Von Florian Ehrhardt

Die Sirenen heulen über der Stadt. Robby nimmt meine Hand. Drückt drei Mal fest zu. Unser Code für „Ich liebe dich.“
„Wir müssen schneller rennen!“, keuche ich.

Robby beschleunigt seinen Schritt kurz, um dann plötzlich abzubremsen. „Wohin eigentlich?“, fragt er.

Ich lasse seine Hand kurz los. Halte einen Moment inne und sehe in seine warmen, braunen Augen. „U-Bahn?“, stoße ich fragend hervor. „Die ist doch weit unter der Erde.“

Robby nickt. „Wo ist die nächste Station?“

Ich blicke suchend umher. Um uns herum herrscht Chaos. Menschen rennen auf dem Bürgersteig, auf der Straße, trampeln sich gegenseitig über den Haufen, laufen in Verkehrsschilder, manche schlagen sogar die Scheiben der Läden ein. Panik steigt in mir auf. Ich wohne seit sechs Jahren in dieser Stadt, seit vier Jahren auch endlich in beiden Teilen, müsste eigentlich jeden Winkel kennen, aber jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was hinter der nächsten Kreuzung liegt. Die Sirenen heulen weiter.

„Kim?“ Robbys Finger streichen über meinen Handrücken.

Ich fahre herum. „Ich weiß es doch auch nicht!“, herrsche ich ihn an.

Er zieht die Hand weg und senkt seinen Blick.

Eine Mischung aus Scham, Wut und Verzweiflung steigt in mir auf. „Sorry.“, murmele ich. „Ist n‘ Scheißtag.“

Dabei hatte alles so gut angefangen. Robby hat mich mit einem „Guten Morgen Schatz.“, geweckt. Wir waren auf dem Weg in die Stadt, wollten unseren dritten Jahrestag im Schlossgarten Charlottenburg feiern, wo wir bei unserem ersten Date auch unsere erste richtige Coca-Cola getrunken haben. Wir sind gelaufen, anstatt die U-Bahn zu nehmen, weil das Wetter an diesem letzten Märzsonntag so wunderschön warm war. 18 Grad und wolkenloser Himmel, der perfekte Frühlingstag. Bis vor fünf Minuten die Sirenen angefangen haben zu heulen.

 

„Kim?“ Robby reißt mich aus meinem Tagtraum. Er hat mich in eine fast menschenleere Seitengasse geführt.
„Ich liebe dich.“ Mir fällt nicht ein, was ich sonst sagen soll.

„Ich dich auch.“, flüstert er zurück.

Ich lege meine Arme um Robby und küsse ihn.

„Spinnst du, doch nicht hier!“, zischt er leise.

„Sieht doch eh keiner. Die sind mit sich selbst beschäftigt.“

Wir stehen eng umschlungen da, die Sirenen sind auch hier noch ohrenbetäubend.

Nach ein paar Sekunden löst Robby sich doch aus meiner Umklammerung. „Wir müssen hier weg!“, sagt er ruhig, aber eindringlich.

Ich halte inne, lasse seine Hand trotzdem nicht los. Ich schließe die Augen. Von wo sind wir gekommen?

„Ich weiß, wo wir sind!“, ruft Robby plötzlich. „Und ich weiß auch, wo es zur U-Bahn geht!“

Ich spüre, wie das Adrenalin durch meinen Körper schießt. „Wo?!“, frage ich aufgeregt.

Robby antwortet nicht, sondern rennt wie vom Blitz getroffen los.

Ich habe fast schon Probleme, ihm hinterherzukommen.

Wir rennen gemeinsam durch die Massen. Mit dem Strom oder gegen den Strom? Es gibt keinen Strom mehr, nur noch Chaos. Menschen rennen in alle Himmelsrichtungen, niemand scheint zu wissen, wo es hingehen soll. Aber plötzlich stehen wir tatsächlich vor dem großen, blauen U.

Ein Mittvierziger kommt keuchend die Treppe nach oben gerannt. „Geht da nicht rein!“, ruft er uns im Vorbeilaufen zu. Seine braunen Haare kleben schweißnass auf seiner aufgeschlagenen Stirn, das linke Brillenglas fehlt.

Ich drehe mich um und rufe „Warum?“, doch der Mann ist schon verschwunden.

