von Helmut Blepp

Im Revier herrschte Ruhe, so wie Olsen es mochte. Die Heizung blubberte gemütlich.  Er hatte gerade sein zweites Frühstück hinter sich, war beim Sportteil der Zeitung angekommen und genoss den Innendienst in vollen Zügen. Sollten Prokop und Michler sich doch die Füße platt laufen; er legte seine hoch und wippte andächtig auf dem Bürostuhl.

Gerade als ihn der Schlaf übermannen wollte, stürmte so ein … Bürger zur Tür herein. Ein wilder Bursche mit schwarzer Lederhose, einer Weste aus dem gleichen Material und nichts drunter. Überall im Gesicht, an den Ohren und am Nabel hatte er sich mit Piercings geschmückt, und die Tattoos von nackten Damen auf Armen, Brust und Bauch (womöglich auch noch andernorts) mussten ein kleines Vermögen gekostete haben.

„Herr Wachtmeister“, rief er ganz aufgeregt.  „Ich habe sie gefunden!“

„Schön für Sie“, brummte Olsen verärgert. „Dürfte ich auch wissen, wen?“

„Meine Puppen.“

„Bist du ein Lude?“

Olsen beäugte den Mann jetzt noch misstrauischer.

„Quatsch“, sagte der. „Meine Schaufensterpuppen. Die wurden doch gestern geklaut.“

„Verstehe!“

Das tat er natürlich nicht, aber Beamter sein, hieß, immer am Aufschlag zu bleiben.

Zum Glück rettete Prokop die Situation, der gerade, mit Michler am Heck, von der Streife kam.

„Tach, Ede“, grüßte er den Ledermann. „Was stehst du schon wieder auf der Matte? Es gibt nichts Neues über deine Puppen, sonst hätte ich dir schon Bescheid gesagt.“

„Selbst ist der Mann“, warf Ede ein. „Ich weiß, wo sie sind. Und den Dieb kenne ich auch.“

Prokop wandte sich Olsen zu und brachte ihn auf Stand.

„Das ist Leder-Ede. Ihm gehört der Porno-Laden auf der Prachtmeile. Gestern hat ihm einer die Schaufensterpuppen gestohlen, auf die er vor seinem Laden Latex-Fummel und anderes Gedöns drapiert. Dreister Vorgang am hellen Tag, offenbar mit einem Transporter direkt vor der Tür gehalten, die Puppen reingeworfen und abgehauen.“

Er klopfte Ede jovial auf die Schulter.

„Wenn du die Dinger wieder hast, können wir die Sache ja abhaken. Und die Exekutive hat Ruh.“

„Nee, Chefwachtmeister, ich habe sie noch nicht. Sie müssen mitkommen und mir helfen. Und vielleicht brauchen Sie Verstärkung.“

Er betrachtete zweifelnd zunächst Michler, dann Olsen.

„Ja, klar! Jetzt sage uns aber erst einmal, wo die Puppen sind.“

„Im Schlossteich.“!

„Willst du mich auf den Arm nehmen?“

„Wenn ich es doch sage. Die sind im Schlossteich. Vorhin habe ich mit der Hexe ein kleines Gassi im Schlosspark gemacht, und da sehe ich meine Püppchen im Wasser stehen.“

„Kein Zweifel?“

„Nee, nicht den geringsten. Ich kenne doch meine Puppen. Die stehen jetzt bis zur Brust im Wasser und tragen geschmacklose Bademützen.“

„Und woher kennen Sie den Dieb“, mischte sich jetzt Michler ein. „War der dabei?“

„Wo denken Sie hin! Ein Schild war da, und darauf stand: Installation `Reigen der Nymphen´, von Max Wohlfahrt. Merkwürdig, oder?“

„Kommt mir auch komisch vor. Ich google diesen Wohlfahrt mal, und dann fahren wir zu dem hin. In Ordnung, Willi?“

Prokop nickte.

 

Der Bungalow hatte schon bessere Tage gesehen, war aber schön bunt bemalt bis hin zu den Mülltonnen. Von drinnen erklang schreckliche Musik, laut und dissonant.

Michler betätigte mehrfach die Türglocke. Endlich öffnete ein Mann mittleren Alters. Er trug eine Art Toga, die über und über mit verschiedenen Farben beschmiert war. Sein rot gefärbtes Haar war offenbar toupiert und stand ihm nach allen Richtungen vom Kopf. Die braunen Augen über den ausgeprägten Tränensäcken hatte er mit Mascara betont.

