Von Marieke Huber

„Das kann nicht wahr sein“, schoss es mir immer wieder durch den Kopf. „Nicht hier! Ausgerechnet jetzt!“. Ich fühlte mich, als ob mir grade jemand eine Torte ins Gesicht geklatscht hätte. Mutwillig beschämt. So etwas machte man einfach nicht per Telefon. Ganz automatisch hatte ich mein Handy wieder zurück in das Seitenfach meiner Handtasche geschoben. Mein Blick irrte über die roten Plastiksitze vor mir auf der Suche nach etwas, dass mir Halt geben könnte. In diesem Moment fuhr die Bahn an und mir gegenüber nahm eine ältere Frau Platz. Sie trug eine breite, blaue Krone auf dem Kopf. Ihr blaues, lockiges Haar fiel ihr über die Schultern und in der Hand hielt sie eine Papiertulpe mit blauem Stiel. Sie musste ungefähr im Alter meiner Großmutter sein. Ich starrte so intensiv auf die Tulpe, dass die Rot- und Orangetöne der Knospe vor meinen Augen verschwammen. Wenn ich es recht bedachte, war es keine Tulpe, sondern die Polyesternachahmung einer Fackel – und die Frau das lebende Symbol der Freiheit – die Freiheitsstatue. Hinter ihr standen ihre Freundinnen, alle im selben Kostüm. Sie erweckten die Illusion eines Spiegellabyrinths, in welchem sich die Frau vor mir kaleidoskopartig zu vervielfältigen schien. Ich sah, wie sie sich zu ihnen umdrehte. Beim Lachen bildeten sich spinnenwebsartige Netze um ihre Augen und ihre schmalen, grell angemalten Lippen verzogen sich zu einem Strich, wenn sie lächelte. Sie hatte ein mitreißendes Lachen. Wie aus weiter Ferne drang es gedämpft durch das Pulsieren in meinen Ohren zu mir durch. Die U-Bahn fuhr wieder an. Neben mir rauschte das Leben an mir vorbei, wie einer dieser alten Charlie-Chaplin-Streifen. Slapstick. Nicht so gestochen scharf wie die Hightechfilme der heutigen Zeit. Es ruckelte und flackerte, untermalt durch eine dramatische Musik, die blechern klang. „Da sind wir dabei, dass ist priimaa“ drang aus der tragbaren Box von Jack Sparrow ein paar Sitze weiter. Auch das noch. Völlig unpassend! Plötzlich musste ich lachen.

Dies war meine Haltestelle. Schon tausend Mal war ich hier ausgestiegen, die 7 Stufen vom U-Bahnsteig heruntergestiegen und zu meiner Wohnung gelaufen. Ich wusste genau, an welcher Stelle des grauen Pflasters der kreisrunde Abdruck eines plattgetretenen Kaugummis zu sehen war und wo ich meine Schritte beschleunigen musste, um nicht in Versuchung zu kommen, dem Duft der Pizzeria an der Ecke zu erliegen. Heute hörte ich die Lautsprecherdurchsage, aber ich beschloss, der Freiheitsstatue zu folgen. Die groteske Situationskomik war mein Rettungsanker, auf den wollte ich nicht verzichten.

Noch vor ein paar Haltestellen war eine Frau im Hexenkostüm ein paar Sitze weiter die einzige gewesen, die vormittags um 11 die Blicke der Pendler auf sich zog – mit Überschreiten der Stadtgrenze waren die Jeansträger zur Ausnahmeerscheinung geworden. Die Bahn tauchte ein in die dunklen Tunnel des U-Bahn-Netzes und grelles Neonlicht löste den strahlenden Sonnenschein ab, der bereits an das wärmende Gleißen des Frühlings erinnerte, aber noch nicht bis unter die Haut drang. Unaufhaltsam zog es mich auf den Kern dieses Strudels zu. Ich sah, wie meine Statue nach der metallenen Stange vor sich griff, den Halteknopf presste. Leider erhob ich mich genau in dem Moment, in dem die U-Bahn mit einem Ruck zum Halten kam. Mein Magen machte einen Satz und ich schmeckte augenblicklich den bitteren Geschmack des Erbrochenen in meinem Mund. Mit Mühe schaffte ich es, mich durch die schiebende und stoßende Masse an Leibern aus der Schwingtür hinaus und auf den Bahnsteig tragen zulassen, ohne mich zu übergeben. Die Übelkeit war so stark, dass ich vergaß, der Fackel zu folgen und unentschlossen auf dem U-Bahn-Gleis stehen blieb, während hinter mir die Bahn abfuhr – nun fast gänzlich leer. Dann ging ich auf die Knie und erbrach mich in einen der auf dem Boden verschraubten Mülleimern vor mir. „Morgens schon betrunken!“ kommentierte ein vorbeieilendes Pärchen mit einem abfälligen Blick.

