von Ingo Pietsch

 

Im Gehlenbecker Moor

Es war ein schwülheißer Montagmorgen. Dunst stieg vom Boden auf und man konnte nur ein paar Meter weit sehen.

Max und Philip, beides Bundesfreiwilligendienstler, waren damit beauftragt worden, die Wanderwege abzugehen, Müll einzusammeln und nachzusehen, ob es eventuell Beschädigungen an Zäunen oder dem Baumbestand gab.

Der Hauptweg schlängelte sich an mehreren Teichen und Tümpeln vorbei, wobei die Tiefe der Gewässer aufgrund des trüben Wassers nicht einzuschätzen war.

Hier und da quakte eine Kröte. Am nervigsten allerdings waren die Mücken in diesem Sommer, vor denen man sich kaum retten konnte.

Max kickte einen Stein gegen eine der jungen Birken, die hier überall wild wuchsen und Philip versuchte vergeblich, einen Zigarettenstummel mit seinem Greifer vom Boden aufzuheben und in den halbvollen Müllsack zu befördern.

Erschöpft wegen der Hitze und völlig durchgeschwitzt, ließen sich beide auf die Baumstümpfe von Eschen fallen, die am Uferrand eines Teiches standen und streckten ihre Beine aus.

Vor ihnen blubberte das Wasser lautstark und große Blasen stiegen aus der Tiefe auf.

Der Dunst lichtete sich ein wenig und dann lag die Wasseroberfläche wieder still da.

Eine Krähe krächzte in der Ferne.

Zum ohnehin muffigen Geruch verrottender Büsche und Bäume gesellte sich noch ein viel schlimmerer fauliger Mief hinzu, der so intensiv war, dass sich Max und Philip mit angewiderten Gesichtern ansahen und sich die Nasen zuhielten.

„Ey, Alter, hast du einen fahren lassen?“, fragte Philip lachend und boxte Max an die Schulter.

Max rülpste: „Jo, war `ne lange Nacht gestern, heute, weiß nicht mehr.“ Er stimmte in das Lachen mit ein. Er nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche, die an seinem Gürtel hing.

Vor ihnen tanzten Libellen über dem Wasser, verschwanden aber, als erneut Blasen aufstiegen und die Oberfläche Wellen warf.

Philip fasste sich an den Kopf: „Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen.“

Max meinte: „Das ist bestimmt Sumpfgas. Wir sollten besser von hier verschwinden und Ute im Moorhus Bescheid sagen.“

Er wollte schon lossprinten, als Philip ihn am Hosenbein festhielt: „Siehst du das auch?“

Max drehte sich um und erblickte vier Schaufensterpuppen in Badebekleidung, die um einen Tisch herum saßen. Vor den Puppen standen Sektgläser und lag Geld auf dem Tisch, als würden sie um irgendetwas spielen.

Philip zählte auf, was er dort zu sehen glaubte: „Ich sehe den Enderdrachen aus Minecraft über den Teich fliegen und Steve sitzt in einem Boot und will eine Axt nach ihm werfen.“

„Oh Mann, bist du auf Drogen oder was?“ Max fühlte auch einen dumpfen Schmerz im Kopf. Er legte sich die flache Hand an die Stirn.

Philip wurde richtig schwindelig: „Siehst du denn gar nichts?“

Max wollte verschwinden, konnte sich aber nicht mehr von Stelle bewegen. Seine Arme und Beine wurden schwer. Er erzählte Philip, was er glaubte gesehen zu haben, aber die von seinem Unterbewusstsein projezierten Halluzination war weg.

„Wir müssen ganz dringend weg von hier.“

Jetzt begann der Teich wie ein Whirlpool richtig in Bewegung zu kommen.

Zu keiner Bewegung fähig, starrten die beiden jungen Männer auf das, was sich vor ihnen abspielte.

