Von Agnes Decker
„Ich habs. Mann, eh, ich habs. Ich werd´ verrückt.“ Ennos Stimme dringt schmerzhaft in mein Ohr. Mit einer heftigen Bewegung schiebe ich den Schreibtischstuhl nach hinten. In der Küche, dem Gemeinschaftsraum unserer FünferWG, die unmittelbar an mein Zimmer grenzt, schreien mehrere Personen wild durcheinander.
„Ich fasse es nicht.“ Das ist Chrissi, Studentin, Wirtschaftswissenschaften.
„Irre. Wahnsinn.“ Die Stimme gehört Rollo, Informatiker und sicher nicht weit von Chrissi entfernt. Die beiden kleben regelrecht aneinander.
Jetzt reden sie gleichzeitig. Eine dritte Stimme, leiser als die anderen, mischt sich ein. Sie gehört Miro, Politikwissenschaften, 5. Semester. Dazwischen brüllt Enno, unser Computerspezialist, abgebrochener Sportstudent und jetzt arbeitsloser Nerd, sein: „Ich habs.“ Immer wieder. „Ich habs.“ Den Rest kann ich nicht verstehen. Die Stimmen fließen zu einem Einheitsbrei zusammen, schwellen auf und ab. Wie ein Bienenschwarm, der sich zum Angriff rüstet.
Es macht keinen Sinn mehr, weiter zu lernen. Ich bin vollkommen raus. In der Küche klappert jetzt Geschirr oder sind es Gläser? Ich stehe auf, gehe zur Zimmertür und reiße sie auf. Mit dem Rücken zu mir sitzen sie am Küchentisch, Enno, Rollo und Chrissi, und Miro, der eigentlich Wladimir heißt und dessen Eltern irgendwann einmal aus Sibirien eingewandert sind. Alle starren auf Ennos PC, der in der Mitte des Tisches steht, vor einer Flasche und mehreren Gläsern. Niemand hat wahrgenommen, dass ich die Küche betreten habe, so beschäftigt sind sie.
„Du bist wo drin?“, brülle ich, um die Lautstärke der Diskutierenden zu übertönen. Ich trete näher, lege Enno die Hand auf die Schulter und beuge mich vor. Ein graues Kästchen mit vier Feldern, in die Zahlen eingegeben sind, inmitten eines mir nicht bekannten Logos.
„Da bin ich drin.“ Enno zeigt auf den Bildschirm. Dann dreht er sich zu mir um. Seine hellen Locken sind verschwitzt und zerzaust. So, als hätte er ständig darin herumgewühlt. „In RT, Mann. He, Corry…“ Das bin ich. Cordula Schmitter, Kunst und Geschichte im letzten Semester, Corry für meine WG, Angel 2.0 für meine Follower, Hunterlady für Twitter, um nur die wichtigsten zu nennen.
„He, Corry“, sagt Enno noch einmal und fasst nach meiner Hand, die ich schnell wieder aus seiner feuchten entferne. „Ich kann das russische Fernsehen komplett lahmlegen. Ich, ganz persönlich. Ich fasse es nicht.“ Seine Augen, die unruhig im Raum herum wandern, sind weit aufgerissen.
„Oder, du kannst es nutzen und Beiträge einstellen, was ich besser finde.“Chrissi spricht leise und konzentriert. „Vielleicht den Beitrag von Arnie. Viele Jugendliche stehen auf ihn, auch in Russland.“ Sie schaut sich unsicher um.
Miros Stimme reißt mich aus meinen Gedanken: „Sie meint den YouTube-Beitrag von Arnold Schwarzenegger an die russische Bevölkerung.“ Er lächelt in meine Richtung. „Habs schon mehrmals gesehen. Schon gut, an einigen Stellen aber arg kitschig. Und, bis der zur Sache kommt, ist der Clip längst entdeckt und entfernt worden.“
„Dann müssen wir ihn kürzen. Corry, wie wärs?“ Chrissi schaut mich auffordernd an. Musikvideos oder Filmclips zu schneiden, ist eine meiner Spezialitäten. Oder vielmehr das Einzige, was ich in dieser WG beisteuern kann. Technisch gesehen.
