Von Lauretta Hickman

 

25.4.27
Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will!!

 

26.4.27
Hermine betrachtete den gestrigen Tagebucheintrag. Zittrige Handschrift. Trotz der emotionalen Dynamik unsicher. Wie die einer alten Frau. Und ja – mit 76 bin ich alt. Dieses hilflose Anlehnenmüssen will ich nur nicht haben. Wenn man mich auch ständig dazu einlädt: „In dem Alter, als Witwe“. Bequem wäre es.

Aber Entropie – geschieht. Von alleine. Aktiv entgegenwirken!

Hermine beschloss, ab jetzt kraftvoller zu schreiben. Nur für sich selbst. Und sie schrieb:

Ich liebe meinen Sohn!
Tu ich das?
Ja!! Ich liebe ihn.
Und mein Verdacht fühlt sich furchtbar an. Harald will mich, glaube ich, entmündigen. Für verrückt erklären. Unzurechnungsfähig. Bitte lass das Paranoia sein. Wobei, das gäbe ihm sogar Recht. Lustig.
Fakt oder Verdacht – ich fühl mich mit beidem gleich schlecht. Er ist wieder in Schwierigkeiten, glaube ich. Dabei kann er froh sein. Sie kümmern sich so gut um mich. Und Karl, mein lieber Karl, hätte seine helle Freude. An ihnen. Und an mir. Er hat sich immer an meinem Spaß gefreut. Und ich hab so viel Spaß mit ihnen!

Sie musste sich etwas überlegen. Sie aufeinandertreffen zu lassen, war keine gute Idee. Bisher wussten ja noch nicht mal die Nachbarn davon. Nur die Firma. Und Hervey.
Hervey!

Ich werde Hervey fragen. Ihm fällt was ein. Das spüre ich.

 

28.4.27
Jawoll. Es hat geklappt. Der geniale Hervey hatte eine Superidee. Ich wusste es! Er wird den Mund halten. Na, ich hab ihm auch was bezahlt dafür.
Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will!

 

29.4.27
Kaira und Kaizena wollen nicht. Ich hab sie erinnert, dass sie, neben ihrer Selbsterhaltung eine Prämisse haben: Mich, ihre Ownerin vor Unbill zu beschützen. Mein Wohlbefinden – ihre Priorität. „Eben. Deshalb.“ So die Antwort. Die Firma sagte, eine Woche sei kein Problem, das Material habe alle Stresstests überstanden. Gott, ich fühl mich so mies. Er würde es nicht verstehen. Und gegen mich verwenden. Wir üben das Zusammensein ja noch. Obwohl das schon gut klappt. Eine Woche ist zu schaffen. Haus und Garten packen das. Die Finanzen sowieso. Kainna hat begonnen, vorzukochen und einzufrieren. Lieblingsessen von Pete, Evie und Tom. Unterhaltung hab ich ja jetzt auch. Und ich freu mich so auf meine Enkel!! Zwei Mal im Jahr eine Woche ist mehr als andere haben. Bin dankbar.

 

1.5.27
Hinter den Scheibenwischern sah Harald das geöffnete schmiedeeiserne Tor. Graue Mauerschemen links und rechts davon. Dahinter aufdringliches Frühsommergrün und die dunkle Fläche des Schotterweges zum Haus hin.

Evelyn seufzte.
„Dem Himmel sei Dank! Angekommen, ohne Unfall. Ein Wunder.“

„Ist das wieder Kritik an meinem Fahrstil?“

„Nein, Harald.“, sagte Evelyn. In diesem verhassten Krankenschwesterton. „So ein Wetter ist und wäre für jeden Fahrer eine Herausforderung.“

Harald ließ den Wagen auf dem nassen Kies ausrollen, stellte schweigend den Motor ab und rieb sich die Augen.

„Was ist, können wir aussteigen?“ Pete von hinten.

„Ja“, sagte Evelyn. Bevor sie den Satz „Aber nehmt eure Taschen bitte aus dem Kofferraum“ beenden konnte, hatte Pete bereits die Türe aufgerissen. Die drei stürmten durch den strömenden Regen die breite Marmortreppe zum Eingang hinauf.

„Auch wenn ich nach wie vor das Gefühl habe, deine Mutter mag mich nicht – ich freue mich auf die Woche.“, sagte Evelyn.