Etwas kam aus dem trüben Gebrodel an die Oberfläche: Einen guten halben Meter lang, grün-gräulich und von der Form her wie ein Baumstamm. Schlingpflanzen und Sonnentau hingen an dem Objekt herunter und ließen keinen klaren Körper erkennen.

„Ah, ein Krokodil!“, schrie Max und Philip, wieder bewegungsfähig, warf wie in Zeitlupe ein Stück Holz danach – verfehlte es aber.

Das vermeintliche Krokodil trieb gezielt auf die beiden zu.

Panisch und kraftlos, trotz des Adrenalins, krochen sie rückwärts vom Ufer zurück.

Max ertastete einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn dem Ungeheuer entgegen.

Es gab ein metallisch klingendes Geräusch.

Eine Detonation folgte und eine Wasserfontäne von mehreren Metern schoss in die Höhe und nach allen Seiten.

Gleichzeitig schleuderte die Druckwelle Philip und Max in die nächstgelegenen Büsche.

 

Philip erwachte als Erster aus seiner Ohnmacht. Er lag auf einer Rettungsliege und starrte in den Himmel in ein Wolkenband.

„Er wacht auf“, hörte Philip eine Stimme, wie aus weiter Ferne.

Er wollte sich aufsetzen, doch die Schmerzen in seinen Gliedern waren stärker, als der Drang aufzustehen.

Er besah seine Arme und entdeckte Blutergüsse, vom Sturz und Kratzspuren die von Dornenbüschen stammen mussten.

Philip drehte seinen Kopf und erkannte Max, der ebenfalls auf einer Liege lag und sich stöhnend zu regen begann.

Zwei Rettungs- und ein Notarztwagen standen auf dem Parkplatz vom Moorhus.

Das Moorhus, die Zentrale des Nabu in Gehlenbeck, lag ca. 10 Minuten Fußmarsch vom Unfallort entfernt.

Ute, Mitleiterin des Moorhuses, sprach gerade mit dem Notarzt.

Philip hörte, dass sie erst einmal zur Beobachtung ins Krankenhaus gebracht werden sollten.

Sie trat an Philips Seite: „Wie geht es dir?“

Alles um ihn herum drehte sich. „Mir ist immer noch schwindelig. Geht es Max gut?“

Ute hielt Philips Hand: „Ja, er hat, wie du auch, nur leichte Verletzungen. Ihr habt ziemliches Glück gehabt.“ Ute zückte ihr Handy und zeigte das Bild des Kraters, den die Explosion verursacht hatte. Er war zum Teil wieder mit Wasser vollgelaufen. Aber viel spannender war, was sich noch im Krater befand.

Die Überreste eines Kampfflugzeug aus dem 2. Weltkrieg. Deutlich erkannte man das Cockpit, Teil des Rumpfes und einen Seitenflügel. Es war nicht erkenntlich, ob es sich um ein deutsches oder um ein Flugzeug des Allierten handelte.

Philip erzählte was passiert war.

Ute erklärte: „Das war wahrscheinlich Methan gewesen. Das ist nicht weiter gefährlich und verursacht auch keine bleibenden Schäden. Nur Kopfschmerzen. Euer Krokodil war wahrscheinlich ein Torpedo oder Fliegerbombe, die sich im Lauf der Jahre vom Rumpf gelöst hatte. Das Wasser hat den größten Teil der Detonation abgefangen. Ihr kommt jetzt erst mal ins Krankenhaus. Eure Eltern wissen Bescheid und sind schon unterwegs. Gute Besserung euch beiden.“ Ute sah noch kurz nach Max und ging mit einem Polizisten wieder Richtung Moor.

Philip stemmte sich auf seinen Ellenbogen: „Ich habe gestern Minecraft gespielt und davon phantasiert, aber du hast Schaufensterpuppen gesehen, die Sekt trinken. Wie hast du denn deine Nacht verbracht?“

Max antwortete nicht und tat so, als sei er wieder eingeschlafen …

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