Von Rüdiger Marmulla

Liebes Tagebuch,

das neue Schuljahr hat begonnen. Lisa wird in Zukunft am Wochenende häufiger in Stuttgart sein. Ich muss mir für meine Freizeit eine neue Beschäftigung suchen. Und ich habe auch schon eine Idee. Heute Abend gehe ich in den Physikalischen Verein. Der ist direkt neben dem Senckenberg-Museum. Ich habe mich informiert. Nach einem Abendvortrag über das Sternenzelt kann man noch in der hauseigenen Sternwarte Beobachtungen am Nachthimmel machen. Das ist was für mich. Und vielleicht lerne ich auch neue Leute kennen.

Nächstes Wochenende kommt Brian nach Frankfurt, und Lisa wird ihn mir vorstellen. Mir ist ein bisschen flau im Magen, wenn ich daran denke. Aber da muss ich wohl durch. Brian persönlich zu begegnen, ist noch mal etwas anderes, als nur seinen Avatar anzuschauen. Ich habe Lisa noch nie so schwärmen gesehen. Brian hier, Brian da. Das nervt.

Und Papa ist auch ganz angetan von Heidi. Das könnte noch was mit den beiden geben. Das vierte Jahr nach Mamas Tod beginnt nun bald. Und ich fühle mich ein bisschen einsam.

Ich nehme mir das Bilderalbum heraus. Ich schaue die Fotos von meinen Geburtstagen an. Mama hatte jedes Jahr einen Kuchen gebacken, auf den sie mit Zuckerguss immer „Lars“ geschrieben hatte. Neben meinem Namen waren auch stets Kerzen auf dem Kuchen. Das Bild von meinem ersten Geburtstag hat es mir besonders angetan. Mama hat mir einmal erzählt, dass ich direkt nach dem Foto meine Hand in die Kerzenflamme gehalten habe und danach Hannahs Spezialbrandsalbe bekommen habe. Ich vermisse Mama heute Abend mehr als sonst. Es kommt mir so vor, als wäre nur ich ganz allein übriggeblieben. Ich sollte jetzt in die Küche gehen und mir einen Kakao machen. Ein Kakao könnte jetzt helfen.

 

***

 

„Bist du neu hier?“

„Ja. Ich bin Lars. Wie ist dein Name?“

„Ich heiße Bernd.“

„Wie lange kommst du schon in den Physikalischen Verein?“

„Seit einem Jahr. Hast du ein eigenes Teleskop?“

„Ja. Einen Newton-Reflektor.“

„Ich habe einen Kepler-Refraktor.“

„Oh. Der war bestimmt sehr teuer.“

„Naja, ich habe lange gespart. Und ich habe ihn gebraucht gekauft.“

„Wie ist es hier so im Physikalischen Verein?“

„Ziemlich cool. Heute Abend ist der Vortrag. Und mittwochs musst du dir vormerken. Da ist am Nachmittag Schülerkreis. Da sprechen wir in unserer Bibliothek über Physik, Chemie und die Sterne. Wir sind meist so etwa zwölf Schüler. Wir haben da sogar noch richtige Bücher. Und irgendwann musst du mit uns einmal zur Hans Ludwig Neumann-Sternwarte auf dem Kleinen Feldberg rausfahren. Da kann man noch besser als hier in Frankfurt beobachten.“

„Wie lange gibt es den Verein schon?“

„Der Verein wurde 1824 gegründet. Goethe hat übrigens die Gründung des Vereins schon zehn Jahre zuvor mit Nachdruck angeregt.“

Johann Wolfgang. Der verfolgt mich seit dem „Werther“, den wir zurzeit in der Schule lesen, überall auf Schritt und Tritt.

„Jetzt geht’s los“, flüstert Bernd mir zu.