Erschöpft stand ich auf, aber der Sturm von Übelkeit war vorüber und ich stellte dankbar fest, dass die Szenerie von jetzt auf gleich gewechselt hatte. Die Fabelwesen hatten sich bereits Richtung Rolltreppe verzogen und es gab einen kurzen Moment des Friedens, bis die Bahn der Gegenrichtung mit einem lauten Quietschen zum Stehen kam. Niemand beachtete mich. Da ich nicht heim wollte, in meine einsame Wohnung, ließ ich mich von dem neuen Schwung an Feierwütigen in die Altstadt tragen, lief immer weiter auf der Suche nach der Freiheitsstatue. Vor den Bierkellern und Traditionskneipen standen die Stehtische, die Kellner trugen die schweren Tabletts mit Füchschen, Uerige und Schumacher Altbier zu den Gästen und räumten nicht selten halbvolle Gläser im Vorbeigehen wieder ab.

Als ich aus den engen Gassen der Altstadt auf das Rheinufer hinaus trat, leuchtete mir endlich das Blau der gesuchten Statuen entgegen. Ich legte meine Handtasche auf die Stufen der Rheinterrassen und setzte mich darauf. Mein Blick wanderte über die weite, graue Wasserfläche des Flusses und blieb am Düsseldorfer Rheinturm hängen. Bei Nacht konnte das Leuchten des Lichtzeitpegels ein verbindendes Element sein, Brücken bauen zwischen den vielen kleinen Gruppen am Rheinufer in dem gemeinsamen Versuch die größte dezimale Zeitskala der Welt zu entschlüsseln. Doch bei Tag behielt der Turm sein Geheimnis für sich. Ich dachte an die letzten Jahre mit dir, die gestenreichen Szenen, die sich immer wiederholten, das beiderseitige Gefühl nicht verstanden zu werden. Bei Licht betrachtet hatte es für uns wahrscheinlich nie eine gemeinsame Zukunft gegeben, auch wenn ich sie mir heute Morgen noch in leuchtenden Farben ausgemalt hatte um Mut zu sammeln für die Neuigkeiten, die ich dir mitteilen wollte. Und dann war ich nicht mal dazu gekommen. Mit beiden Händen fuhr ich mir durchs Gesicht und die Haare, versuchte mit dieser einfachen Geste das klebrige Gefühl von Scham, die lastende Schwere der Trauer abzuwischen. Statt wieder und wieder deine Worte zu hören, versuchte ich den Tag wie eine Stummfilmsequenz vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen, mit überdeutlicher Gestik und Mimik, hielt ihn so ein Stück weit von mir fern. Mein Blick kehrte zur Freiheitsstatue zurück und ich dachte an neue Welten, neue Möglichkeiten und neue Gefahren. Ich ließ die kalte Luft in meine Lungen strömen, spürte einen Moment lang dem gleichmäßigen Heben und Senken meines Atems nach, versuchte den Trubel um mich herum, die aufgekratzte Fröhlichkeit in mich aufzunehmen. Als ich schließlich aufstand war die Gruppe Frauen aus der Bahn bereits weiter gezogen.

Fröstelnd ließ ich meine klammen Finger in die Taschen meines Parkas gleiten und umschloss mit der Rechten den Test mit den zwei farbigen Balken. Positiv. Ich hielt diesen kleinen und unsicher flackernden Funken Hoffnung fest mit meiner Hand umschlossen. Meine Schritte zogen mich zurück zur Bahn und ich ließ mich von ihr auf neue Wege lenken.

 

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