von Brigitte Noelle

 

Es sind die Kleinigkeiten, die wir kaum beachten, die Alltäglichkeiten, die unser Leben begleiten. Erst wenn wir sie verloren haben, wissen wir, was wir an ihnen hatten. Doch wie ist das mit dem Großen, Wichtigen (oder das uns zumindest so erscheint) , wovon wir glauben, nie genug bekommen zu können?

Mir gegenüber ist Nini, aus den Augenwinkeln gewahre ich Flo zu meiner Linken, Charly zu meiner Rechten. Und hier bin ich, Miki. Um meine Beine fühle ich Fische umherstreichen, Wasserpflanzen winden sich in der leichten Strömung um meine Knöchel. Und ich frage mich, ob wir es hätten besser machen können.

Wir waren zu viert, gute Freundinnen. In nahezu jeder Sache waren wir einer Meinung, erfolgreich und unabhängig, lebenslustig und vermögend. Nini arbeitete als Lobbyistin für unsere Agrarindustrie, Flo saß als Erbin im Vorstand einer namhaften Rüstungsfabrik. Charly war Anlageberaterin und hatte zahlreiche Kunden unter den reichsten Zehntausend des Landes. Und ich – ich war eine Art Laufbursche, Botin zwischen den Welten sozusagen: Ich leitete die Redaktion eines der bedeutendsten Wirtschaftsmagazine Europas.  Mit unseren Artikeln konnten wir Wirtschaft und Politik gleichermaßen das Fürchten lehren, unsere Analysen und Berichte wurden jede Woche mit Spannung erwartet, mit Erleichterung oder Verzweiflung gelesen. 

Es lag auf der Hand, dass der Nutzen unserer Freudschaft nicht nur in der Freude an persönlichem Austausch lag, sondern auch praktische Vorteile brachte, denn jede von uns konnte bei unseren wöchentlichen Treffen auch interessante Informationen aus ihrem beruflichen Umfeld erzählen. Die sonntäglichen Zusammenkünfte waren der Fixpunkt unseres Lebens, den wir mit Ungeduld erwarteten und nie verpassten.

Wir saßen zusammen, plauderten, lachten, nippten am Prosecco und spielten irgendwelche Spiele; dabei setzten wir zwar Geld, aber nur zum Spaß, keine hohe Summen, ein paar hundert Euro, höchstens einige Tausender. Was für eine schöne Zeit hatten wir damals miteinander!

Die Sonne steht hoch am Himmel, Boden, Pflanzen, Steine, alles atmet Hitze aus, selbst der See ist warm und müde geworden. Seit wir hier sind, habe ich keinen Menschen gesehen. Gibt es überhaupt noch welche?

Bei einem unserer Treffen erwähnte Nini, dass ihr Onkel Didi sich vom berühmten Künstler Bucasis de Grimoire ein Denkmal einrichten ließe. „Einrichten?“, fragten wir, „Soll es denn nicht ‚Errichten‘ heißen?“ Nein, erklärte uns Nini. Grimoire wäre gerade total angesagt. Er stelle seine Werke aus extrem langlebigem Kunststoff her und bestücke sie mit Elektronik. „Er soll ein Verfahren entwickelt haben, durch das er die Persönlichkeit der Auftraggeber in seinem Werk wiedergeben kann. So stellt das Denkmal nicht nur außen, sondern auch innen seine Vorlage dar.“ 

Wir witzelten darüber, dass es Onkel Didi dann zweimal gäbe, und ob das eine Bereicherung des Welt wäre. (Nebenbei, Onkel Didi war das Oberhaupt eines der ältesten deutschen Adelsgeschlechter und besaß ein Fünftel des gesamten Waldgebietes.) Aber die Idee eines Denkmals blieb in unseren Gedanken hängen und wucherte weiter.

Als wir am folgenden Sonntag zusammen saßen, sprach Charly aus, was wir alle überlegt hatten: „Wie wäre es, wollen wir nicht auch ein Denkmal in Auftrag geben, von uns Vieren, als bleibende Erinnerung an unsere Freundschaft, Beitrag zur modernen Kunst und, nicht zuletzt, als Wertanlage?“ 

Wie meistens waren wir einer Meinung und baten Onkel Didi, den Kontakt zum Künstler herzustellen. Dabei erfuhren wir Näheres über diesen: Er ließe sich bei der Gestaltung seiner Werke nicht hineinreden und bestand sogar auf der Wahl des Standorts. Auch sonst sei Grimoire ein Mysterium: Niemand wisse, wie alt er sei, noch woher er käme. „Er spricht viele Sprachen perfekt, doch vollkommen akzentfrei“, meinte Onkel Didi. Es wäre nicht einmal klar, ob er eine Frau oder ein Mann ist, aber der Einfachheit halber reden alle von ihm als „er“. 

Wir waren gespannt.

Die Sonne nähert sich dem Horizont, der Himmel färbt sich rötlich und einer der unzähligen endlosen Tage neigt sich dem Ende zu. Ich sehe Nini und fühle, wie sehr ich diesen Anblick über habe. Und ich weiß, dass es Nini genauso geht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es einmal anders war.

