Von Marianne Apfelstedt

 

Ich trauere. Mein Herz liegt bleischwer in der Brust. Der Tod ereilte sie in den Morgenstunden. Hilda wurde entführt und gemordet, direkt vor meinen Augen.

Von der Sonne verwöhnt, saß ich im Morgenmantel beim Frühstück auf unserer Terrasse. Ein Graureiher flog in den Garten, schritt in den Teich und steckte den schlangengleichen Hals samt Schnabel in das Wasser. Mit der Kaffeetasse noch in der Hand stürmte ich zum Teich, die schwarze Brühe hinterließ hässliche Flecken auf der Seide. Der Kopf des Untieres tauchte aus dem grünen Wasser empor und ich sah etwas weiß-orangenes in seinem Schnabel zappeln. Erzürnt warf ich meine Tasse nach dem Scheusal. Der Reiher schluckte seine Beute und verschwand mit wenigen Flügelschlägen in den blauen Sommerhimmel. Nicht schon wieder. Rasch streute ich einige Mehlwürmer in das Wasser. Otto zeigte sich zuerst an der Oberfläche. Unser Dickerchen war kein Kostverächter und holte sich gerne die eiweißreichen Snacks. Sina und Tina tauchten auf, kaum jemand konnte sie auseinanderhalten. Außer mir natürlich. Welche Mutter verwechselte schon ihre Kinder? Dann folgte Fredo der II., Emma und Dörte. Hilda fehlte. Der Liebling meines Mannes. Auf dem Sterbebett hatte ich Clemens versprochen, für die Brokatkarpfen zu sorgen. Zwei Jahre lang war ich erfolgreich, bis dieser Reiher sich unsere Lieblinge als Imbiss aussuchte. So konnte das nicht weitergehen, mir blieben nur noch wenige Kois. Erschöpft schlich ich ins Bad, nicht ohne einen Hilferuf an meine beste Freundin abzusenden. Als ich gerade meine Haut nach der Dusche mit der Lotion von Roid verwöhnte, klingelte es an der Haustüre, schnell schlüpfte ich in Hose und Shirt.

„Meine liebe Olga. Wie geht es dir nach deinem schrecklichen Verlust?“ Kaum hatte ich die Türe geschlossen, umfingen mich schon ihre weichen Arme, die mir bis zur Taille reichten. Ich legte meine Wange kurz auf ihre grauen Locken.

„Er hat Hilda erwischt“, schluchzte ich. Trudi zog mich in unsere Küche und schenkte mir erst mal einen Cognac ein. Nach dem Fünften trockneten die Tränen, dafür kamen uns die Worte schwerfällig über die Lippen.

„Türlich, ich sage dir, du brauchst eine Schscheuche. Wie Amanda wegen dennn den Amseln auf dem Kirschbaum. Da sitzt ne Katze auuus Plaste im Baum. Mit grünen Augen die funkeln, wenn sich was bewegt.“

„Eine Schscheuche im Teich, die die Reiher wegschscheucht. Genau!“

„Darauf noch ein Conjäckchen.“ Trudi schenkte nach und ich öffnete eine neue Flasche. Der Cognac wärmte Magen und Seele. Wir machten Pläne und tranken weiter, bis der Film riss.

Ich erwachte auf dem Sofa. Mir verschwamm die Sicht, als ich mich aufsetzte und Säure bahnte sich meine Speiseröhre hinauf. Vor dem Ausbruch schaffte ich es gerade noch auf die Gästetoilette. Derangiert verbrachte ich den Rest des Tages im Bett, nicht ohne vorher Alka-Seltzer in einer Flasche Wasser aufzulösen. Bei jedem Erwachen nahm ich einen Schluck von diesem Lebenselixier. Einige Stunden später hob ich vorsichtig den Kopf, um nach der Flasche zu angeln. Erleichtert stellte ich fest, dass sich die stampfende Maschine in meinem Schädel ruhig verhielt. Langsam richtete ich mich auf. Mein Magen reagierte mit Grummeln auf den nächsten Schluck Wasser. Es wurde Zeit für einen Imbiss. Mit einem Butterbrot und einer Tasse Milch setzte ich mich an den Schreibtisch. Das Display des Notebooks zeigte 4:38 Uhr. Der Browser öffnete sich und ich gab „Vogelscheuche“ ein. Die verschiedensten Modelle leuchteten auf. Konstruktionen aus Holz und alten Stoffen genauso wie solarbetriebene Maschinen mit Sound, die zur Abschreckung Wasser auf die Vögel schossen. Irgendwann entdeckte ich ein Bild von einem Teich mit einer Badeinsel, auf der eine Schaufensterpuppe in einem Liegestuhl saß. In mir reifte ein Plan. Ich legte mich für eine Mütze voll Schlaf noch mal in mein Bett.