„Ich schalte es ab.“ Enno starrt auf den Bildschirm. „Ich schalte die ganze Kacke einfach ab.“ Dann verschwindet er mit dem Kopf unter der Tischplatte und kramt in seiner abgewetzten Ledertasche herum, die er immer bei sich hat. Als er wieder auftaucht, halte ich den Atem an.
Enno steht da, mit geradem Oberkörper. Die Arme links und rechts an die Naht seiner Jeans gelegt und sieht uns an, einen und eine nach der anderen. Er trägt eine weiße Maske, auf deren kantigen Konturen mit wenigen Strichen ein lächelndes Gesicht aufgemalt ist, mit einem markanten Schnurrbart über den schmalen Lippen. Seine Augen sind das einzig Lebendige darin. Mir wird kalt. Unheimlich sieht er aus. Macht mir Angst. Ich presse meine Hände fest zusammen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Chrissi den Arm ihres Freundes umklammert. Dieser blickt Enno mit offenem Mund an. Nur Miro sitzt genauso da wie vorher, wirkt entspannt. In seinen Augen sehe ich ein kurzes Aufleuchten.
„Wir haben Russland den Cyber-Krieg erklärt.“ Ennos Stimme klingt dumpf hinter seiner Guy Fawkes-Maske. „Schon vor ein paar Wochen.“
Rollo räuspert sich. „Wir? Enno. Was bedeutet das? Du bist doch nicht…? Doch das bist du. Du bist jetzt bei „Anonymous“. Mensch, Enno.“ Er schlägt mit den flachen Händen auf den Tisch. „Anonymous“. Bist du total verrückt geworden?“
Enno lässt sich auf seinen Stuhl sinken. Wie in einem Comic sieht es aus, als die weiße Maske mit dem lächelnden Mund langsam wie in Zeitlupe nach unten schwebt. Das schwarze Shirt, das einen scharfen Kontrast zu seinen bunt tätowierten, muskulösen Armen bildet, verstärkt die Unwirklichkeit dieses Momentes noch.
Enno zieht die Maske herunter. Sein Gesicht strahlt jetzt eine Entschlossenheit und Härte aus, die ihn älter macht, als er ist. „Ich bin schon länger dabei.“ Er spricht langsam und akzentuiert. Auch seine Stimme scheint erwachsener geworden zu sein. „Anonymous hat „Russia Today“ nicht nur gehackt und zeitweise lahmgelegt, sondern auch Bilder von zerstörten Städten und toten Zivilisten in die Nachrichtensendung eingeblendet. Die Internetseite von „Iswestija“, einer landesweiten, russischen Tageszeitung wurde ebenfalls gehackt. Dort erschien das Banner mit dem Aufruf: „Wir fordern Sie dringend auf, diesen Wahnsinn zu stoppen, schicken Sie Ihre Söhne und Ehemänner nicht in den sicheren Tod. Putin bringt uns zum Lügen und bringt uns in Gefahr.“ Enno wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht ist bleich. Er wirkt erschöpft, als hätte er zu wenig geschlafen.
„Und, was hat es gebracht?“ Rollo hat nach der geöffneten Wodkaflasche gegriffen, die, gemeinsam mit den Wassergläsern, bisher unbeachtet in der Mitte des Küchentisches gestanden hatte. Er gießt eines der Gläser halbvoll und prostet Enno zu. Dann setzt er es an und trinkt es in einem Zug aus. „Noch jemand?“, fragt er und lässt die Flasche vor unseren Gesichtern kreisen. Als niemand antwortet, füllt er das Glas erneut und stellt es mit einer harten Handbewegung auf die Tischplatte.
„Letzte Woche wurden Namen, Adressen, Passnummern von russischen Soldaten veröffentlicht. Jeder, der an diesem Krieg teilnimmt, gehört vor ein Kriegsverbrecher-Tribunal. Unserer Meinung nach.“ Enno spricht wie in Trance, berichtet über Attacken von Banken und Konzernen, und der Macht des weltweiten Hacker-Kollektivs, das immer größer werde angesichts des Krieges. „Und jetzt“, Enno deutet auf seinen PC, „hab ich es geschafft. Ich bin drin. Versteht ihr. Ich selber.“ Er wischt sich mit der flachen Hand über seine feuchte Stirn.
