können, waren verblasst. Schönhauser Allee. Sie blickte den anderen Fahrgästen nach, die jetzt allesamt ausstiegen. Dann passiert es:

Matthias steigt ein. Oder jemand, der verdammt wie Matthias aussieht. Und er setzt sich ihr gegenüber. Lächelt sie an. „Na“, sagt er, „damit hast du wohl nicht mehr gerechnet?“

Matthias ist seit sieben Jahren tot. Warum ist er hier?

„Das fragst du noch?“, antwortet er auf Ulis Gedanken. „Dich mitnehmen, natürlich. In die Flitterwochen. Die sind ja noch nicht vorbei.“

„Ich muss gleich aussteigen!“

„Nee, nix da.“

Die nächste Station müsste doch schon längst erreicht sein, aber es rumpelt nur merkwürdig, so, als würde die Bahn statt auf den Gleisen direkt auf dem Schotter darunter hinweg rasen. Sie versucht, durch die spiegelnden Fenster nach draußen zu schauen – nichts, kein einziges Licht, kein Lämpchen, keine Dämmerung, hinter den Scheiben ist alles schwarz. Sie blickt sich hilfesuchend im Abteil um, ist sie wirklich allein mit Matthias?  Nein, das Abteil ist plötzlich voll. Voller Menschen, die sie mit leeren Augenhöhlen anstarren, denen die Haut in Fetzen herabhängt.

Matthias grinst sie freundlich an, dann erstarrt sein Grinsen, die Lippen ziehen sich zurück, die Zähne blecken. Seine Haut wird dünn wie Pergament und bricht schließlich vor ihren Augen auf, den blanken Schädel zurücklassend. „Nein“, sagt der Schädel, „du kommst mit mir und meinen Freunden!“ Die Fetzenmenschen schleifen sich an Uli heran, greifen nach ihr. Sie zischeln, lachen.

Eine Hand greift ihr schmerzhaft in die Schulter, es lispelt an ihr Ohr. Und dieser Gestank. „Nein!“, schreit sie auf. „Ich will nicht in die Hölle!“

„Liebling, das war nicht sehr nett. Wir müssen doch noch etwas ausdiskutieren, meinst du nicht? Oder willst du für immer unversöhnt mit mir bleiben?“

Matthias lacht auf, mit ihm fallen die anderen Skelette in kreischendes Gelächter.

„Und glaube bloß nicht, dass ich das nicht gehört hätte, was du damals an meiner Bahre gedacht hast. Glaubst du, du kommst damit so einfach davon?“

„Du, du, du!“, kreischen die untot Toten, schlagen sich gegenseitig mit ihren klapprigen Händen auf  die Schultern, grölen, husten, pfeifen. Sie beginnen zu tanzen, stampfen mit den Füßen einen monotonen Takt, zu dem sie durcheinander die Lieder ihres Lebens schreien. Kleine Knochenteile fliegen durchs Abteil. Uli wird unsanft von ihrem Sitz gerissen, eingereiht in die Kette der Tanzenden.

Und während ihre Beine wie von selbst beginnen, den Takt mit zu stampfen, sucht ihr Blick das Gesicht Matthias, das kein Gesicht mehr ist, nur mehr eine Fratze mit wutglühenden Augen.

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