 

Ausgeschlafen erwachte ich am späten Vormittag. Nach einer Tasse schwarzem Kaffee begab ich mich auf Entdeckungsreise in unseren Schuppen. Hier wurde alles aufbewahrt, was wir nicht mehr brauchten. Es musste noch ein Campingtisch da sein, den konnte ich als Badeinsel verwenden. Ich tippte eine Nachricht an Trudi: „Hast du noch die Schaufensterpuppen von der Ladenauflösung? Wenn ja, bring sie bitte morgen Mittag mit. Ich bestelle uns Pizza. Essen um 13:00 Uhr“ und schickte sie ab.

Der Tisch fand sich hinten an der Wand, allerdings war er für eine Badeinsel zu klein. Ich entfernte die Standbeine aus Metall, die nur in eine Halterung geklickt wurden, und trug das Fundstück in den Werkstattraum. Beim Eintreten erinnerte mich der harzige Holzgeruch an Clemens. Nach seinem Ruhestand hatte er stundenlang alte Holzmöbel restauriert. Oft saß ich mit einer Tasse Kaffee in der Werkstatt, um ihm dabei zuzusehen. Unter seinen starken Händen wurde raues Holz glatt, fügte sich Stück um Stück zum Ganzen.

 

Trudi kam wie immer zu spät, deshalb zerrte ich sie gleich in die Küche.

„Die Pizza steht im Backofen, damit sie nicht kalt wird. Auf Wein verzichte ich heute lieber. Magst du Zitronenwasser?“

„Sehr gerne. Ich habe einen guten Grund für meine Verspätung. Erinnerst du dich an die Ausstellung von Max und Chiara im letzten Sommer? Bei dem Protest gegen die Klimaerwärmung haben Sie unsere Modellpuppen mit allerlei Müll behängt.“

„So ganz vage erinnere ich mich an ein Foto von Max und deiner Tochter, inmitten von jungen Leuten und den Schaufensterpuppen im Hintergrund.“

„Genau, dieses Bild war in der Regionalzeitung. Die Puppen lagen zerlegt in einer Box in der Lagerhalle. Jetzt habe ich mal zwei Stück mitgebracht. Du kannst mir nach dem Essen beim Reintragen helfen. Erzähl mal, für was brauchst du sie?“

„Ich habe im Internet nach Vogelscheuchen gesucht. Da gibt es viele moderne Geräte, die ich aber nicht an meinem idyllischen Gartenteich aufstellen möchte. Dann habe ich ein Foto entdeckt, da hat jemand in seinem Teich eine Schaufensterpuppe auf eine Badeinsel gesetzt, als Abschreckung.“

„Das könnte klappen.“ Nach dem Essen trugen wir die Puppenteile in die Werkstatt. Trudi verabschiedete sich, da sie einen wichtigen Termin hatte. Ich setzte die beiden Torsos rechts und links von der Tischplatte auf den Boden. Falls Trudi zwei weitere auftreiben kann, könnten die Damen Rommé spielen, der Gedanke erheiterte mich. Vier Wächter für meine Lieblinge. Wie konnte ich die Puppen im Teich befestigen? Ich brauchte dringend Unterstützung. Am besten kreativ und handwerklich geschickt. In meinen Kontakten musste die Nummer von Chiara sein. Gefunden.
„Hallo Chiara, vielleicht hat dir Trudi schon erzählt, dass ein Reiher immer wieder Kois aus dem Teich klaut. Jetzt möchte ich eine Vogelscheuche bauen. Da könnte ich die Hilfe von dir und Max gebrauchen. Habt ihr am Wochenende Zeit?“ Ich fütterte gerade die Karpfen, als mein Klingelton erklang.

