Von Maria Monte
Noch liegt ein kalter Schleier über dem Zeesener See. In diesem Jahr zeigt sich der Frühling recht wechselhaft und kühl. Doch in den höheren Luftschichten kündigt sich bereits der Sommer an. Die zwei Brüder fahren täglich mit ihrem Elektroboot hinaus, kontrollieren ihre Reusen und den Schilfgürtel. Der See ist gut in Schuss, sie hoffen auf ein ertragreiches Jahr. Die beiden sind die letzten Fischer der einstigen Dynastie Michels. Nach dem Tod ihrer Eltern übernahmen sie fast widerwillig das Gewerbe ihres Vaters.
Arthur, der Ältere, wäre lieber Dekorateur geworden. Er verstand es auch, den Fischverkaufspavillon auf ihrem Gewerbehof am See attraktiv für die Kunden auszugestalten. Ein paar Accessoires in den über die rustikalen Tische und Bänke gespannten Fischernetzen sowie ansprechende Werbung, das war sein Part in der Arbeitsteilung.
Ohne Bertolds Liebe zum Holz, sein Faible für den Bootsbau und Holzschnitzereien wäre Arthur nur halbherzig im Geschäft involviert. Die Brüder ergänzen sich gut, streiten sich wenig, nehmen ihre Aufgaben als Fischer ohne viele Worte ernst. Natürlich sind sie durch die Eltern in die Fischerei hineingewachsen. Bevor sie schwimmen konnten, durften sie bereits mit auf den See.
Auf ihren gemeinsamen Kontroll- und Fangfahrten erinnern sie sich oft an ihre Kindheitserlebnisse. „Weißt du noch…?“
Seit drei Uhr morgens sitzen die beiden Brüder in ihrem Boot und haben ihre Angeln ausgeworfen. Gestern Abend hatte es geregnet. Es könnte ein kapitaler Aalfang werden.
Bertold hat seine Stirnlampe angeschaltet und schnitzt an einem Birkenstück herum. „Was wird es diesmal für ein Fisch?“ fragt ihn sein Bruder. „Es soll eine Muräne werden, lang und schlank und etwas furchterregend,“ antwortet Bertold. „Den hängen wir dann zu den anderen ins Dekonetz. Ich bin gespannt, ob es jemanden auffällt, dass es in unseren Breitengraden gar keine Muränen gibt.“ Er kichert in sich hinein.
Eine der Angelruten bewegt sich. Die Pose zittert, taucht unter, die Freilaufrolle spult sich ab. Höchste Zeit, den engmaschigen Kescher bereit zu halten. Gemeinsam bringen die Beiden ihren ersten Aal an diesem Tag in den Fischkasten. Die Nacktschnecken, die sie noch während des Regens gesammelt haben, locken die Aale aus ihren Verstecken. Sie haben alles richtig gemacht; die Wassertemperatur stimmt, die Nähe zu den Seerosenfeldern und dem Schilf ist optimal und auch die Wassertiefe hier in der Bucht passt. Sie klatschen sich ab und haben bald alle Hände voll zu tun, um ihren reichhaltigen Fang zu sichern.
„Hey, Brüderchen, Schluss für heute“, verkündet Arthur. Es muss so gegen 10 Uhr sein. „Sag mal, siehst du auch diese zwei Frauen dort hinten im Wasser?“ Er reibt sich seine Augen, blinzelt etwas übermüdet und zeigt auf die Mitte des Seerosenareals links vom kleinen Graben. Bertold dreht sich langsam um. Der Kahn schwankt trotzdem, bewegt die Wasseroberfläche mit ganz leichten Kräuselwellen. „Ich sehe nichts.“ Er fühlt sich müde und abgespannt und möchte nur noch ins Bett. „Hast du Halluzinationen oder bist du naturgeil?“ Er wendet das Boot Richtung Heimathafen. Arthur lässt nicht locker und zeigt noch immer auf die angegebene Stelle, an der sie jetzt vorbeifahren müssen.
