Von Martina Zimmermann

Muriel ist aufgeregt. Heute ist es soweit. Nur einmal im Jahr, wenn der Mond die ganz bestimmte Position erreicht hat, dann hat sie die Chance. Voller Vorfreude aufgekratzt und hibbelig, schwingt sie sich mit ihrer langen Flosse über den Meeresgrund hin und her und singt dabei ihr schönstes Lied.

Ihre Stimme ist so lieblich, dass die Fischer auf der rauen See Gänsehaut bekommen, wenn der Wind ihre Stimme zu ihnen trägt.

Sie hat etwas Warmes und zugleich erschaudert man, denn man spürt, dass die Stimme nicht von dieser Welt ist. 

Muriel lacht, sie weiß um ihre Gabe und sie freut sich, andere damit zu verwirren. Vor allem die Menschen, die nichts von ihrer Existenz wissen.

Manche ahnen etwas, so scheint es ihr, und manche Menschen scheinen nach etwas zu suchen. Sie hat den Eindruck, dass Menschen oft suchen, sie weiß nicht nach was, aber sie vermutet, sie brauchen einen Glauben, an etwas Übernatürliches, an dem sie sich festhalten können.

Menschen sind für Muriel ein Rätsel. Zeitgleich interessiert es sie besonders, mehr von ihnen zu erfahren. Sie würde alles dafür geben, mit ihnen leben zu dürfen und sie kennen zu lernen. „Einfach alles“, singt sie laut vor sich hin und träumt sich in die andere Welt. „Wie würde es sein, dort oben. Könnte ich existieren? Würde ich aufgenommen werden?“ Laut singt sie ihrer Fragen vor sich hin. 

 

Lia lacht: „ Du mit deiner Träumerei und deiner ewigen Sehnsucht nach dem anderen Leben. Heute Nachmittag bekommst du vielleicht die Chance dazu.“

„Was meinst du, warum ich so aufgeregt bin?“, erklärt Muriel. „Vielleicht schaffe ich es tatsächlich.“ „Du kannst es schaffen“, bestätigt Lia.

Sie drückt die Daumen und schwimmt davon.

 

Heute ist es ruhig, die See so glatt wie ein Spiegel, in dem sich heute die Sonnenstrahlen auf seine Oberfläche legen. Sie wärmen das Wasser und geben allem hier unten ein schönes Licht. Die Korallen leuchten heute besonders und die Muscheln strahlen, als hätte man sie poliert. „Vielleicht wollen sie sich noch einmal in ihrem besten Licht zeigen, bevor ich gehe?“, fragt sich Muriel. 

 

„Vater, ich werde heute am Spiel teilnehmen“, erklärt Muriel. „Ich dachte es mir. Es ist dein größter Wunsch, zu den Menschen zu gelangen und vielleicht klappt es heute. Ich wünsche es dir. Aber, passe auf und halte unsere Gesetze ein. Du darfst dich dort nicht verlieben und du darfst niemandem von deiner wahren Gestalt erzählen. Bedenke, auf Dauer wirst du in der Welt der Menschen nicht leben können. Für die Zeit des Menschenmondes wird sich deine Gestalt verändern, danach aber musst du zurückkehren, oder du wirst für immer verloren sein. Genau dann, wenn der Mond wieder an der gleichen Stelle steht, ist deine Zeit bei den Menschen vorbei. Genau in einem Jahr, musst du zurückkehren.“

„Ich weiß, Papa, ich werde mich daran halten. Aber zuerst muss ich das Spiel gewinnen. Heute spielen wir zu viert. Die anderen wünschen es sich auch so sehr wie ich. Amberly, Keyna, Jeneva und ich. Heute um vier, in der kleinen Bucht, die mit Schilf bewachsen ist, dort werden wir unser Spiel spielen. Der Gewinner darf dann ein Jahr als Mensch leben. Ich wünsche mir so sehr, dass ich gewinne“, erklärt Muriel sehnsüchtig.

 

„Hallo, seid ihr auch so aufgeregt?“, fragt Keyna in die Runde. Alle nicken, zur Stärkung ihrer Nerven hat jede Nixe ein Glas vom besten Wein mitgebracht. „Dann lasst uns anstoßen. Das Spiel kann beginnen“, erklärt Amberly bestimmt.

Alle heben ihre Gläser und sprechen den Spruch der Nixen. 

„Auf dass die Welt zusammenhält. Wir wollen verschmelzen zwischen den Welten und nichts hält uns auf!“ 

Alle lächeln sich an und trinken einen großen Schluck und dann konzentrieren sich alle. Ihre Blicke verlieren sich in ihrem Spiel. Es ist das Duell der Nixen. Kein Mensch könnte es spielen. Die Gedanken der Meerjungfrauen lenken die Spielsteine und je konzentrierter und geschickter eine Wassernixe ist, umso größer ist ihre Chance zu gewinnen. Zu Anfang hat Muriel leichte Probleme. Sie muss sich zwingen, sich zu kontrollieren. Immer wieder schweift sie ab und überlegt, wie es bei den Menschen wohl sein wird. Aber dann reißt sie sich zusammen. Muriel schafft es, als erste ihre Steine in die gewünschte Position zu bringen und das nur durch ihre Gedanken.

