von Anna Rosenthaler

 

Pechschwarz schien der Himmel über mir zu sein. Einzig die Sterne konnten diese grauenhafte Nacht erhellen. Ich wälzte mich in meiner dünnen Decke auf der harten Wiese umher und griff nach der warmen Hand meines Bruders. Als er bemerkte, dass ich noch wach war, drehte er sich zu mir und versuchte meine Augen zu fixieren: »Wir müssen schlafen. Morgen steht uns ein langer Tag bevor.«

Ich seufzte. Ich wollte nicht mehr weiter. Meine Füße taten weh und ich hatte Hunger und Durst. Seit knapp drei Tagen waren wir durchgehend unterwegs und ich konnte mich immer noch nicht mit dieser Situation abfinden. Wir waren seit kurzem Waisen, unsere Eltern waren tatsächlich tot. Mausetot. Nie wieder würden sie uns in ihre sanften Arme nehmen, und uns einen Kuss zum Einschlafen geben können! Ach, wie sehr ich mir nur wünschte, dass ich die Möglichkeit gehabt hätte, ihnen »lebe wohl« zu sagen! Es ging alles so schnell. Mein drei Jahre älterer Bruder, Finley, konnte die Situation noch weniger verkraften als ich. Er zerrte mich, ohne Geld, Vorräte oder auch nur irgendeinem Plan, aus unserem Haus, auf in ein neues Leben. Ich mochte dieses neue Leben allerdings nicht. Wir wanderten doch nur sinnlos durch die Gegend!

Gestern waren wir bei einem abgelegenen See irgendwo in den irischen Highlands gelandet. Er war bitterkalt, doch wir hatten uns sofort in die Fluten gestürzt und das einzige Wasser, welches wir seit Tagen zu Gesicht bekommen hatten, förmlich in unsere zarten Körper aufgesaugt. Das Wasser war ungenießbar und wir wären sicherlich nach wenigen Tagen davon schwer krank geworden, hätten wir davon getrunken. Dennoch tat es gut, mich wieder einmal so lebendig zu fühlen. Nie wieder wollte ich von hier fort. Dieser Ort hatte etwas Magisches an sich, welches mich in seinen Bann zog. Als ich mich wieder zu meinem Bruder zuwandte, ermahnte er mich abermals, dass ich mich zur Ruhe begeben sollte. Also drehte ich mich mürrisch um und versuchte zu schlafen. Erstaunlicherweise funktionierte es – das musste an dieser faszinierenden Gegend liegen.

Als ich aufwachte, stand die Sonne noch nicht ganz am Himmel, doch ich hatte vor, bevor Finley aufbrechen wollte, noch ein letztes Mal in diesem See baden. Ich stand auf und streifte mir meine Kleidung vom Leib, während ich mit schnellen Schritten auf das grünliche Wasser zurannte. Plötzlich stockte ich und stieß einen Schrei aus, der meinen Bruder aus dem Schlaf gerissen haben musste. Ich konnte meinen Augen kaum trauen – Puppen. Da standen vier Puppen bis zu den Schultern, mit Schwimmkappe, Bikini und allem, was man eben zum Schwimmen brauchte, im Wasser. In ihrer Mitte schien ein Tisch zu schwimmen, der mit randvollen Sektgläsern und einem seltsam wirkenden Spiel gedeckt war. Entsetzt ging ich einen Schritt zurück und schüttelte das Wasser, welches ich bereits an meinen Füßen hatte, so gut es ging, ab. Als Finley sich nun endlich zu mir aufgerafft hatte, blickte er mit einem unsicheren Blick zu den Puppen.

»Was soll das?«, meinte er vage und wollte sich ihnen nähern.

Sofort zog ich ihn zurück: »Nicht! Du weißt nicht, was es mit ihnen auf sich hat. Sie könnten gefährlich sein.«

»Quatsch. Da hat sich jemand mit uns einen Scherz erlaubt. Zwei Waisen sind die besten Opfer für so einen Unfug.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass mitten in der Nacht sich jemand heimlich zu diesem abgelegenen See im Nirgendwo geschlichen hat, um diese Puppen aufwändig aufzustellen, nur um uns einen Schrecken einzujagen?«

Schulterzuckend löste sich Finley aus meinem Griff und bahnte sich einen Weg, ohne meine warnenden Worte auch nur ein bisschen zu beachten, zu den eigenartigen Puppen. Er stand nun auf Augenhöhe mit ihnen und begutachtete den schwimmenden Tisch:

»Hailey, komm schnell! Es ist einfach unglaublich. Es sieht aus, als wäre das Spiel, welches die Puppen vor sich haben, ein Rätsel.«

Mein Bruder war nun offiziell verrückt geworden. Das musste der leere Magen ausmachen. Hatten wir nichts Besseres zu tun, als uns mit einem dummen Streich zu beschäftigen? Wir mussten Geld auftreiben!