„Hermine ist eigen. Ich versteh sie selber oft nicht. Mit dem Alter und seit Karls Tod ist sie merkwürdig geworden. Unberechenbarer. Ich mach mir Sorgen um sie.“

„Ja, Schatz, ich weiß. Deswegen sind wir ja auch hier. Wollen wir?“

Harald sagte: “Gehst du bitte schon mal vor? Ich mag nach der Fahrt kurz verschnaufen.“

„Natürlich.“ Die kühle Evelyn streifte ihren lindgrünen Popelineregenmantel über, warf einen kurzen, prüfenden Blick zu ihm und öffnete die Türe. Regenrauschen dämpfte ihr „Bis gleich, mein Lieber.“ Harald nickte. Dumpf schlug die Türe zu. Durch Wasserschlieren sah er sie aufs Haus zustöckeln. Endlich. Ein Moment alleine.

Mit einem Stöhnen, das schmerzerfüllter klang, als er sich fühlte, ließ er seinen Kopf auf die Hände sinken, die noch auf dem warmen Lenkrad lagen.
Tiefe Erschöpfung quoll nach oben.
Müde. Die gute Miene zum öden Spiel war er so müde.

Niemand weiß, wie es mir wirklich geht. Und ich hab niemanden, dem ich es sagen kann.

Traurigkeit mit einer Prise Scham verdickten die Erschöpfung.
Er widerstand mit Wut.

Nicht mal meiner Mutter kann ich mich anvertrauen. Ist das fair? Immer perfekt, die ewige Erwartung, die Enttäuschung, dass ich nie so heiter „was-kost-die-Welt“- erfolgreich bin wie mein Vater. Der tolle Physiker-Karl-Kerl. Dabei bin ich derjenige, der sich um sie kümmert. Meine feine Schwester hat sich ins Ausland vertschüsst. Und wird mir noch vorgehalten: „Schau, sie ist am MIT.“

Seine Hände wurden weiß, so umkrallten sie das Steuerrad.

Und meine Evelyn. Hitchcocks Traum. Nur bin ich leider nicht Hitchcock. Bloß ein Senior Partner Dipl.-Ing.-Patentanwalt. Sie werde ich als Erstes verlieren. Dann die Kids – keine Eliteschule, Ballett, Hockey, Auslandsreisen, Spielzeuge mehr: weg mit mir. Bin ich doch bloss die Cash-Cow.

Harald rief sich zur Ordnung. Diese wehleidigen Gedanken brachten ja nichts. Obwohl… der ganze Erwartungsdruck wäre weg. Endstation Campingplatz. Als Loser. Und er hätte seine Ruhe.

Harald erschrak.
Nein. Das ist nicht wahr. Das will ich nicht.
Und wenn ich doch mit Hermine rede? 120.000. Damit wäre ich gerettet.

Mit einem Ächzen stieg er aus, nahm aus dem Kofferraum so viel Gepäck wie möglich und spurtete zum Haus. Durchnässt und schwer atmend stand er vor der Türe. Niemand hatte auf ihn gewartet.

 

Das Abendessen verlief laut und ausgelassen. Hermine genoss es aus vollen Zügen. Es gab Petes Lieblingsessen: Hackbraten, Kartoffelbrei mit Zwiebel-Trauben-Sauce. Wenn sie nicht manchmal zoomen würden – sie hätte Pete nicht wiedererkannt.

„Dürfen wir morgen mit Opas Kopernikuskörpern spielen?“

„Natürlich“, sagte Hermine.
Bisher hatte sie es nicht übers Herz gebracht, die antike Studierstube anzurühren, die sich Karl auf dem Dachboden eingerichtet hatte – unter anderem mit kunstvollen Modellen kopernikanischer Sternenkörper.

„Ist deine Haushälterin nicht mehr hier?“, fragte Harald beiläufig. Später dazugekommen, bediente er sich aus den lauwarm gewordenen Schüsseln.

„Mashas Mutter ist krank geworden, also ist sie wieder nach Kroatien zurück. Wie du siehst, komme ich bestens zurecht“, sagte Hermine freundlich. Und defensiv.