„Hallo, was kann ich für Sie tun“ grüßte er aufgeräumt. Weder die Uniformierten noch ihr Begleiter schienen ihn sonderlich zu beeindrucken.

„Sind Sie Max Wohlfahrt“, wollte Prokop wissen.

„Jawohl, Max Wohlfahrt in voller Pracht“, antwortete der Künstler lachend und breitete die Arme aus, als wolle er den Beamten ans Herz drücken.

Hinter ihm erschien nun eine Frau, ebenfalls mit einer Toga bekleidet, allerdings ohne Farbflecke. Ihre Frisur aber war gleichermaßen grotesk wie die ihres Mannes, und ihre Augen hatte sie noch kräftiger geschminkt.

„Wir haben Staatsdiener zu Besuch“, erläuterte ihr Wohlfahrt über die Schulter. Daraufhin zuckte sie die Achseln. Auch sie schien nicht wirklich interessiert.

Ungeduldig ergriff nun wieder Prokop das Wort.

„Herr Wohlfahrt, was können Sie uns über vier Schaufensterpuppen sagen, die gestern diesem Herrn gestohlen wurden?“

Ede wollte etwas sagen, doch Michler hielt ihn zurück.

„Das ist kein Geheimnis, Herr Wachtmeister“, beantwortete Wohlfahrt die Frage. „Die stehen im Schlossteich.“

„Sie geben also zu, die Puppen gestohlen zu haben?“

„Gestohlen – das ist ein großes Wort. Und klingt so unfreundlich. Nein, ich habe mir diese Gliederfeen ausgeliehen, um Kunst daraus zu machen, ganz große Kunst.“

„Außerhalb von Künstlerkreisen nennt man so etwas Diebstahl“, blieb Prokop hart. „Da wird Einiges an Ärger auf Sie zukommen.“

„Aber nicht doch, Herr Wachtmeister! Das war ein echter Notfall. Das Kulturamt der Stadt hatte mich mit dieser Installation beauftragt, und ich habe das völlig verschwitzt. Gestern Morgen fiel mir siedend heiß ein, dass ich kurz vorm Vertragsbruch stand. Da bin ich auf der Suche nach Inspiration verzweifelt über die Prachtmeile getuckert, bis mir diese Schätzchen ins Auge fielen. Es war einfach eine Kurzschlusshandlung, dass ich sie in Wagen geladen und zum Schloss gebracht habe. Und so habe ich aufgrund einer genialen Eingebung ein erfüllendes Werk geschaffen.“

„Das ändert gar nichts“, stellte Michler unbeeindruckt fest. „Es ist und bleibt ein Straftatbestand.“

Wohlfahrt wirkte nun doch ein wenig beunruhigt. Da sprang ihm ausgerechnet Ede zur Seite.

„Ach, seien Sie doch nicht so streng zu dem Mann“, appellierte er an die Beamten. „Immerhin sind meine Puppen durch ihn jetzt in die Kunstgeschichte eingegangen. Und wenn er sie mir gereinigt zurückbringt, ist das für mich okay.“

„Was soll das heißen, Ede“, fragte Prokop verärgert. „Willst du deine Anzeige vielleicht zurückziehen?“

„Na, sagen wir, ich leihe ihm die Puppen. Voraussetzung ist allerdings, dass ich meine Waren wiederkriege, mit der sie dekoriert waren.“

„Kein Problem“, versicherte Wohlfahrt sofort, der jetzt Hoffnung schöpfte, ungeschoren aus der Sache herauszukommen. „Das Zeug liegt alles im Auto in einem Karton. Ich hole nur schnell den Autoschlüssel. Dann können Sie es gleich mitnehmen.“

 

Alle standen um die offene Hecktür, während Ede seine Ware inspizierte. Er schien plötzlich beunruhigt, denn immer hektischer wühlte er in Dessous und Latex-Masken und gab schließlich frustriert auf.

„Ursus fehlt“, stellte er fest.

„Soll heißen?“ Prokop war nicht für seine Geduld bekannt.

„Ein Ausstellungsstück, echte Rarität. Top Ware!“

„Und wer oder was ist Ursus“, wollte Michler jetzt wissen.