Robby drückt meine Hand drei Mal. „Wir müssen nach unten!“

„Aber der Mann—“

Er sieht mich verzweifelt an. „Kim, die bombardieren uns!“ Seine Augen bewegen sich hektisch hin und her. „In fünf Minuten liegt hier alles in Schutt und Asche, wir brauchen irgendwie Schutz!“

Menschen drängen an uns vorbei, laufen die Treppe herunter.

Ich mache den ersten Schritt nach unten. Den zweiten. Panik beginnt in mir aufzusteigen. Was ist da unten?

Robby ist neben mir.

Ich überspringe eine Stufe und werde noch schneller.

Gemeinsam rennen wir nach unten, biegen scharf links ab, nehmen auf der lahmgelegten Rolltreppe drei Stufen auf einmal, bis—

RUMMS

Der Knall sorgt dafür, dass meine Ohren nur noch ein lautes Piepen hören. Ich drehe mich zu Robby um. Er ruft irgendetwas, aber die Worte kommen nicht bei mir an, ich sehe nur, wie sich sein Mund bewegt. Ich blicke nach vorne. Nach unten. Die Treppe hat noch höchstens zehn, zwölf Stufen. Das können wir schaffen. Ich drücke Robbys Hand drei Mal. Nehme wieder drei Stufen auf einmal. Fast geschafft.

Die Druckwelle erfasst uns und wir werden durch die Luft geschleudert. Es wird schwarz.

 

Um mich herum ist es dunkel.

Gedämpfte Stimmen sind zu hören. „Spinnst du, du kannst doch unser bisschen Trinkwasser nicht so verschwenden!“, ruft eine wütende Männerstimme.

Seine Begleitung erhebt einen leisen Einwand. „…ist vollkommen dehydriert! Wir…irgendwie weck—“

Mehr bekomme ich nicht mit. Ich höre, wie sich Schritte nähern.

Wieder spricht die wütende Stimme: „Ein guter alter Schlag in die Fresse. Das hat noch die meisten wieder aufgeweckt!“

Ich reiße die Augen auf und versuche „Ich bin wach!“, zu rufen, doch es kommt nur ein leises Krächzen heraus.

„Na also, so eine Drohung hat noch den größten Simulanten auferstehen lassen!“

Ich blicke in die stahlblauen Augen eines kräftigen Mannes mit zotteligen, schwarzen Haaren und einem dunklen Bart. Neben ihm steht eine zierliche, blonde Frau.

„Wo bin ich?“, ist die erste Frage, die mir einfällt.

„U-Bahnhof Bismarck—“, will die Frau beginnen, doch ihr Begleiter unterbricht sie.

„Schnauze, Esther! Dit is das Ende der Welt! Fertig, aus.“

„Krieg.“, sagt Esther still.

Wie zur Bestätigung ihrer Aussage wackelt die Decke, während von fern ein lauter Knall zu hören ist. Staub und Asbest bröseln auf mich herunter.

Ich richte mich langsam auf. Wie durch ein Wunder bin ich nicht verletzt. Tausende Gedanken rasen durch meinen Kopf. Krieg? Aber der Kalte Krieg ist doch vorbei, die Mauer und die Sowjetunion sind Geschichte? Warum jetzt? Aber dann bahnt sich die wichtigste Frage den Weg durch mein Gehirn auf meine Stimmbänder. „Robby!“, stoße ich hervor.

„Ne, icke heiß Thomas.“, sagt der muskulöse Fremde ruhig, ein ironisches, fast schon zynisches Lächeln umspielt seine Lippen.

Ich ignoriere die Bemerkung und wende mich an Thomas und Esther: „Nein, haben Sie, habt ihr einen Mann gesehen? Etwa so alt wie ich? Braune Augen, dunkle Haare, Dreitagebart? Er war neben mir, als die Explosion kam!“

„Die Große?“, fragt Esther.

Ich zucke die Achseln. „Die, die mich in den Dornröschenschlaf befördert hat.“

„Dit war vor drei Stunden, glaub ick mal.“, sagt Thomas.

„Und wie bringt mich das weiter?“, frage ich entmutigt.

„Was willste denn überhaupt von diesem Tobi?“, kommt von Esther als Gegenfrage.

