Von Franck Sezelli

Monika schaut versonnen auf die unter ihr liegende Wasserfläche und das gegenüberliegende Ufer. Sie hat eine mehr als zweistündige Wanderung über die Halbinsel hinter sich und streckt sich in der schon warmen Frühjahrssonne. Gerade legt eine Fähre aus Szántód an und sie beobachtet, wie einige wenige Autos und fast noch weniger Fußgänger das Schiff verlassen. Um diese Jahreszeit gibt es offenbar noch nicht so viele Touristen, denkt sie sich. Wir waren damals ja im Hochsommer da.

Gern erinnert sich die Leipzigerin an diesen Sommer. Auch damals hatten sie eine kleine Wanderung auf Tihany unternommen. Zwischen einsamen Feldern und Wiesen sind sie unter der heißen ungarischen Sonne als verliebtes Pärchen entlangspaziert, immer wieder von Küssen unterbrochen. Bis zum Kratersee Belső-tó, den sie heute vom Städtchen Tihany aus halb umrundet hatte, sind sie damals nicht gekommen. Mit Wehmut, aber auch Schmunzeln erinnert Monika sich daran, wie sie ihren Mann auf einer Wiese nackt fotografiert hatte. Natürlich hatte er auch sie als Eva abgelichtet. Was hatten sie für eine Angst, von Wanderern erwischt zu werden. Aber solche Verrücktheiten gehörten zur Jugend. Was mag aus den Fotos geworden sein?

Auch wenn sie nun allein hier am Balaton ist, langweilig wird es ihr nicht werden. Wie damals ist sie wenige Tage nach ihrer Ankunft nach Héviz gefahren. Der Plattensee lädt jetzt noch nicht so sehr zum Bade ein, da bieten sich Ausflüge in die schöne Gegend an. Und der Thermalsee in Héviz ist schon eine sehenswerte Besonderheit. Mit seiner Wassertemperatur zwischen 24 und 38 Grad je nach Jahreszeit kann man dort sogar im Winter baden. Die etwa 33 Grad waren schon sehr angenehm, denkt Monika an den Aufenthalt vor fünf Tagen zurück: Vielleicht sollte ich übermorgen wieder hinfahren. Versprochen habe ich es Anna ja.

Im Bad hatte Monika eine nette Grazerin kennengelernt, mit der sie sich lange unterhalten und prima verstanden hatte. Mit ihren 69 Jahren war die Frau aus der Steiermark auch nur drei Jahre älter als sie. Anna erzählte, dass sie oft nach Héviz kommt. Jetzt im Frühjahr sogar einmal in der Woche. Dafür nimmt sie die zweieinhalb Stunden Autofahrt gern in Kauf. Manchmal übernachtet sie auch in Héviz oder Keszthely, bevor sie am nächsten Tag zurückfährt. Am Donnerstag wollten Anna und Monika sich wiedertreffen.

 

Als die Leipzigerin von den Umkleideräumen kommend aus dem Gebäude tritt und über den See schaut, erfreut sie sich an den überall in vielen Farben blühenden Seerosen, weiß, rosa und lila. Gleichzeitig amüsiert sie sich innerlich wieder über den seltsamen Anblick der Badenden mit den bunten Schwimmnudeln. Als sie seinerzeit mit ihrem Mann hier war, hatten sie wie alle die schwarzen Schwimmreifen benutzt, die an Autoreifen erinnerten.

Da sieht sie eine Frau winken und erkennt ihre nette Bekannte aus Graz. Monika steigt die Treppe hinunter ins Wasser, das sie warm umfängt. Sie macht ein paar Schwimmzüge und merkt wieder sehr schnell, wie anstrengend das ist, sich in diesem badewannenwarmen Wasser zu bewegen. In nostalgischer Erinnerung hat sie sich bei der Ausleihe für einen Schwimmreifen entschieden. Sie findet das bequemer als diese Schaumstoffnudeln.