„Hi Olga. Ich habe schon gehört, dass ihr Hildas Ableben begossen habt. Wir haben am Samstag nichts vor und könnten so gegen 10.00 Uhr bei dir sein.“

„Super, das freut mich. Ich koche dann für uns. Ich habe Folgendes vor, …“ Zusammen erstellten wir eine Liste mit Dingen, die ich bis zum Wochenende besorgen sollte.

Am Samstag kochte ich einen Topf Chili sin Carne, Salat und Dressing stellte ich in den Kühlschrank. Auf der Terrasse standen die vier Puppenkörper ohne Beine und eine Kiste mit Accessoires.

Max sägte Bretter zu, auf diesen wurden dann später die Puppen montiert. Chiara war schon dabei, die Tischplatte mit Schwimmbeckenfarbe zu streichen. Trudi und ich strichen die frisch gesägten Holzbretter. Max fügte die fertigen Teile zusammen. Jetzt kam der sportliche Teil der Aktion. Der Teich war zwar nur 1,60 tief, doch wie rutschig der Untergrund war, wussten wir nicht. Ich befestigte das eine Ende des Seils an einer Weide, die nah am Teichufer wuchs. Chiara fuhr mit dem aufgerollten Tau im Schlauchboot auf die andere Seite des Teiches, dort wartete ich auf sie und zusammen zogen wir das Seil straff und verknoteten es am Stamm einer Birke. Die gleiche Prozedur wiederholten wir noch einmal. Jetzt kreuzten sich die Taue in der Mitte der Wasserfläche. Die Kois umkreisten uns und sprangen immer wieder in die Luft, um uns zu beobachten. Max watete im Neoprenanzug an den Halteseilen entlang in den Teich. Mit dem Boot brachten wir ihm jede Puppe einzeln, die er mit einem Edelstahlspieß im Teichboden befestigte. Die Ladys waren inzwischen mit Bikini und Badehaube gestylt. Zuletzt ruderten wir unseren Tisch hinaus. Max montierte ihn mit Seilen an jedem der Mädels. Jetzt saßen vier Frauen mitten im Teich. Das Sonnenlicht wurde vom Glas der Schwimmbrille und langen Ohrringen zurückgeworfen. Das sollte weitere fliegende Diebe abschrecken, ich fühlte mich siegessicher und folgte den anderen zur Terrasse.

Das Chilli köchelte auf dem Herd und sein verlockender Duft zog durch die Küche. Ich war so hungrig. Chiara trug Besteck und Teller nach draußen und ich nahm den Topf mit.

„Dein Chili sin Carne ist superlecker“, schwärmte Max, als er sich einen Nachschlag nahm.

„Magst du den Salat mal probieren? Das Sauerrahmdressing mildert die Schärfe“, bot ich ihm an.

„Max mag es gerne scharf. Liebe Olga, ich möchte noch von deinem Salat.“ Die beiden fütterten sich gegenseitig mit ihren Gabeln. So verliebt. Trudi und ich tauschten vielsagende Blicke. Wir genossen den warmen Abend auf der Terrasse mit einem Glas Rotwein. Nachdem sich meine Helfer verabschiedet hatten, schaute ich noch mal am Teich vorbei. Das Quartett schaukelte sachte im Einklang mit den Wasserbewegungen im Abendwind. Die Solarlämpchen auf dem Tisch leuchteten in der Dämmerung auf. Vom Ufer aus sahen sie verblüffend echt aus. Ich streute einige Mehlwürmer ins Wasser und freute mich über das Auftauchen der glänzenden Fischleiber. „Jetzt steht unserer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Weg, meine Lieben. Das Quartett wacht über euch. Schlaft gut.“

 

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