Ein gut gekleideter Herr erscheint unten im Saal. „Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu unserem Vortragsabend im Physikalischen Verein. Heute sprechen wir über das Leben und Vergehen der Sterne. Und ich werde ihnen sagen, warum sie sich unbedingt diesen Satz merken sollten: Oh Be A Fine Girl Kiss Me Right Now Sweetheart.“

„Das ist die Eselsbrücke für die richtige Reihenfolge der Spektralklassen der Sterne“, flüstert Bernd mir zu und zieht die Augenbrauen vielsagend nach oben.

Und ich muss schon wieder an Lisa denken. Und an den Kussunterricht, den sie mir zu meinem siebten Geburtstag gegeben hat. Nicht nur Johann Wolfgang verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Auch Lisa.

Nach dem Vortrag gehen wir noch hinauf in die Kuppel der Sternwarte. „Das ist das größte Teleskop, das ich bis jetzt jemals gesehen habe.“

Bernd lächelt mich an. „Warte ab, bis du unser Teleskop auf dem Kleinen Feldberg gesehen hast.“

„Mensch Bernd. Es ist schon 22 Uhr. Ich sollte heimfahren.“

„Stimmt. Für mich wird es auch Zeit.“

„Wo wohnst du?“

„In Offenbach.“

„Wie kommst du nachhause?“

„Ich nehme die U-Bahn von der Messe. Die fährt direkt nach Offenbach.“

„Cool. Da komme ich mit dir. Ich muss am Hauptbahnhof in den Bus nach Sachsenhausen umsteigen.“

Wir gehen zusammen zur U-Bahn-Station am Messeturm. Es ist ganz klar, dass wir dabei über unsere bisherigen Sternenbeobachtungen fachsimpeln. Am Hauptbahnhof trennen sich unsere Wege. Ich steige aus. Und ich warte vor dem Bahnhof.

Und dann wird es plötzlich echt gruselig. Ein Grufti kommt zu mir. „Ich wohne nicht weit von hier. Kommst du?“

Ich erschrecke. Wohin? Ich drehe mich weg, als hätte ich nichts gehört.

Da kommt schon der nächste. „Komm. Ich gebe dir zwei Grüne.“

„Nein“, ist alles was ich rausbekomme. Ich drehe mich um. Und da steht schon wieder dieser Grufti.

Der Bus kommt. Meine Rettung. Ich fahre heim. Die zwei sind weg. Ich hätte echt Panik bekommen, wenn die auch noch in den Bus eingestiegen wären. Auf der Busfahrt muss ich mich erst einmal erholen.

Papa kommt mir entgegen, als ich zuhause eintreffe. „Du warst lange weg, Lars. Ist etwas passiert?“

„Ach, die U-Bahn hat sich verfahren, Papa.“

Papa kratzt sich am Kopf. Er sieht nachdenklich aus. Aber dann kehrt er ins Wohnzimmer zurück. Heidi ist da. Schon wieder.

 

***

Liebes Tagebuch,

ich wollte Papa nicht erzählen, was sich am Hauptbahnhof zugetragen hat. Wenn er wüsste, was da los ist, dann ließe er mich nicht mehr zum Physikalischen Verein gehen. Da kam mir die Geschichte von der U-Bahn, die sich verfahren hat, gerade recht.

Nur Lisa habe ich mich am Montag anvertraut. Sie schaute mich ganz ernst an. Dann sagte sie, am Hauptbahnhof sei der Kinderstrich. Ob ich das nicht gewusst hätte.

Ich fragte nach, ob es wirklich Jungs gäbe, die da mitgehen.

Da sagte Lisa, das sei doch klar. Und am Wochenende sei dort Hochbetrieb. Ich sollte mir was einfallen lassen, wenn ich weiter in den Physikalischen Verein gehen wolle.

Jetzt musste ich wieder kreativ werden. Von nun an nahm ich mir immer einen Klassenkameraden mit, wenn ich in den Physikalischen Verein ging. Seit wir zu zweit dastehen, sprach mich kein Mann mehr an. Zu zweit ist es nachts einfach besser am Hauptbahnhof. Und seitdem verfahren sich in Frankfurt auch nicht mehr die U-Bahnen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.