Nun gibt der Schilfgürtel auch für Bertold den Blick frei. Er sieht Köpfe aus dem Wasser ragen. Aber es sind vier. Alle tragen eine Badekappe. Vier Hälse und vier Schultern komplettieren die Büsten. Zwischen ihnen schwebt so eine Art Tablett, auf dem Sektkelche zu sehen sind und etwas Rotes steht da auch noch drauf. Nun reibt auch er seine Augen.
Die Wasserfläche ist dunkel und glatt. Wieso und warum sollten hier um diese Zeit Mädchen oder junge Frauen im Wasser stehen und Party machen? Unmöglich! Und es ist still, kein Laut kommt von der Stelle, die plötzlich so belebt scheint.
„Arthur, kneif mich, box mich, ich sehe plötzlich auch junge Frauen. Ich sehe vier, vier junge Frauen!“ Bertold schüttelt seinen Kopf, schließt und öffnet die Augen, das Bild bleibt. Was nicht sein kann, darf nicht sein. „Wasser, ich brauche Wasser“, keucht er. „Du Blödmann, um uns herum ist doch genug Wasser“, zischt sein Bruder. „Oder nimm aus der Thermoskanne einen Schluck Tee!“ Bertold fasst über die Reling und spritzt sich Wasser ins Gesicht. „Ich träume, nein, ich fantasiere. Vielleicht habe ich Fieber bekommen?“ Mit beiden Händen schöpft er sich nun Seewasser ins Gesicht, wieder und wieder. Er ist plötzlich aschfahl und blickt angstvoll um sich. Im Spiegel des Wassers erkennt er sein Konterfei. Er ist noch real vorhanden. Was ist nur los mit ihm? Er hat doch nicht gekifft oder zu viel Alkohol getrunken! Er sieht seinen Bruder hinter sich, sieht das Boot und ihre Angeln, alles wie vor wenigen Minuten.
„Arthur, hilf mir, mit mir stimmt irgendetwas nicht!“ Fast jammernd fleht er hilfesuchend seinen Bruder an. „Beruhige dich, Bertold, es sind nur zwei. Zwei sicher nette Mädchen, die Spaß haben wollen. Mehr brauchen wir doch auch nicht. Für jeden eine, stimmt´s?“ Mit leicht ironischem Ton versucht der große Bruder den kleinen zu beruhigen. „Feierabend, Zeit für uns.“ Und er setzt noch einen drauf, indem er über das Wasser ruft: „Hallo, ihr Schönen, habt ihr noch etwas Sekt für uns?“
„Ich will in mein Bett, ich mag jetzt keine Frau, ich stinke nach Fisch, wir müssen die Aale versorgen, wir müssen das Boot säubern, vier Frauen, das ist einfach zu viel.“
Arthur schweigt. Sein Bruder wirkt hilflos. „Brüderchen, sei kein Spielverderber“, versucht er es noch einmal. „Und es sind wirklich nur zwei, glaub mir.“
Als die Sonne über die Baumkronen klettert und den See zum Leuchten bringt, sieht auch Bertold nur noch zwei Figuren an diesem fiktiven Tisch im Flachwasser zwischen den Seerosen. Sie schweigen noch immer. Warum antworten sie nicht? Und eigentlich kennt er doch alle Mädels der Umgebung. Warum diese nicht?
Nun verzieht sich Arthurs Gesicht in die Breite, sein Körper beginnt rhythmisch zu wackeln, zuerst lacht er leise glucksend in sich hinein, dann schwillt es an und schließlich bricht es aus ihm heraus. „Komm, Angsthase, ich stelle dir die Mädels vor.“ Nun kann sich Bertold das Arrangement von seinem Bruder aus der Nähe ansehen und beide prusten und lachen, dass sich die Bootsbalken biegen. Arthur hatte in Vorbereitung des geplanten Aalfangs die Idee, zwei Schaufensterpuppenoberteile so im Flachwasser zu dekorieren, dass es echt aussah und erst bei Licht bemerkt werden konnte. Sein Bruder erschien ihm manchmal zu prüde, dieser Spaß sollte das Eis brechen. Übrigens brechen. Zufällig spielte die machtvolle Fee in Form der Luftschichten mit.