Von Amelie Honsuki

Sie hatte sich bis hierher durchgekämpft. Nun stand sie vor ihr, die Zehen schmerzten, ihr war kalt. Das Zittern versuchte sie zu verbergen, doch es wurde immer stärker. Inzwischen wackelte das linke Knie wie der Brückenpfeiler einer Bambusbrücke, würde eine Wasserbüffelherde im Gleichschritt drüber stampfen.

Gerne würde sie etwas über die freien Schultern legen und den Rock, wenn man diese Borte um ihr Becken so nennen durfte, tiefer ziehen. Sie biss die Zähne aufeinander und dachte darüber nach, ob man sie sich selbst aus dem Mund beißen könne.

„Du hast diese Woche leider nicht viel Leistung gezeigt!“

‚Wie bitte? Ich bin diese bescheuerte Hochhauswand hinunter marschiert, als wäre ich beim Windowshopping. Währenddessen ich die gesamte Zeit betete, das Seil möge halten und mich fragte, wieso ich diesen Mist überhaupt mitmache‘, Lisa hielt den Atem an.

„Du hast auch leider wieder beim Walk mit den Armen geschlackert!“

‚Es war ja auch saukalt, als ich durch diesen Eisregen lief und der Fotograf ständig nur brüllte: Confidence, confidence!‘

„Und du hast wiederholt meine Anweisungen nicht beachtet, dass ich mehr Ausstrahlung sehen möchte, Abwechslung, Wandelbarkeit!“

‚Wenn die wüsste, dass mich kurz zuvor die anderen vier Mädels wieder gemobbt haben, niemand hat mit mir gesprochen und kam ich in deren Nähe, flüsterten sie. Hat die Frau eigentlich eine Ahnung, was hier abgeht? Ich weiß doch, welche von den Mädchen zu große Schuhe bekam, oder welcher die Füße eingecremt wurden, flogen in der gleichen Runde raus. Stürzten oder stolperten unweigerlich beim Walk. So wie ich diesmal in den so engen Schuhen, dass man meinen könnte, ich wäre die böse Schwester von Aschenbrödel und müsste mir die Ferse abhacken. Ich hatte heute auch einen merkwürdigen Schritt, weil jeder schmerzte. Ein anderes Mal nehmen sie für die Abschußkandidatin einen Rock – ein Kleid, das sich so eng um die Fesseln schließt, dass du gar keine Chance hast zu laufen. Wie ein Stolperdraht schnürt es dich ein! Warum mache ich das hier, wenn ich alles verabscheue? Peinlich! Also los, Alte, sag deinen Spruch!‘

Die dramatische Musik hatte ausgesetzt, das Schweigen war wie das Sirren eines gespannten Fadens kurz vor dem Zerreißen.

„Und du weißt, Lisa, nur eine kann Deutschlands nächstes Supermodel werden! Was glaubst du eigentlich, wie viel Kraft mich das gekostet hat, da anzukommen, wo ich heute bin? Eiserner Wille!“

‚Ja, ich weiß, bla bla bla!‘, dachte sie und musste nun darauf achten, nicht die Augen zu verdrehen, denn die Kamera rauschte nun ganz dicht heran. ‚Warten sicher auf Tränen! Blödes Pack!‘

Also schaute sie auf den Boden. ‚Mach schon, du Kuh!‘

„Und darum, liebe Lisa, habe ich heute leider keine Rose für dich!“

„Ja, das habe ich mir bereits gedacht, Dank für alles, ich habe hier viel gelernt über das Leben, Schönheit und Menschlichkeit!“

„Das freut mich“, kreischt Vera mit ihrer spitzen Stimme, „und dazu machen wir hier das. Ich wünsche dir für deinen weiteren Lebensweg alles Gute!“ Die Augen leuchteten wie LED-Lampen. Die Frau war ihr die ganze Zeit unheimlich. 

Sie drehte sich um, wartete nicht diese falsche Umarmung, geheuchelten Mitleids ab, zog die fiesen Highheels aus, die viel zu eng waren. Die Zehen bekamen einen Schock nach dem Blutstau. Es schmerzte. Doch sie war frei. Am rechten Mittelfinger, den sie gestreckt hatte, hing nun das Schuhpaar und schaukelte kichernd hin und her. Lisa schlappte betont langsam in den Backstage-Bereich. ‚Das werden sie sicher nicht im Fernsehen zeigen.‘

Als sie den Raum betrat, der schon durch das Neonlicht und die Betonwände kalt war, schlug ihr zusätzlich die menschliche Unterkühlung entgegen, wie ein nasses Tuch kurz vor dem Gefrieren. Ein Scheuerlappen vom Winterbalkon, der nicht getrocknet war, wurde ihr ins Gesicht geschlagen.

Sie schaute in acht Augen: Sarah, Mira, Jessie und Cora. Grell geschminkt. Kaum eine Regung, nur aufgerissene starrende Augäpfel! Bis Sarah verlauten ließ: „Und?“

„Ich bin raus!“, sagte Lisa und flüchtete sofort aus dem Raum weiter zur Garderobe, um sich umzuziehen. Sie wollte so schnell wie möglich in die Unterkunft, ihre Sachen packen und weg. Weg, weg, weg! Sie hörte deutlich noch ein: „War ja klar!“.