Schließlich begab ich mich wehmütig zu Finley, da er mich sowieso nicht in Ruhe gelassen hätte. Verwundert blickte ich auf die Karten, welche in jeder der vier roten Spielboxen steckten. Drei davon sahen wie normale Spielkarten aus, bei dem dritten stand allerdings ein seltsam verschnörkelter Spruch darauf: »Bin die dritte an der Reih, doch steche nicht aus der Masse, bin selbst nicht gut im Kartenspiel.«

Mein Bruder hatte Recht. In gewisser Weise war dies ein Rätsel. Während ich noch grübelte, hatte Finley bereits zwei Sektgläser ausgetrunken. Als ich dies bemerkte, begann ich ebenfalls am ersten Glas zu nippen. Ich konnte nicht einmal richtig darüber nachdenken, ob uns jemand damit vergiften wollte, da ich so großen Durst hatte.

»Es ist schwer zu sagen, wer die Dritte sein soll, da es schließlich von der Perspektive abhängig ist.« Finley stoppte kurz und musterte die Karten der jeweiligen Puppen. »Die mit der grünen Schwimmkappe unterschiedet sich nicht stark von denen mit der hell- und dunkelblauen Mütze, doch hat immer noch die meisten Karten. Sie muss das Spiel verloren haben.«

Bewundernswert, wie schnell mein Bruder denken konnte – das musste aufgrund des Alkohols sein. Er sprühte förmlich vor Motivation.

Nun gut. Wir hatten das Rätsel teilweise gelöst. Und was nun?

»Vielleicht müssen wir untertauchen«, meinte ich, doch war selbst zu feige, um dies zu tun. Mit meinen dreizehn Jahren hatte ich genug gruselige Filme gesehen, um zu wissen, dass es dort unten nur so vor Monstern sprudeln könnte. Ich fühlte mich generell nicht sonderlich wohl, weil meine Füße immer wieder etwas Weiches am Boden berührten. Anders als Finley konnte ich nur auf Zehenspitzen stehen.

Augen verdrehend machte sich Finley über meine kindliche Albernheit lustig, doch er schien selbst ein ungutes Gefühl dabei zu haben. Was würde ihn dort unten nur erwarten?

»Ach, wir haben doch sowieso nichts mehr zu verlieren«, murmelte er schließlich traurig und tauchte unter. Erschrocken über seine unüberlegte Handlung, wartete ich darauf, dass er wieder heil auftauchte – und das tat er. Erleichtert fiel ich ihm in die Arme. Da er mit leeren Händen zurückkam, vermutete ich, dass es dort unten nichts zu finden gab.

»Wir sollten uns die Puppe mit der grünen Schwimmkappe genauer ansehen. Hast du gemerkt, dass in ihrem Hals eine Rille ist?« Ich zeigte auf die von mir beschriebene Stelle, welche ich entdeckt hatte, als er unter Wasser war.

Hektisch begann mein Bruder an dem Kopf der Puppe zu rütteln, bis er schließlich auf des Rätsels Lösung kam und den Kopf abschraubte. Eine kopflose Puppe! Der Anblick war mehr als grauenhaft.

Gleichzeitig schielten wir in die dunkle Öffnung, die nun vor uns lag. Mutig griff Finley hinein und zog einen dreckigen Sack heraus. Er dürfte ziemlich schwer sein, da er ihn nur mit Mühe an Land schleppen konnte.

Gespannt wartete ich, bis er den festen Knoten gelöst hatte und ich den Inhalt betrachten konnte.

Es war Geld. Viel Geld! Scheine und Münzen lächelten uns aus dem Sack an und schienen nach uns zu rufen.

»Oh Heiliger! Wem das wohl gehört?«, pfiff Finley und konnte seinen gebannten Blick nicht von der Schönheit des Geldes abwenden.

»Egal wem es gehört hat, nun gehört es uns. Wir brauchen es. Bitte lass es uns behalten.« Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter, um mehr Überzeugungskraft zu haben. Er war ein Mensch, der nicht gerne Almosen oder ähnliches annahm und auch nichts für sich in Anspruch nahm, was womöglich jemand anderem gehörte. »Komm schon. Wir könnten damit alles kaufen, was wir brauchen. Wir könnten aus der Kälte hier entkommen. Ein Neuanfang! Wir könnten leben…« Die letzten Worte sagte ich vage und traurig, da ich daran die letzten Tage intensive Zweifel entwickelt hatte. Ich war mir sicher, dass jeden Moment mein letztes Stündchen hätte schlagen können.

Nach einer Weile, einer ziemlich langen Weile, raffte sich Finley auf, verschloss den Sack wieder mit dem Seil und hängte ihn sich um den Rücken. Dann nickte er mir zu: »Lass uns gehen.«

Glücklich über diese Entscheidung trottete ich hinter ihm her, den Sack voller Geld stets im Auge behaltend.

Wir hatten anscheinend einen Wohltäter. War dies tatsächlich möglich? Gab es vielleicht doch noch Hoffnung in die Menschheit, oder war alles nur ein seltsamer Zufall?

 

 

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