„Du weißt, dass es kriminell und gefährlich ist, was du dort tust. „CCC“ warnt ausdrücklich davor.“ Chrissis Stimme, die, wenn sie sich aufregt, in unangenehme Höhen aufsteigt, wird immer schriller.
Ich würde mir am liebsten die Ohren zuhalten. Überhaupt, am liebsten möchte ich mit dem Ganzen nichts zu tun haben. In meinem Zimmer sitzen und für meine Prüfungen lernen.
„Aber einen Videoclip in ein gehacktes Programm einzuschleusen, findest du nicht kriminell? Chrissi, denk doch mal nach. Ihr alle. Vor allem du, Enno. Und überhaupt, mit Cyberattacken ist der Krieg nicht aufzuhalten. Damit gibt man Putin Argumente, sich gegen andere Länder zu verteidigen.“ Rollo ist aufgestanden und läuft, sein fast wieder leeres Glas in der Hand, zwischen Tisch und Arbeitsplatte hin und her. „Und vergesst nicht, dass unsere Hacker-Ethik darauf ausgerichtet ist, defensiv zu agieren und eine „Cyberresilienz“, eine Widerstandsfähigkeit der Systeme, aufzubauen, damit Angriffe verpuffen. Enno das hast du doch bisher auch vertreten. Aber, jetzt scheinst du ja nicht mehr in unserer Liga zu spielen.“
„Die Ukraine hat uns, ich meine, hat „Anonymous“ darum gebeten.“ Miro, der bisher geschwiegen hat, hält jetzt ebenfalls eine Maske in der Hand. „Defensives Abwehren alleine reicht nicht. Nicht mehr. Wir müssen endlich handeln. Wir, alle Hacker weltweit, die wir eine unglaubliche Macht besitzen, wenn wir sie nutzen. Und das wollen wir.“ Auch er scheint gewachsen, wie er da sitzt. Aus dem mickrigen, viel zu dünnen Jungen ist ein Mann geworden, alleine durch seine Haltung. Jetzt steht er auf, steht uns gegenüber, so, dass wir zu ihm hochschauen müssen. „So wie ich, denken Menschen in der ganzen Welt. Auch viele junge Russen.“
Zwei gegen zwei, denke ich. Zwei, die sich zu den radikalen Hackern von Anonymous bekennen und zwei, die immer noch auf der Seite der Defensiven des ChaosComupterClubs stehen. Und eine, so wie ich, die sich zerrissen fühlt, verwirrt und auch traurig. Wegen dem Krieg, der Zerstörung, den vielen Toten, aber auch wegen uns, die wir nie mehr die Gemeinschaft sein werden, die wir einmal waren.
Enno schaut mich an. „Traurigkeit lähmt die Energie. Wir müssen mit unserer Wut gehen“, sagt er. Als könne er meine Gedanken lesen.
„Ich bin eher für Aufklärung der Bevölkerung. Wir sollten den Clip von Arnold Schwarzenegger einstellen. Gekürzt natürlich und mitten in die Nachrichtensendung.“ Chrissi hat sich jetzt ebenfalls einen Wodka eingeschenkt und stürzt ihn hinunter.
„Ich schalte es ab.“ Das ist wieder Enno. „Verdammt nochmal. Ich persönlich schalte das russische Fernsehen ab. Damit niemand mehr seine Lügen anhören, seine gefakten Bilder anschauen muss.“
Das ist das letzte, was ich höre. Dann ziehe ich meine Zimmertür hinter mir zu.
Es ist Tag 44 von Putins zerstörerischem Krieg gegen die Ukraine. Wie schön wäre es, wenn ein Videoclip von Arnold Schwarzenegger die Menschen vor einem 3. Weltkrieg retten könnte. Die Hoffnung stirbt auf jeden Fall zuletzt. Und mit ihr die Träume.
Quellen: Frankfurter Rundschau vom 25.2.2022 ff, 8.4.2022 Websites: Anonymous, ChaosComputerClub
Version 2
9787 Zeichen
Und hier ist der Link zu dem Videoclip: https://www.youtube.com/watch?v=g7nf5jYa26g
Und hier ist der Link zu dem Videoclip: https://www.youtube.com/watch?v=g7nf5jYa26g