‚Bitches!‘

Sie würde zurückfliegen, Düsseldorf! Sie würde ihr Studium fortsetzen und Lehrerin werden, wie der erste Plan war. Warum hatte sie sich überreden lassen, hier mitzumachen? Fragte sie sich wieder und ahnte, Eitelkeit ist ein schmieriger Verführer. Einige würden sicher behaupten: „Platz fünf! Ist doch super!“.

Schnell hatte sie ihr Dress ausgezogen, ekelhaftes Material, klebte am Körper wie eine Plastikfolie.

Rein in Jeans und T-Shirt, Mantel, Tasche und raus! 

Als sie schon fast am Shuttle-Car war, fiel ihr auf, sie hatte ihr Handy vergessen. Mist! Musste sie also nochmal zurück. Der Regieassistent hatte vorhin gemeint, sie müsse sich beeilen, ihr Flieger ginge in zwei Stunden. 

‚Komisch, woher wussten sie vorher, wer heute nach Hause reisen würde? Alles abgekarteter Bullshit!‘

Sie wendete sich um und lief zurück. Die Halle, wo heute der Abschluss-Walk war, lag in einem parkähnlichen Bereich, neben einem See. An dem lief sie entlang, eine Abkürzung, nicht über die Asphaltauffahrt. Da sah sie Vera und die vier Mädchen, die sich gewiss aufs Finale freuten, am Ufer stehen. Sie wunderte sich kurz und hielt inne.

Hinter einer alten Ulme nahm sie Deckung und schaute hinüber. ‚Was machen die dort?‘

Sie hörte deutlich die kreischende Stimme von Vera.

„Ihr wisst, nur eine kann Deutschlands neues Supermodel werden.“ Die Angesprochenen nickten. Cora zuppelte am Träger ihres Badeanzugs. „Disziplin, Körperspannung bis zum Zerbersten, Wandelbarkeit, Flexibilität, unveränderte Körpermaße, die der Set-Card entsprechen und Körperspannung, Spannung, Spannung sind das A und O!“

Die Mädchen nickten. 

„Wir machen heute das Werbefoto für das große Finale. Also gebt mir ein bezauberndes Lächeln und haltet einfach still inne, wenn die Drohne um euch herumfliegt. Und niemand fasst das Geschirr auf dem Tischchen an, das zwischen euch schwimmt. Seid einfach nur disziplini-ie-rrrrrrrt.“

‚Das Kreischen ist wie das der Kreissäge durch Hartholz auf dem Hof vom Großvater‘, erinnerte sich Lisa.

Die Finalistinnen schritten in den See. Vorbei an Seerosen wateten sie und reckten ihre Körper, hoben ihre Arme, kniffen die Lippen zusammen. Das Wasser musste kalt sein.

„Hinhocken, um das Tischfloß!“, krächzte Vera.

Wie zu einem Kaffeekränzchen hockten die Mädchen nun an einem schwimmenden Tisch, hatten total bescheuerte Badekappen aus Gummi auf, wie Lisa sie einmal auf einem Foto ihrer Tante gesehen hatte. ‚Sowas trägt doch heute keine mehr‘, war sie sicher.

Dann erhob Vera die Hand, ein Wind kam auf, Blätter aus dem letzten Herbst wirbelten hoch und bildeten einen Strudel. Die Frau murmelte etwas und wurde lauter, eine Sprache, die Lisa nicht kannte. Deutlich glühten nun Veras Augen wie Holzkohle im lodernden Grill. Die Finalistinnen im Wasser schauten sich um.

Der Wirbel zog wie ein Miniorkan auf das Wasser. Vera rührte mit ihrem Arm in einer imaginären Suppe und trieb dadurch augenscheinlich den Strudel aus Laub, Sand und kleinen Zweigen an, bis er um die Mädchen kreiste. Lisa wurde schlecht und sie überlegte, ob sie dazu springen sollte, etwas tun könne?

Die Windhose hatte sich weit erhoben, die Models schrien, als ein Blitz aus dem Himmel zuckte, sich teilte und die Badekappen traf. Es krachte und der umlaufende Dreckhaufen fiel in sich zusammen.

Der Staub setzte sich langsam und Vera lief ungeduldig am Ufer auf und ab. Der Regieassistent lief nun in den See. Lisa traute ihren Augen nicht, als die Luft aufklarte. Im Wasser saßen Puppen, große Schaufensterpuppen! 

Vera begann schallend zu lachen, fies wie eine Baba Jaga.

Nach und nach wurden die Puppen aus dem Wasser geholt und ans Ufer gestellt. Als alle vier nebeneinanderstanden, entdeckte Lisa Flüssigkeit von den Plastikgesichtern rinnen, tränengleich.

Vera kreischte: „Im Gleichschritt, Marsch!“ Und die Puppen setzten sich tänzelnd in Bewegung. Tote Sinnbilder einer propagandistischen Konsumwelt.

„Scheiß aufs Handy!“, flüsterte Lisa und rannte in entgegengesetzter Richtung davon.

 

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