Da ist sie sich mit Anna einig, die sie freundlich begrüßt: »Griaß’di, schen, dass‘d do bist, Monika.«

»Einen schönen guten Tag, Anna. Ich freue mich auch, dass du da bist. Wie geht es dir?«

»Mir geht es prima, wenn man von den üblichen kleinen Wehwehchen absieht, die wohl zu unserem Alter gehören. Das Wasser wird mir wieder guttun, ihm sagt man viele Heilkräfte nach. Ich bin übrigens schon zeitig angekommen und habe mir noch ein kleines Frühstück im Hotel Spa gegönnt.«

»Das ist das Hotel gleich hier nebenan, gell?«

»Ja, dort bin ich mit Maria ins Gespräch gekommen, einer jungen Frau, die ein paar Tage zum Ausspannen in Héviz ist. Sie wollte auch gleich noch kommen. Du wirst sie auch mögen. Da ist sie ja schon.« Anna winkt einer jungen Frau zu, die unschlüssig auf der Treppe steht. Dann macht sie die beiden Frauen miteinander bekannt.

»Das ist Maria, von der ich dir gerade erzählt habe. Maria, ich darf dir Monika vorstellen, die ich vorige Woche kennengelernt habe. Sie kommt aus Leipzig und macht in Erinnerung an einen früheren Aufenthalt gerade Urlaub am Balaton.«

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich kenne Leipzig, eine schöne Stadt. Da war ich mal beruflich auf einer Tagung.«

»Interessant. Woher kommen Sie? Sind Sie Ungarin oder kommen Sie auch aus Österreich wie Anna? Ich kann Ihren Akzent nicht richtig einordnen.«

»Sagen Sie doch einfach Du! Ich bin mit 36 Jahren ja viel jünger als Sie beide. Ich wohne etwas über zwei Stunden von hier entfernt und liebe Héviz. Deshalb komme ich immer wieder gern für einen Kurzurlaub her. Meine Arbeit in der IT-Branche fordert mich völlig, ab und zu brauche ich da eine Pause. Zum Glück hat mein Mann nichts übrig für das Thermalbaden. So kann er gut auf unsere Kinder aufpassen, wenn ich unterwegs bin.«

»Wenn du das möchtest, duze ich dich gern. Aber dann musst du mich auch duzen. Ich bin Monika, aber das weißt du ja schon. Und woher kommst du nun, wo du so gut deutsch sprichst?«

»Ich komme aus Dunajská Lužná südöstlich von Bratislava. Meine Oma hat nur deutsch gesprochen. Unser Ort hieß früher Tartschendorf. Die ganze Gegend war deutschsprachig. Meine Mutter hat einen Slowaken geheiratet und konnte deshalb nach dem Krieg bleiben. So bin ich zweisprachig aufgewachsen.«

»Das gefällt mir. Ich beneide immer Leute, die dieses Glück hatten.«

»Das verstehe ich, es bringt mir beruflich einige Vorteile.«

 

Den drei Frauen nähert sich, während sie lebhaft miteinander plaudern, eine schwarzhaarige attraktive Frau, die Monika so um die sechzig schätzt, ebenfalls in einem dieser altmodischen Schwimmringe. »Entschuldigen Sie bitte«, spricht sie die Frauen an, »ich höre Sie deutsch sprechen, darf ich mich zu Ihnen gesellen?«

»Aber gern doch«, antwortet Anna für alle drei, »wir haben den See doch nicht gepachtet und lieben Gesellschaft.«

Schnell machen sich die drei Frauen mit Erzsébet bekannt, die einfach Erzsi genannt werden möchte. Sie ist tatsächlich sechzig und kommt aus Visegrád am Donauknie. »Ich liebe es, deutsch zu sprechen und freue mich über jede Gelegenheit dazu. Ich gehöre zur ungarndeutschen Minderheit in meinem Heimatort und trotz meiner Arbeit im Tourismusbüro spreche ich viel zu selten meine Muttersprache.«

»Was machst du hier in Héviz, Erzsi?«, fragte Anna, »du entschuldigst, wir haben uns hier aufs Du geeinigt.«

»Das ist schön, gefällt mir. Ich wohne nebenan im Hotel Spa und mache wie jedes Jahr im Frühling eine Kur, habe rheumatische Beschwerden, die danach immer bis Weihnachten abklingen.«

