Von Katharina Rieder

Middleton Law School, Montagmorgen

Professorin Summers betritt den Hörsaal. Außer ihren Highheels, die auf dem Parkettboden klackern, ist es totenstill. Die Studierenden sehen gebannt auf die Strafverteidigerin, die bisher so gut wie alle Fälle vor Gericht für sich entscheiden konnte. 

„Weiß der Teufel, warum Sie bei mir sind, aber mit Ihrem Karma ist definitiv etwas nicht in Ordnung!“ Summers deponiert ihre Handtasche schwungvoll auf dem Pult. „Ich unterrichte Sie im Fach Einführung in das Strafrecht oder wie ich es gerne nenne: ‚Wie man mit Mord davonkommt‘!“

Summers knipst den Beamer an. Auf der Wand hinter ihr poppt das Foto einer rothaarigen Frau mittleren Alters auf. „Die ‚Naproxen-Mörderin‘, Ms. Thompson. Wer von Ihnen kann uns die Fakten erzählen?“ Über ein Dutzend Hände schießen in die Höhe. Summers überblickt die Anwesenheitsliste. „Ja, Sie mit dem karierten Hemd. Bitte!“

„Beim Staat gegen Ms. Thompson geht es um versuchten Mord. Die Assistentin, Ms. Thompson, arbeitete beim späteren Opfer Mr. Lotts, Geschäftsführer einer großen IT-Firma. Sie war nicht nur seine zweite Assistentin, sondern auch seine Geliebte.“

„Was geschah, als Mr. Lotts langjährige Ehefrau von der Affäre erfuhr?“

„Er trennte sich von seiner Assistentin Ms. Thompson und versetzte sie in den Empfang. Worauf diese in der Mittagspause heimlich seine Blutdrucktabletten gegen das Schmerzmittel Naproxen austauschte, gegen das er allergisch war.“

„Wie ging es weiter? Wer weiß das?“ Summers zeigt auf eine der Studentinnen in der letzten Reihe. 

„Mr. Lotts erlitt einen anaphylaktischen Schock. Sein Hals schwoll zu und er war mehrere Minuten ohne Sauerstoff. Seiner ersten Assistentin Mrs. Rover, gelang es schließlich, ihn zu reanimieren.“

„Sehr gut. Ich habe vor zwei Tagen diesen Fall übernommen. Sie haben 48 Stunden Zeit sich eine Verteidigungsstrategie zu überlegen. Überraschen Sie mich!“

Ein Raunen geht durch die Reihen der Studierenden. 

„Ruhe! Diese Aufgabe wird mir bei der Entscheidung helfen. Auch in diesem Jahr werde ich wieder vier von Ihnen auswählen, die mit mir an echten Fällen arbeiten dürfen!“

***

Middleton Law School – zwei Tage später

Professorin Summers setzt sich auf das Pult im Hörsaal. Ihre Beine baumeln in der Luft, mit den Händen stützt sie sich an der Tischkante ab. Neben dem Pult stehen zwei ihrer Mitarbeiter. 

„Wer möchte mir zuerst seine Verteidigungsstrategie im Fall der ‚Naproxen-Mörderin‘ mitteilen?“ Summers schaut in die Runde und nickt einem ihrer Studenten auffordernd zu.

„Wir präsentieren der Jury eine neue Verdächtige: Mr. Lotts Ehefrau. Sie war wütend und enttäuscht, hatte Zugang zu seinem Büro und wusste, gegen welche Schmerztabletten er allergisch war. Gibt es eine bessere Rache als der Geliebten seines Mannes den eigenen Mord anzuhängen?“

Summers berät sich kurz mit den Mitarbeitern ihrer Kanzlei. „Setzen Sie sich. Sie sind eine Runde weiter! Wer ist der Nächste?“ 

Eine Studentin erhebt sich von ihrem Platz: „Es war ein Versehen, sie hat die Tabletten einfach nur verwechselt! Ein blöder Unfall!“

„Sehr unwahrscheinlich, dass wir damit durchkommen!“ Die Professorin runzelt die Stirn. 

Zwei Stunden später wurden alle Strategien vorgetragen und Summers ergreift wieder das Wort: „Keine ihrer Vorschläge war besser als meiner! Und dieser lautet …“ Die Professorin wendet sich der Tafel an der Wand zu, nimmt eine Kreide in die Hand und schreibt, während sie weiterspricht: „1. ‚Diskreditiere die Zeugen!‘, 2. ‚Präsentiere einen neuen Tatverdächtigen‘. Unser neuer Tatverdächtiger ist Mr. Hope, Mr. Lotts eifersüchtiger Geschäftspartner und Konkurrent. 3. ‚Begrabe die Beweise!’“

„Aber Mr. Hope hat doch überhaupt nichts mit dem Mordversuch an Mr. Lotts zu tun!“, wirft eine Studentin mit rotem Pulli ein. „Ist es nicht viel einleuchtender, dass es tatsächlich Mr. Lotts ehemalige Assistentin war?“

„Höre ich hier etwa Zweifel aufkommen? Als Strafverteidiger ist es unsere Aufgabe, für alternative Fakten zu sorgen. Wenn Sie jetzt schon Gewissensbisse bekommen, verlassen Sie am besten sofort meinen Kurs. Unser Auftrag ist nicht, die Wahrheit herauszufinden, sondern der Jury eine nachvollziehbare Version zu verkaufen.“

***

Im Gerichtssaal

Der Gerichtssaal ist zum Bersten voll. Summers sitzt neben ihrer Mandantin, der sogenannten „Naproxen-Mörderin“, Ms. Thompson, auf der linken Seite der Richterin. Mrs. Lotts, ihr pflegebedürftiger Mann, der seit dem Vorfall im Rollstuhl sitzt, und dessen Anwalt haben auf der rechten Seite Platz genommen. 