Ich beiße mir auf die Lippen. „Er ist…naja…mein Freund.“, sage ich leise, fast schon flüsternd.

Esther und Thomas grinsen sich an. „Ach so is dit.“, meint Esther.

„Mach dir keene Sorgen, wir verraten nix.“, sagt ihr Begleiter und zwinkert mir verschwörerisch zu. „Ach so, gerüchteweise wurden ganz viele Verletzte von Soldaten zum Bahnhof Zoo gebracht. Also die, die noch laufen konnten.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Würde Robby mich einfach so im Stich lassen? Trotzdem, ich muss ihn finden. „Wie komme ich da hin?“, frage ich aufgeregt.

Thomas kommt mir einen Schritt näher. Sein Atem riecht nach Tabak und Vodka. „Dit is ja das Verrückte. Die U-Bahnen fahren noch. Und zwar von allein, ganz ohne Führer.“

Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

 

Zwei Minuten später stehe ich am Gleis. Über mir flackert das Licht, der Zug nähert sich.

Die Banddurchsage läuft an. „Zug nach Pan—“

Die Leitung knackt.

„Tschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow…“ Udo Lindenberg dudelt durch die verlassene U-Bahn-Station.

Der Zug fährt ein. Ich erhasche einen Blick auf das Führerhäuschen, in dem niemand sitzt. Mit quietschenden Bremsen kommt die Bahn zum Stehen. Nur die Tür vor mir öffnet sich. Die vorletzte und gruseligste Zugfahrt meines Lebens dauert keine drei Minuten, dann kommt der menschenleere, führerlose Zug am Bahnhof Zoo an. Udo Lindenberg ist meine einzige Begleitung. Ich sprinte durch die Gänge, rufe immer wieder Robbys Namen. Bis ich ein leises Krächzen vernehme.

„Kim?“

Ich werde schneller. Folge dem Ruf. „ROBBY?!“

„Kim!“ Diesmal ist seine Stimme lauter.

Es muss direkt hinter dieser Rechtskurve sein!

Ich renne fast in eine alte Frau, die sich auf einen Gehstock stützt. Ich ignoriere sie, denn neben ihr an der dreckigen, gefliesten Wand sitzt Robby. Meine Augen weiten sich vor Schreck. „Du siehst katastrophal aus.“ Auf seiner Stirn klafft eine dreckig verkrustete Platzwunde.

Er antwortet nicht, zieht mich zu sich herunter, küsst mich hart auf den Mund. Ich schmecke Blut und Fäulnis, aber es ist gefühlt der schönste Kuss seit Jahren.

Die alte Frau schnaubt entrüstet.

Irgendwo ist ein wütend herausgeschleudertes „Schwuchteln!“, zu hören.

Wir ignorieren die intoleranten Arschlöcher.

„Lass uns von hier verschwinden.“, raunt Robby, als wir uns endlich voneinander lösen können. „Ich will nochmal an die Oberfläche.“

Ich ziehe ihn nach oben. Gemeinsam laufen wir zurück zum Gleis. Robby wird mit jedem Schritt schwächer. Mit letzter Kraft schaffen wir es in den Zug.

Wieder ist unser einziger Begleiter Lindenberg. „Tschuldigen Sie, ist das der Sonderzug zur Hölle?“

Oder bilde ich mir das nur ein?

 

An der Station Olympiastadion fährt die Linie U2 an die Erdoberfläche. Oder das, was von ihr übriggeblieben ist. Udo hört auf zu dudeln. Die Bremsen quietschen ein letztes Mal und der Zug bleibt stehen. Wir steigen aus. Es ist verheerend. Von den Bäumen steht kein einziger mehr, der Glockenturm unter dem stahlgrauen Himmel ist zusammengebröselt. Nur das Stadion, der alte Nazi-Koloss, steht noch.

„Scheiße.“, entfährt es mir.

„Ich liebe dich.“, sagt Robby.

„Ich dich auch.“

Wir setzen uns nebeneinander auf den nackten Boden. Robby streichelt mir erst über meinen roten Kinnbart, um mich dann nochmal auf den Mund zu küssen.

Ich schmecke noch mehr Blut als vorhin.

Wir sitzen still da und starren ins Leere.

Robby drückt drei Mal meine Hand.

Ich liebe dich.

 

 

feh/0421-1