„Ich habe gewonnen!“, ruft sie aufgeregt. Sie freut sich so sehr, dass sie Purzelbäume schlägt und sich im Kreise dreht. Die anderen sind etwas traurig, aber sie gönnen es ihr. Jede von ihnen hat beim nächsten Menschenmond die erneute Chance. 

„Wir gratulieren dir und freuen uns jetzt schon, wenn du uns in einem Jahr berichtest, was du erlebt hast. Du weißt, du musst dich an unsere Gesetze halten und dann sehen wir uns in einem Jahr. Wir wünschen dir viel Spaß und eine gute Zeit. Wenn du unseren Gesang hörst, dann denken wir an dich.“

Muriel strahlt wie die Sonne. „Ich werde alles befolgen und dann erzähle ich euch, wie es bei den Menschen ist.“ Muriel verabschiedet sich, dann bereitet sie sich vor.  

Sie muss genau, wenn der Mond seine Position erreicht hat, und das Licht auf sie hinab scheint, an der Stelle sein,  den sie den Felsen nennen. Es heißt, er hätte magische Kräfte. Muriel begibt sich mit einem schnellen Flossenschlag dorthin. Ihr Herz klopft ihr bis in den Hals, so aufgeregt ist sie. Dann schwingt sie sich mit einem Ruck aus dem Wasser und legt sich im Schein des Menschenmondes auf den Fels. Sie fühlt sich eigenartig. Es scheint, als ob sie schimmert und als sie auf ihre Schwanzflosse schaut, sieht sie, diese löst sich immer mehr und mehr auf. Plötzlich sind dort Beine. Sie wackelt zuerst zaghaft, dann immer schneller mit ihren Beinen. Sie spürt sie und dann versucht sie ganz vorsichtig, die ersten Schritte zu machen. Zuerst etwas wackelig, aber schnell gelingt es ihr, sicher zu laufen. Es gefällt ihr so sehr und sie fühlt sich so glücklich wie noch nie. Muriel weiß, an wen sie sich wenden muss. Sie kennt Wesen, die in beiden Welten leben können. Im Wasser und an Land und bei ihnen würde sie aufgenommen werden. Mit einer Leichtigkeit, von der sie vorher nur träumen konnte, hüpft sie davon. Sie bewundert die Umgebung. Wie der Strand von der Landseite aussieht. Die Häuser und die Bäume. Alles ist so aufregend und schön. Die Tiere, die auf der Wiese stehen und die Vögel, die am Horizont fliegen. Wie frei müssen sie sich fühlen? Eine andere Welt, die sie entdecken möchte. All diese Gedanken schießen durch ihren Kopf, während sie sich auf dem Weg befindet. 

Theytis lebt in dem kleinen Häuschen, nicht weit vom Strand entfernt. Er wird ihr helfen, sich zurecht zu finden und dort kann sie wohnen. Muriel ist dankbar, sie wüsste nicht, an wen sie sich sonst wenden kann. Von Weitem sieht sie Licht in dem kleinen Häuschen, es zieht sie magisch an. „Wie gemütlich“, ruft sie entzückt. „Es ist so schön!“ Muriel klopft an die Tür und kann es kaum erwarten. Sie kennt Theytis nur aus dem Meer. Hier hat er eine andere Gestalt und nennt sich Karl. Gerade, als die Tür sich öffnet, wird es ihr bewusst. „Wie mag er aussehen?“, fragt sie sich als sie wenige Sekunden später einen wunderschönen Menschen vor sich sieht. Er ist blond, und um sein Gesicht, umrahmt von kleinen Locken, die sich wild so legten, wie sie es wollen. Er hat etwas Wildes und zugleich Vertrautes. Seine blauen Augen strahlen sie an und dann lächelt er. „Hallo, du schöne Frau.“ Muriel war dieses Wort fremd. „Frau?“ Natürlich ist sie jetzt eine Frau. Sie lächelt unsicher zurück. Dann ergreift er ihre Hand und ziehst sie zu sich in sein Haus.

„Keine Angst, ich werde dir helfen, und du wirst alles erleben, was du dir erträumt hast. Für ein Jahr, bis zum nächsten Menschenmond kannst du mein Gast sein.

Glaube mir, es wird das Abenteuer deines Lebens.“

Muriel ergreift seine Hand und folgt ihm ins Haus. Sie strahlt ihn an, schaut ihm tief in die Augen, und sagt mit fester Stimme: 

„Ich bin dazu bereit.“