»Dann täusche ich mich nicht, Erzsi«, warf Maria ein, »und habe Sie, Entschuldigung, dich schon des Öfteren mit deinem Mann im Hotel und auch im Park gesehen.«

Die Sechzigjährige geht darauf nicht ein, sondern fragt in die Runde: »Wenn wir hier schon so schön zusammen sind, habt ihr nicht Lust auf ein Glas Törley Gála, einen prickelnden trockenen Sekt? Ich habe da nämlich eine Idee.«

Die anderen Frauen sehen sich ein bisschen erstaunt an und nicken dann bejahend. Schon ist die lebhafte Ungarndeutsche unterwegs ins vieltürmige Badehaus. Sie kommt strahlend zurück und ruft schon von Weitem: »Gleich geht es los. In der letzten Woche habe ich dort hinten, etwas abseits, ein paar Angestellte beobachtet und dachte mir: ›Das wäre auch etwas für mich‹. Jetzt war die Gelegenheit, danach zu fragen. Wozu kann man Ungarisch?«

Behutsam folgen ihr im Wasser zwei junge Männer. Einer schiebt einen schwimmenden Tisch vor sich her, auf dem vier Sektkelche stehen, aus Sicherheitsgründen aber nicht aus Glas, sondern aus Acryl, wie sie später bemerken. Der zweite trägt einen Sektkühler, gießt den Sekt in die Gläser und lädt die Frauen ein, sich um den Tisch zu gruppieren. Dann ziehen die beiden Männer sich diskret zurück.

»Egészségedre! Auf euer und unser Wohl! Santé!« Erzsébet hebt ihr Glas und stößt mit den anderen an. »Das ist doch eine tolle Erfindung! Die Angestellten, die ich in der Rezeption danach gefragt habe, meinten, sie wollen das demnächst generell in ihr Angebot aufnehmen. Es gibt nur noch ärztliche Bedenken, aber man kann ja an den Tischen auch Orangensaft trinken. Mit euch lasse ich mir aber Sekt schmecken. Auf dass die Heilwirkung des Thermalwassers bei uns allen lange anhalten möge!«

 

»Aber nein! Nicht doch! Sie können uns doch hier nicht einfach so fotografieren!« Die Grazerin hat den Fotografen zuerst bemerkt, aber nur die Ungarin kann ihn in der Landessprache zurechtweisen, die anderen wehren empört mit den Händen ab. »Wir wollen uns doch nicht in irgendeinem Werbeprospekt wiederfinden«, echauffiert sich Erzsébet und redet weiter auf den jungen Mann mit der Kamera ein.

Jedenfalls versucht er die Frauen, auf deutsch zu beruhigen: »Tisch mit Sekt interessantes Motiv. Euch Frauen Photoshop. Niemand erkennen! Bitte, bitte Erlaubnis!«

Monika spricht es aus: »Wenn er das ehrlich meint mit Photoshop, dann werden wir alle wie die blonden Püppchen auf den Fernsehzeitschriften aussehen, von denen ich Woche für Woche denke, die hatte ich doch letzte Woche schon auf dem Titelblatt. Dann macht mir das nichts aus.« Anna und Maria nicken zustimmend.

»Wenn du und dein Mann nichts dagegen haben«, sagte Maria zu Erzsi, »der wird sich sowieso ärgern, heute nicht mitgekommen zu sein.«

»Gut! Meinetwegen!« Die Ungarin sagte ein paar Worte auf ungarisch zu dem Fotoreporter, worauf der »Versprochen ist versprochen!« den vier Frauen zuruft.

»Ich sehe die Fotografiererei vor allem deshalb kritisch, weil László, mit dem du mich immer gesehen hast, Maria, nicht mein Ehemann ist. Er ist noch ein bisschen jünger als ich und ein sehr guter Gesellschafter. Man könnte sagen, von alter Schule. Was wäre denn eine Kur ohne einen Kurschatten?«

     Aus der Glanzbroschüre „Balaton 2024“ von Magyar Turisztikai Ügynökség  ©Gipsz Jakab

 

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