 

In der Nacht ertönte im Gang vor den Zimmern ein schriller Schrei.
Hermine schrak auf, schlüpfte in ihren Morgenmantel und öffnete die Türe. Auf dem Perserläufer stand eine zitternde Evie im Nachthemd. Evelyn kam von hinten auf sie zu und fragte: „Was ist los, mein Schatz?“

Evie schluchzte: „Ich wollte zur Toilette. Da ist eine tropfende Kaufhauspuppe an mir vorbeigerannt!“

„Du hast schlecht geträumt, Evielein. Komm, wir gehen zusammen.“

Hermine fand Evelyn viel zu kühl. Aber sie war eindeutig eine gute Mutter.
Zurück im Zimmer machte sie den Bluetooth-Connector an.
„Was soll das? Eine von euch hat meine Enkelin zu Tode erschreckt!“

Kaizena antwortete: „Tut mir leid. Tokyo hatte eine plötzliche Baisse. Es wäre ein Verbrechen gewesen, nicht zu kaufen. Ich dachte, nachts ist es sicher. Wie du weißt, muss ich an den Rechner, um Zugang zu deinem Depot zu bekommen.“

„Unter keinen Umständen verlasst ihr den Teich diese Woche! Habt ihr mich verstanden?“

 

2.5.27
„Was ist denn das da Scheußliches in deinem Koi-Teich?“, fragte Harald.

„Ach, das ist eine Installation von Hervey. Der Künstler, du erinnerst dich? Er hat mir eine seiner Installationen so umgebaut, dass die Kois sich ihr Futter unten selbst holen können. Kunst und Kois – großartig, oder?“, fragte Hermine fröhlich in Haralds konsterniertes Gesicht.

 

Nachts klopfte es an Hermines Türe. Harald stand aufgelöst vor ihr.
„Ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird, Hermine! Als ich an deinen Rechner wollte, saß da eine Puppe aus deinem Teich und hat getippt. Und mir allen Ernstes den Zugang verwehrt!“

Eine Sekunde war Hermine versucht, den Spieß umzudrehen und sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei mit ihm. Sie entschied sich für Ehrlichkeit.

„Ok, Harald. Ich habe mir vier Personal Robots zum Preis von drei gekauft. In der Betaphase. Für meine wöchentlichen Berichte an die Firma erhalte ich später ein Upgrade für ihr Exterieur. Und lebenslangen Service. Es war Teil des Deals, dass sie jetzt noch aussehen wie Schaufensterpuppen. Eine kümmert sich um Technik und Finanzen und das sehr gut. Eine ist meine Gesellschafterin. Eine meine Haushäl…“

„Was hast du für diesen Irrsinn bezahlt, Mutter?“

Hermine rief aufgebracht: „Es ist mein Geld. Ich kann damit machen, was ich will! 74. 000 Euro.“

„Hast du jetzt völlig den Verstand… Das hat Konsequenzen!“

Hermine sah ihrem wütend davonstürmenden Sohn nach.
Etwas riss in ihr.

 

 

In der PI 32 Grünwald schob Hofer unfreiwillig Dienst. Die krankheitsbedingten Ausfälle nahmen neuerdings überhand. Elendsmüde sinnierte er vor seiner Schreibtischlampe aus den 60ern über den Tagesberichten. Gruber saß rechts hinten in der Ecke, vor der wegen ständiger Leuchtmittelknappheit gleichen alten Lampe und hielt sich mit Sudokus wach. Gerade als Hofer dachte, er könnte mit dem schnarchenden Mayr im Ruheraum tauschen, kam ein Notruf rein.

„Polizei-Notruf?“

„Die KI, getarnt als Schaufensterpuppe in der Kunstinstallation für die Kois meiner Mutter, verfolgt mich. Sie versucht, mich umzubringen!“, schallte es blechern aus dem Lautsprecher.

Hofer brauchte eine Sekunde. „Könnens des bitte wiederholen?“

Die erregte Männerstimme wiederholte. Hofer sah zu Gruber und machte das Zeichen für „Verwirrt/Drogen“. Gruber nickte.

„Wo sind Sie?“

„Hubertusstraße 24. Bei Dr. Hermine Schoch.“

„Mir san unterwegs. Bleibms, wo Sie san!“.

 

9.5.27
Also, dass das so eskaliert! Und sich so umdreht.

Das tut mir leid. Ich wollte das nicht.
Harald wird jetzt in der Klinik auf Burnout behandelt.
Kaizena schaut sich seine drohende Insolvenz an.

Ich lass ihn nicht hängen.

Er ist doch mein Sohn.

 

 

V2 9983 Z