Von Miklos Muhi

Akt III – Montag, 8:17, Laimer Platz, Endstation der U5

 

Als Lars in die Fürstenrieder Straße einbog, blieb er mitten in der Lawine des morgendlichen Fußgängerverkehrs stehen. Er wurde mehrmals angerempelt und einige Schimpfwörter waren zu hören.

 

Sein Wecker war wegen einer verbrauchten Batterie stumm geblieben und er war spät dran. So galt sein Interesse der ungewöhnlich großen Menschenansammlung vor dem Eingang der U-Bahnstation Laimer Platz. Es roch nach Verkehrschaos unter dem Asphalt.

 

Lars besaß kein Auto. Der nahe Taxistand war leer. Das hieß, dass da keine Autos parkten. Der Bürgersteig daneben war voll mit ungeduldigen Menschen, die auf eine Mitfahrgelegenheit warteten.

 

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis Lars es zum Bahnsteig schaffte. In dieser Zeit kam nur ein einziger Zug und der füllte sich sofort bis zum letzten Quadratzentimeter. Aus den Lautsprechern kam irgendetwas über einen Notarzteinsatz und darüber, dass die Züge vorerst mit einem Abstand von acht Minuten fahren würden.

 

Lars blieb nichts anderes übrig, als seine Chefin per SMS davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich heute verspäten würde.

 

Während er warten musste, dachte er nach. Die Chefin hatte Verständnis dafür, aber Lars selbst hasste jede Art von Verspätung. Jeden Morgen einfach früher loszugehen war keine Lösung.

 

Er nahm sein Handy aus der Tasche und suchte gebrauchte Fahrräder online. Als er beim Innsbrucker Ring ausgestiegen war, hatte er schon sein erstes Gebot für ein holländisches Modell abgegeben.

 

Akt II – Montag, 6:24, Laimer Platz, Endstation der U5, Garagenausfahrt

 

Achmed nahm den Schlüssel vom Schichtleiter mit Ehrfurcht entgegen. Damit konnte man den Spind mit den Putzmitteln zur besonderen Verwendung öffnen. Den bekam nicht jeder ausgehändigt.

 

Er hätte schon vor anderthalb Stunden nach Hause gehen sollen, aber wegen Hans musste die ganze Nachtschicht dableiben und sich zusammen mit der Frühschicht der Ausfahrt der Garage widmen.

 

Natürlich wurde der Strom abgeschaltet. Das führte dazu, dass kein Fahrzeug die Garage verlassen konnte. Auf der Linie U5 verkehrten die Züge aus der Reserve und die, die man von anderen Stellen abkommandieren konnte.

 

Der Spind stank selbst mit geschlossenen Türen fürchterlich nach Chemie. Als er die Tür aufmachte, versuchte Achmed nicht zu tief einzuatmen. Sobald er den richtigen Behälter fand, nahm er ihn aus dem Spind, sperrte ihn zu und verließ schnell den Raum.

 

»Danke Achmed«, sagte der Schichtleiter, nahm den Behälter mit dem Putzmittel entgegen, und wandte sich zu den versammelten Menschen.

»Ich weiß, dass ihr aus der Nachtschicht müde seid und nach Hause wollt. Bald ist es soweit. Wir haben höchstens zwei Stunden Arbeit vor uns und nun, da die Bullen endlich weg sind, können wir anfangen. Ich kann und will niemanden zwingen, mitzumachen, aber wir müssen hier aufräumen. Wenn ich euch einen Rat geben darf: Denkt nicht allzu viel nach. Einfach schrubben und wischen.«

 

Keiner scherte aus.

 

Achmed war traurig. Hans hatte keinerlei Berührungsängste und war immer freundlich zu ihm. Die meisten anderen Kollegen respektierten Achmed, nachdem er gezeigt hatte, dass er hart arbeiten konnte und nichts in die Luft jagte, aber das war nicht dasselbe.

 

Akt I – Montag, 3:21, Laimer Platz, Endstation der U5, Garagenausfahrt

 

Hans kam wie immer viel zu früh zur Arbeit. Seit seine Frau verstorben war, betrachtete er die Kollegen von der Verkehrsgesellschaft als seine Familie. Diese Ansicht wurde von den meisten nicht geteilt. So saß er oft allein in der Umkleide und verbrachte viel Zeit mit seinen Gedanken.

 

Ein Umzug stand für ihn an. In seinem Alter war das keine leichte Aufgabe. Eine Umzugsfirma zu beauftragen wäre einfach: Man hätte sich um alles gekümmert und man hätte eine gepfefferte Rechnung gestellt. Das konnte Hans sich nicht leisten. Die meisten Kollegen hatten keine Zeit, um ihm zu helfen.

 

Er wusste nicht, was er mit den Sachen seiner Frau machen sollte, aber er weigerte sich, alles auf den Sperrmüll zu werfen. In einer Wohnung, die er sich hätte leisten können, gab es sicherlich keinen Platz für Erinnerungsstücke.

 

Es war schlimm, Ilse leiden zu sehen. Seit sie die Diagnose bekommen hatte, war er ständig auf der Suche nach Hilfe, selbst nachdem die Ärzte erklärt hatten, nichts mehr für sie tun zu können.

 

Er hatte nichts unversucht gelassen. Bald waren alle Familienersparnisse aufgebraucht und die Schulden machten ihre Aufwartung. Er versuchte immer wieder die Gedanken darüber zu verdrängen, wie viel er in seiner Verzweiflung an Scharlatane gezahlt hatte.

 

Die Bank war an solchen Details nicht interessiert und wollte ihr Geld zurück. Es war auch nicht von Belang, dass Hans den Kredit gar nicht hätte bekommen dürften. Die Wohnung als Sicherheit war überzeugend genug.

 

Er holte den Brief seiner Bank aus der Tasche. Darin stand nichts Neues. Schließlich war er dabei, als das Gericht der Klage der Bank für eine Zwangsvollstreckung stattgegeben hatte. Nun stand der Termin fest. Er hatte zwei Wochen, um sich eine neue Bleibe zu suchen.

 

Als er aus der Umkleide kam, war die Nachtschicht mit dem Putzen und Waschen der Fahrzeuge fertig. Die ersten Fahrer nahmen ihren Platz ein.

 

Hans ging zur Ausfahrt und winkte Pawel, der im Führerstand des Zuges auf Gleis 4 saß, zu. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Schnell durfte man in der Garage nicht fahren, aber beim Ausgang betrug der Bremsweg schon einige Meter.

 

Hans schloss die Augen und knüllte den Brief in seiner linken Hand langsam zusammen. Als er den Luftstrom des nahenden Zuges spüren konnte, sprang er.

 

Version 2