Von Marco A. Rauch

Ich sehe einen Mann. Er trägt eine Basecap, tief ins Gesicht gezogen, läuft er durch die Fußgängerzone. Seine Augen wandern beständig von links nach rechts, erfassen jedes Hindernis, jedes sich bewegende Element in seiner Umgebung. Ich sehe ihm zu, wie er vorausschauend eine Spur durch das Gewühl findet, fast wie eine Fledermaus, die sich durch zurückgeworfene Schallwellen orientiert, orientiert er sich an Hindernissen, die ihm entgegenkommen. Ein Schlenker nach links, drei Schritte vorwärts, eine viertel Drehung auf dem Absatz und fünf Schritte geradeaus. Ein Blick über die rechte Schulter, läuft er an den Sitzbänken vorbei, die links und rechts der breiten Fußgängerzone stehen, greift in die Tasche seiner Cargohose und setzt die Maske auf. Mit dem Fuß öffnet er die Glastüre zu den Arcaden, dem alle Wünsche erfüllenden Einkaufstempel im Herzen von Erlangen.

Hier setzt sich der zielgerichtete Hindernislauf fort, ich sehe den Mann, wie er sich einen Weg um einzelne Menschen bahnt, immer darauf bedacht, niemandem zu nahe zu kommen, keine Berührung zu riskieren, möglichst reibungslos zum Ziel zu gelangen, im wahrsten Wortsinn. Vor dem Fahrstuhl bleibt er stehen, wartet, richtet seine Basecap, erfasst die Umgebung. Da sind Treppen, dort Notausgänge. Mit unauffälligen, geübten Blicken prüft er ein älteres Pärchen, das sich zu ihm gesellt. Mit ihnen bildet er eine Wartegemeinschaft. Sie verlagert sich kurz darauf ins Innere des Fahrstuhls, er drückt auf P2, die beiden Anderen halten Abstand.

Es entsteht kein Gemeinschaftsgefühl, obwohl alle drei Teil einer Gemeinschaft sind, wenn auch nur für 19 Sekunden. Dann nämlich öffnen sich die Türen, der Plastikchip rauscht durch die sorgsam geformten Biegungen der Gasse, eine Anzeige signalisiert den Preis des Aufenthaltes. Ich sehe ein Augenrollen im Gesicht des Mannes, während seine Hand das Zwei-Euro-Stück in den Schlund der geldgierigen Maschinerie stopft. Seine andere Hand wartet am beleuchteten Ausgabebecken, das mit einer dünnen Kunststoffscheibe vor Feuchtigkeit geschützt ist. Kurz darauf plumpst der Plastikchip ins Becken, verschwindet in der Hosentasche des Mannes, der klar orientiert den Wartepunkt seines Fahrzeugs lokalisiert hat und darauf zusteuert. Als sich die Türe des Wagens schließt, sehe ich den Mann, der seine Basecap vom Kopf zieht und in den Fußraum der Beifahrerseite wirft. Er atmet tief durch, sieht sich um, startet den Motor und verlässt das Parkdeck auf dem Gebäude.

Er fährt genau so, wie er gelaufen ist. Flott, vorausschauend, stets alles im Blick. Jede Nebenstraße wird erfasst, jede Bewegung registriert, jedes Bremsmanöver, jedes Vorfahrtnehmen Anderer wird antizipiert. Es wird eine reibungslose Fahrt werden, wie immer. Auch im Verkehr ist man Teil einer Gemeinschaft, es gilt, Rücksicht nehmen, aufeinander aufpassen. In der Nähe seiner Wohnung hält der Mann vor einer Apotheke, setzt die Basecap auf den Kopf und geht hinein. Er löst das Rezept ein, auf dem ein Name steht: Tobias Rätz. Es kostet fünf Euro Zuzahlung, er nimmt es hin. Sagt sogar danke zu der Apothekerin, soziales Vermögen ist ihm wichtig. Er ist sehr stolz darauf, dass er trotz allem seine Sozialkompetenzen niemals verloren hat. Sie unterscheiden ihn von Anderen. Monster zeichnen sich durch Taten aus, oder?

Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht, der Gedanke ist tröstend. Im Auto atmet Tobias tief durch, fühlt sich erleichtert. Fast geschafft. Nach ein paar weiteren Minuten Fahrt parkt er den Wagen und geht zum Haus. Unterwegs, die Basecap auf dem Kopf, wandert sein Blick aufmerksam von links nach rechts, nichts entgeht seinen wachsamen Augen. Auch nicht die Werbung in seinem Briefkasten, die ungelesen im Rewe Einkaufskorb landet, unterhalb der Briefkästen. Von der Hausgemeinschaft einvernehmlich beschlossen, leert ihn aus, wer gerade vorbeiläuft, wenn er voll ist. Heute ist der Korb erst zu einem Drittel gefüllt. Das hat noch Zeit. Mit schnellen Schritten läuft Tobias ins zweite Stockwerk, öffnet die Türe und schließt sie so leise wie möglich. Niemand soll gestört werden. Alles soll reibungslos verlaufen. So wie dieser Tag, der wie alle anderen war, bisher. Reibungslos. Ich sehe Tobias zu, wie er seine Schuhe auszieht, sich auf das Sofa im Wohnzimmer setzt, einen Schluck Wasser aus der Flasche trinkt. Wie er tief durchatmet, durch seine braunen Haare fährt, die Erleichterung ist ihm anzusehen. Er wirkt erschöpft. Mit einem Griff zieht er das Medikament aus seiner Hosentasche, betrachtet den Handelsnamen. Quetiapin. Der Ausdruck auf seinem Gesicht lässt vermuten, er weiß nicht, ob er sich freuen soll.

Er kann damit gut schlafen, hat keine Alpträume mehr. Auch keine Flashbacks. Aber es wirkt sehr lange in den Tag hinein, macht ihn müde und tranig, wie er es nennt. Dadurch fühlt er sich unwohl, wenig leistungsfähig. Bedeutet Selbstwirksamkeit nicht auch Wehrhaftigkeit? Für ihn schon. Manchmal denkt er, es ist ein schmaler Grat. Schlaf ist ihm wichtig, er schläft gerne. Wenn er aber wach ist, hört er die Schreie, eigentlich fühlt er sie. Sie mahnen ihn, vorsichtig zu sein, wachsam. Stets auf der Hut, es muss alles reibungslos ablaufen. Durch Reibung entsteht Wärme und die will er nicht. Manchmal schon, manchmal sehnt er sich danach. Aber die Form der Wärme, die durch Reibung entstehen kann, im Leben, ist bedrohlich, gleichzusetzen mit Ärger. Ein Autounfall, nicht auszudenken, welche Komplikationen das mit sich führen würde. Diskussion, Polizei, vielleicht Gerichtsverfahren, Versicherung, alles Dinge, die nicht kontrollierbar sind. Dinge voller Gefahren und Stolpersteinen. Auch menschliche Wärme birgt Gefahren, sie kann abrupt enden, kann zu Enttäuschung führen. Gemeinschaft kann Fluch und Segen sein, das weiß er. Da er aber Dinge nicht mag, die nicht vorhersehbar sind, bleibt Tobias alleine. Mit sich. Er hat ja die Hausgemeinschaft und immerhin, hier und da begegnet man sich, wechselt ein paar nette Worte, das erhöht das eigene Wohlgefühl. Soziale Interaktion ist wichtig, das spürt er, das genießt er. In Maßen.

Doch die Alarmanlage lässt ihm keine Ruhe und immer wieder fragt er sich, wie er sie abstellen kann. Er steht auf und geht zu einem Regal, zieht einen Aktenordner heraus und setzt sich wieder. Auf der letzten Seite sieht er die Bestandsaufnahme, wie er den Text insgeheim nennt. Die Therapeutin hat ihm die Aufgabe gestellt, wichtige Stationen seines Lebens aufzuschreiben. Sie wollte wissen, wie er sich selbst sieht. Das denkt er. Vermutlich war es nicht ganz falsch, immerhin hat er viel gelernt in den 80 Stunden. Das ist die Obergrenze, mehr zahlt die Krankenkasse nicht, innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren. Notfalls müsste er in eine Klinik, das hat sie gesagt. Er liest ein paar Zeilen, schüttelt den Kopf.