Onkel Didi hatte nicht zuviel versprochen: Bucasis de Grimoire war faszinierend, von eindrucksvoller Präsenz und gleichzeitig schwer beschreibbar. Seine Stimme glänzte süß wie warmer Honig und gleichzeitig scharf wie ein Schwert. Zunächst wollte er wissen, was uns das Wichtigste in unserem Leben wäre. Einstimmig antworteten wir, es wäre unsere Freudschaft. Dann erklärte er uns die Bedingungen für seine Arbeit: Zunächst wolle er uns an einem unserer Sonntage begleiten, danach eine Reihe möglicher Standorte besichtigen. Nachdem er das Design und die Herstellung der Figuren abgeschlossen hätte, müssten wir in sein Atelier kommen, damit er unsere Persönlichkeiten ‚kybernetisch abbilden‘ könne, wie er es ausdrückte. Bei dieser Gelegenheit bekämen wir auch ein Implantat, das uns mit unseren Abbildern verbinden werde. „Wozu das?“, fragten wir. Er antwortete mit seiner Honigstimme: „Sie wollen doch ein Denkmal für die Ewigkeit? Da müssen Ihre Ebenbilder doch wissen, wann die Ewigkeit beginnt.“

Wir verstanden nicht genau, was er damit meinte, hielten es aber für ein künstlerisches Gleichnis, in das wir uns nicht weiter vertiefen wollten.

Die Arbeit am Denkmal ging zügig voran. Als Standort hatte sich Grimoire für einen See am Ende eines abgelegenen Bergtales entschieden, der nur über eine Privatstraße erreichbar war und Flos Familie einmal geerbt hatte. Außer Mitgliedern und Bediensteten ihrer Familie und vereinzelten Wanderern kam niemand dort vorbei.

Inzwischen ist es dunkel geworden. ‚Weißt du, wieviel Sternlein stehen?‘ haben wir als Kind gesungen. Unzählbar viele. Und wie groß ist das Weltall, in dem sie ihre Bahnen ziehen? Unvorstellbar groß. Und wieviele Tage dauert die Ewigkeit? Unendlich viele. Wir sind nicht für diese Dimensionen geschaffen.

Als wir unsere Denkmale das erste Mal besichtigen durften, waren wir enttäuscht. „Das sieht ja aus wie normale Schaufensterpuppen“, meinte Charly. 

„Sie werden ewig halten. Und es kommt ja auch auf ihren Inhalt an“, antwortete der Künstler.

„Und diese albernen Badehauben, sind die notwendig?“, kritisierte ich. 

„Niemand wird hier sein, um euer Haar zu pflegen, die Vögel würden darin nisten, Spinnen ihre Netze weben und Moos und Pilze gedeihen. Wäre euch das lieber?“

Schließlich gaben wir uns zufrieden, beschlossen, das Projekt „Denkmal“ zu vergessen und unsere alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen.

Es dürfte jetzt Mitternacht sein. Früher hatte man sich vor dieser Stunde gefürchtet, vor den Geistern, die aus ihren Gräbern kommen und die Lebenden heimsuchen. Heute weiss ich, der Schrecken kommt am helllichten Tag, und wir Lebendigen selbst verursachen ihn.

Viele Monate danach saßen wir Vier auf Flos Terrasse, aber diesmal war die Stimmung unserer wöchentlichen Runde eingetrübt. Es war nicht von der Hand zu weisen: Der Klimawandel hatte erschreckende Ausmaße angenommen, im globalen Süden starben die Menschen oder versuchten, der Hölle zu entkommen, und hier machte man unter anderem die Agrarindustrie und deren Exponenten dafür verantwortlich. „Dabei habe ich doch nur meinen Job gemacht“, klagte Nini. Auch Charly war nicht glücklich über die Entwicklung der Aktienkurse, und ich fühlte, dass die Grenzen meiner Macht an der Wut der vielen verzweifelten Menschen endete. Schließlich mussten wir auch feststellen, dass es nicht unbegrenzt viele Rohstoffe, nicht unendlich viel Wasser und Boden gab, um alle Menschen zu versorgen. Die ersten Verteilungskriege tobten bereits. Flo als Rüstungsfabrikantin war die einzige, die sich darüber freuen konnte, doch das zeigte sie nur verhalten.  Mit halber Aufmerksamkeit spielten wir eine Runde Poker, als wir durch sonderbaren Flugzeuglärm unterbrochen wurden. Verdattert frage Nini: „Was ist denn …“

Ein Lichtblitz, greller als vorstellbar. 

Die Druckwelle wälzte sich an uns heran, wirbelte uns mitsamt Stühlen, Haus, Bäumen, Tieren, Autos, Blumentrögen, Tischen, Rasenmähern durcheinander, nur einige Sekunden. Wir hatten keine Zeit zu erschrecken, denn gleich darauf erfasste uns der gigantische Feuerball. Die pilzförmige Wolke, die sich in den Himmel erhob, konnten wir nicht mehr sehen.        

Sehen? Das Bild vor meinen Augen wurde klar und ich sah Nini. Im Badeanzug mit Badehaube. Im Teich. Und mir wurde klar, was Bucasis de Grimoire gemeint hatte, als er uns ein Denkmal für die Ewigkeit versprach.

Es wird kälter. Die Stunde des Wolfes, sagt man. Da, ein leises Klicken ertönt, ein Zittern geht durch uns einsame Gestalten. Am Tisch, der zwischen uns schwimmt, füllen sich die Sektflöten, erscheinen Karten und Spielgeld. Und ohne es wirklich zu wollen, sitzen wir zusammen, plaudern, lachen, nippen am Prosecco und spielen irgendwelche Spiele, bis der Himmel eine bleigraue Farbe annimmt und der kalte Morgenwind Karten und Geld verweht und wir wieder erstarren. Jede Nacht, bis zum Ende der Welt.

Wir hätten es besser machen können.

 

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