Ede genierte sich anscheinend in Anwesenheit von Frau Wohlfahrt. Verschämt flüsterte er in Richtung der Polizisten: „Ein Godemiché.“

Prokop starrte ihn entgeistert an. Dann schimpfte er los: „Ein Gummipimmel! Und deshalb machst du solch einen Aufstand. Überhaupt – habe ich dich nicht schon mehrfach verwarnt! Kein Sex-Spielzeug vorm Laden! Und dann hängst du Pimmel an die Puppen vor der Tür! Das ist öffentlicher Raum, du Idiot!“

„Aber, Herr Chefwachtmeister, bitte! Wie soll ich auf der Prachtmeile ohne Werbung über die Runden kommen. Und gerade Ursus! Auch der war eine Art von Kunst. Ein schrecklicher Verlust!“

Michler mischte sich wieder ein, damit Prokop sich ein wenig abregen konnte. Er fragte Wohlfahrt nach dem Verbleib des Objekts.

„Nicht die leiseste Ahnung“, sagte der. „Der Gummischwanz war in dem Karton. Ich habe ihn selber eingepackt. Vielleicht hat ihn einer geklaut. Ich bin nicht immer so gewissenhaft mit dem Verschließen des Wagens, wissen Sie.“

Währenddessen versuchte Prokop, von seiner Palme herunterzukommen. Eher zufällig schaute er dabei zu Frau Wohlfahrt, die nach wie vor hinter ihrem Mann stand und ihm verstohlen zuwinkte. Oder winkte sie ab? Prokop war verwirrt. Zwinkerte sie ihm jetzt wirklich zu? Er hob fragend die Augenbrauen. Jetzt rollte sie mit den Augen und ließ ihre Schultern fallen. Ihm kam ein Gedanke. Sollte das wirklich wahr sein? Er wandte sich an Ede.

„Du, sag mal, was ist denn dein Ursus eigentlich wert?“

„Tja, wenn wir über den Verkaufspreis reden, dann achthundert Euro. Das ist alles Handarbeit. Jede Pore …“

„Das reicht“, schnitt Prokop ihm das Wort ab. „Achthundert also.“

Er schaute erneut zu Frau Wohlfahrt, die wie ein Häufchen Elend in der Haustür stand. In ihren Augen schimmerten Tränen. Das brachte den Ausschlag. Prokop konnte einfach keine Frauen weinen sehen.

„Pass mal auf“, sagte er mit betont ernster Miene zu Ede. „Meine jahrzehntelange Berufserfahrung sagt mir, dass es schier unmöglich sein wird, diesen Diebstahl aufzuklären. Aussichtslos, verstehst du?“

Ede schaute ihn mit offenem Mund an.

„Kollege, du gibst mir doch Recht“, wandte sich Prokop nun an Michler, und als der nicht sogleich antwortete, wiederholte er entschiedener: „Du gibst mir doch Recht?“

„Unbedingt“, stammelte Michler daraufhin. „Völlig aussichtslos!“

„Da hörst du es, Ede. Ich denke, am besten wäre es, wenn wir den Fall ohne viel Aufwand und Juristerei abschließen. Wärst du mit einer finanziellen Entschädigung für deinen schmerzlichen Verlust durch Herrn Wohlfahrt einverstanden?“

Ede verzog unwillig sein Gesicht.

„Ich könnte mich dann gegebenenfalls auch dazu durchringen, von einer Anzeige wegen deines ausgestellten Schweinkrams auf einem öffentlichen Bürgersteig abzusehen. Wie fändest du das denn?“

Ede gab sich kurze Zeit sehr nachdenklich, nickte dann doch und lächelte breit.

„Aber nur, wenn die Kohle stimmt.“

Prokop setzte seine gewichtigste Amtsmiene auf, als er sich mit breiter Brust vor Herrn Wohlfahrt aufbaute.

„Sie haben es vernommen, Herr Künstler. Achthundert Euro, und der Geschädigte drückt beide Augen zu. Billiger kommen Sie aus Ihrem selbstverschuldeten Schlamassel nicht raus. Nun?“

Wieder linste Prokop über Wohlfahrts Schulter zu dessen Gattin, die angespannt auf die Antwort wartete.

„Sei´s drum“, presste der endlich hervor. „Achthundert Euro für einen Gummipimmel, den ich nicht einmal kriege. Viel Lehrgeld für eine Dummheit, aber was soll´s.“

Ergeben reichte er Ede die Hand. Frau Wohlfahrt aber warf Prokop heimlich Kusshändchen zu, während sie sich langsam ins Haus zurückzog.

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