Tobias sieht den kleinen Jungen, wie er geprügelt und geschlagen wird, von fünf älteren Jungs. Da ist er gerade mal elf Jahre alt. Wie er hinterher auf dem Fahrrad nach Hause fährt, überfordert, sich unter die Dusche stellt. Ins Gesicht und in die Haare haben sie ihm gespuckt. Wie er sich schämt und nicht weiß, warum sie das gemacht haben. Er hat doch niemandem was getan. In seinem Herzen bildet sich ein kleiner, schwarzer Fleck. Der wird größer im Laufe der Zeit. Und er redet, immer wieder sagt er „Du bist wertlos, du bist Dreck!“

Der Junge reift heran und mit ihm diese seltsame Unruhe, die Unsicherheit, die immer weiter wächst und gedeiht. Wie er sich immer unwohler fühlt, unter Menschen, in Gruppen, bei Feiern. Er braucht Beruhigung, Alkohol, der hilft. Bis die Polizei ihn stoppt, der Führerschein ist futsch. Doch eigentlich geht die Party jetzt erst richtig los, alleine. Arbeitslos und Spaß dabei. Der erste Entzug lässt nicht lange auf sich warten, 14 Tage kaltes Grausen in der Klinik. Danach geht das Leben weiter, alleine. Irgendwie.

Er blättert zum Anfang, zur ersten Seite. Da ist die Bestandsaufnahme am Ende der Therapie. Wie er sich jetzt sieht. Er liest ein Stück Text.

Durch die Therapie weiß ich, ein traumatisches Erlebnis, das das Gefühl von Lebensgefahr beinhaltet, kann zu Folgestörungen führen, wenn das Trauma nicht behandelt wird. Man spricht dann von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Amygdala, Alarmanlage im Gehirn, wird hyperaktiv. Sie schreit unentwegt, warnt vor Gefahr. Jedes Geräusch, jede Bewegung im Sichtfeld löst Stress aus. Überall ist Gefahr, Menschen sind gefährlich. Dadurch ändert sich mein Verhalten, man spricht von Vermeidungsverhalten. Ich kann den Kreislauf durchbrechen, indem ich die Angst überprüfe. Dazu muss ich rausgehen. Wenn ich es oft genug tue, ändert sich mein Gefühl, die Alarmanlage wird leiser. Irgendwann wird es wieder normal für mich sein, unter Menschen zu gehen.

Tobias legt den Aktenordner auf den Tisch. »Sie hat leicht reden«, brummelt er. »Wie soll ich denn unter Menschen gehen, wenn überall Gefahr ist? Der Axtangriff in Würzburg, Sprengstoffanschlag in Ansbach, München im Olympia-Einkaufszentrum, ständig überall Gefahr! Es reicht schon, wenn ich jedes Mal durch die Fußgängerzone muss, bloß wegen dem Rezept. Welcher Psychiater legt seine Praxis mitten in die Innenstadt?«

Wütend steht Tobias auf und geht zum Fenster. Nach einigen Sekunden brummelt er: »Ich bleibe daheim. Hab ja meine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Hier bin ich sicher.«

 

Ich sehe einen Mann, der gefangen ist, der sich hat gefangen nehmen lassen. Die Solidargemeinschaft wird für ihn aufkommen, ein kleiner Trost. Immerhin hat sie ihn nicht beschützt. Er hat seine eigenen Fakten über den Stand der Dinge und traut sich nicht, sie zu überprüfen. Dabei kann nur er alleine die wichtigste Frage beantworten: Sind diese Fakten alternativlos?

 

 

Seit ich ihm zugewiesen wurde, ist mein Job so langweilig. Aber morgen muss er unbedingt raus, ich lass mir was einfallen. Ich weiß aus sicherer Quelle, dann trifft er auf seine zukünftige Frau. Morgen darf ich endlich Schutzengel sein.

 

 

 

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