Mr. Lotts erste Assistentin wird in den Zeugenstand gerufen. Summers erhebt sich. „Mrs. Rover, wie war Ihr Verhältnis zur Angeklagten?“ 

„Nun, distanziert, aber freundlich.“

„War es nicht eher so, dass Sie ein erhebliches Problem mit ihrer Kollegin hatten?“ Strafverteidigerin Summers nimmt einen Zettel aus einem auf ihrem Tisch liegenden Aktenordner. „Beweismittel 1. In dieser Nachricht an einen Kollegen bezeichnet Mrs. Rover, Ms. Thompson als ‚faule Schlampe‘ und ‚Vollidiotin‘. Ich zitiere ‚… die eine Abreibung verdient hat!‘“

„Ich gebe zu, ich war an diesem Tag stinksauer auf sie! Aber ich würde doch nie …“

„Da haben Sie einfach eine von Ms. Thompson Schmerztabletten gegen Mr. Lotts Blutdruckpräparat getauscht! So war es doch, Mrs. Rover!“

„Einspruch! Reine Mutmaßung!“, entrüstet sich Mr. Lotts Rechtsanwalt.

„Stattgegeben! Streichen Sie das aus dem Protokoll!“, erwidert die Richterin. 

In diesem Moment öffnet sich die Türe des Gerichtssaals und eine von Summers „glücklichen Vieren“ eilt mit einem Zettel in der Hand in den Raum. 

„Kurze Unterbrechung!“ Die Professorin nimmt das Blatt Papier entgegen. Die Studentin flüstert ihrer Dozentin etwas ins Ohr, dreht sich um und setzt sich neben ihren Studienkollegen in die erste Reihe. Strafverteidigern Summers räuspert sich und ergreift das Wort: „Mrs. Rover, Sie sind sicher, dass Sie am Tag des Unglücks eine gelbe Tablette auf Ms. Thompsons Schreibtisch gesehen haben? So gelb wie Mr. Lotts Krawatte heute?“ Mrs. Rover blickt zu Mr. Lotts, der eine blaue Krawatte trägt.

„Ja, so gelb wie diese Krawatte!“ 

Summers lächelt. „Das Problem ist nur, dass Mr. Lotts Krawatte blau und nicht gelb ist! Stimmt es, dass sie farbenblind sind, Mrs. Rover?“

„Aber ich weiß, was ich gesehen habe!“

„Kann es sein, dass die Tablette, die Sie auf Ms. Thompsons Schreibtisch gesehen haben, auch blau hätte sein können?“

Die Zeugin blickt zu Boden. „Ja!“

„Na also, keine weiteren Fragen!“

***

In einem Nebenraum des Gerichtssaales

„Was ist denn? Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe!“ Summers, die über einem Aktenordner gebeugt am Tisch sitzt, blickt in das Gesicht einer ihrer Studentinnen. 

„Entschuldigen Sie! Es ist wichtig. Ich habe gerade etwas auf der Damentoilette beobachtet …“

„Schießen Sie los!“

„Als ich in einer der Kabinen war, hörte ich die Türe gehen und linste durch einen schmalen Spalt. Ich sah unsere Mandantin am Waschbecken vor dem Spiegel stehen. Sie zog ihre Lippen mit einem rosafarbenen Gloss nach …“

„Kommen Sie zur Sache!“ 

„Mr. Lotts Ehefrau betrat den Raum. Und vielleicht hat es ja gar nichts zu bedeuten …“

„Jetzt stammeln Sie nicht so rum! Raus mit der Sprache!“

„Mrs. Lotts legte ihre Hand auf Ms. Thompson Schulter, drückte diese leicht und nickte ihr vertraulich zu!“

Summers geht im Zimmer auf und ab. Sonnenstrahlen fallen durch die bleiverglasten Fenster ins Innere. 

„Und wie soll uns diese Information weiterhelfen? Soll ich Mrs. Lotts in die Mangel nehmen, bis sie zugibt, dass sie die Affären ihres Mannes satthatte und sie gemeinsame Sache mit Ms. Thompson machte?“ Die Studentin mustert Summers Gesichtszüge. 

„Sie wussten das?“

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu! Unsere Aufgabe ist es, Ms. Thompson hier rauszuhauen! Wer also ist für Mr. Lotts anaphylaktischen Schock verantwortlich?“

„Mr. Hope, Mr. Lotts eifersüchtiger Geschäftspartner?“ 

„Richtig! Und jetzt sagen Sie das Ganze noch einmal überzeugender!“

„Mr. Hope war es.“

„Wer war es?“ Summers Stimme wird lauter. 

„Mr. Hope!“

„Sehr gut! Und jetzt gehen Sie zusammen mit mir zurück in den Gerichtssaal. Die Szene auf der Toilette hat nie stattgefunden!“

„3. ‚Begrabe die Beweise‘“ murmelt die Studierende, während sie Summers folgt. 

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Quelle: Netflix-Serie “How to get away with murderer” 1. Staffel / 1. Folge