Von Peter Burkhard
Zürich, im Juni 2004
Mein lieber Cédric
Hast Du meine Zeilen vermisst?
Wie Du weißt, hält mich mein noch frisches Singledasein ganz schön auf Trab. Weshalb ich, Du magst es mir nachsehen, das Briefeschreiben vernachlässigt habe. Mea culpa.
Heute aber melde ich mich wieder einmal, um Dir von einem besonderen Ereignis zu berichten:
Literaturprofessor Krantz – erinnerst Du Dich an ihn (?) – ist in unseren Kreisen bekannt für seine ausgefallenen Ideen und Aufgabenstellungen. Daran hat sich nichts geändert. Was er allerdings gestern Nachmittag von uns verlangt hat, ist schon extraordinär. Er führte unsere Gruppe ‚kreatives Schreiben für Senioren‘ an einen Teich im botanischen Garten und machte an einer leicht abfallenden Uferböschung halt. Listig lächelnd zeigte er auf ein skurriles Damenkränzchen inmitten blühender Seerosen und bemerkte bloß: „Schreiben Sie zu dieser Spielrunde eine Geschichte! Die beste, wenn es denn eine gibt, werde ich in meine nächste Anthologie aufnehmen. Das sollte als Ansporn genügen.“
Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als er innehielt, sich noch einmal umdrehte und uns erklärte: „Ach ja, wo und wann Sie Ihre Aufgabe erledigen ist Ihr Ding. Abgabetermin ist zu Ende des Monats. Schreiben Sie gut.“
Kaum war er weg, begann das große Lamentieren und Palavern über Krantz’ sonderbaren Einfall. Von Scherzkeks und Witzbold war die Rede, einer verstieg sich sogar zur Meinung, es handle sich um eine absolute Schnapsidee. Nur mir hüpfte das Herz, ich konnte es kaum glauben.
Auf eine solche Situation – einmal im Leben – hatte ich schon immer gehofft. Endlich bot sich mir eine einzigartige Gelegenheit, in ein Rennen zu gehen, bei dem ich von vornherein als Gewinner feststand. Und das tue ich ohne Zweifel. Mein Beitrag zur Anthologie – das weiß nur ich – ist praktisch gesichert. Was die anderen nämlich nicht kennen – gar nicht kennen können, auch Krantz nicht – ist der Umstand, dass ich der Schöpfer dieses spielenden Quartetts bin. Ich schuf das Werk unter einem Pseudonym, von dem bis heute keine Menschenseele ahnt, wer dahintersteckt. Ich bin gewissermaßen der Gestalter dieser Installation in Banksy-Manier. Selbst die feierliche Einweihung vor vier Jahren fand, so las ich damals im Tagblatt, bedauerlicherweise in krankheitsbedingter absentia des Künstlers statt. Krank, dass ich nicht lache. Ich verbrachte nämliche Stunden bedeutend lustvoller in einem Etablissement, wo Kranksein nur hinderlich wäre …
Lieber Cédric, die Zeit ist von mir fast unbemerkt schon weit fortgeschritten. Ich bin müde, deshalb mehr Erbauliches zu einem späteren Zeitpunkt.
* * *
Es ist nicht zu fassen, von den erhofften erholsamen Stunden keine Spur. Dafür droht mir schon jetzt frühmorgens der Kopf zu platzen. Wie konnte ich bloß so naiv auf den wirren Gedanken kommen, in diesem anstehenden Schreibgerangel bevorteilt zu sein? Das Gegenteil ist der Fall, und das ist mir mitten in der Nacht bewusst geworden. Von diesem Moment an war es um meinen Schlaf geschehen …
Natürlich weiß ich als Schöpfer der vier Ladys als einziger tatsächlich, was ich mit der skurrilen Spielrunde im Wasser zum Ausdruck bringen wollte. Und keiner könnte es demzufolge treffender beschreiben als ich. Doch wenn ich das tue, fliegt mein Inkognito auf, herrjemine. Im Ernst: Daran will ich keinen Gedanken verschwenden.
Jetzt, da Du mein Geheimnis kennst – als Einziger wohlverstanden und ich hoffe, dass es so bleibt – kann ich Dir verraten, was ich mit meiner Kreation ausdrücken wollte.
Das Spiel, das die Damen spielen, heißt ‚Tauchstation‘. Das ist der offiziell publizierte Name meines Werks und allseits bekannt. Wie die kunstinteressierten Betrachter mein Objekt interpretieren, sei ihnen überlassen. Nach meiner Auslegung geht es dabei um Macht, Geld, Ideologien, Strategien und nicht zuletzt um Fake News. Die vier Damen vertreten symbolisch die vier aktuellen Supermächte, welche um den Titel einer alleinigen Weltmacht kämpfen. Ich habe mich sehr bemüht – dem Champagner auf dem Spielbrett zum Trotz – durch Gesichtsausdruck und Körperhaltung der Spielerinnen ihrer Verbissenheit Ausdruck zu verleihen. Wer seine Trümpfe verspielt hat, sowohl Macht als auch Geld, muss unter Wasser abtauchen. Gewinnerin ist letztlich die Dame, welche alles an sich reißen und sich als letzte politisch über Wasser halten kann.
Was unseres Professors pseudogeniale Idee betrifft: Da bleibt mir nach meiner nächtlichen Erkenntnis nichts anderes übrig, als in mich zu gehen. Ich werde mir irgendeine Fantasiegeschichte, beispielsweise zum Thema ‚Spielnachmittag in den Hundstagen‘ aus den Fingern saugen. Es wird seinen Ansprüchen genügen, wenn der Plot plausibel ist, konfliktreich und mit einem Spannungsbogen, der zu einer Pointe führt. Eine der gängigen banalen Kurzgeschichten halt, mit der ich pro forma Krantz‘ Auftrag nachkommen werde.
Das wird reichen.
Denn seien wir ehrlich, Cédric, in eine Anthologie, wer will das schon?
Falls es Dir in nächster Zeit drum sein sollte, mein Schreiben zu erwidern, würde mich Deine Meinung zum Thema brennend interessieren.
Bis dahin verbleibe ich in tiefer, fortwährender Verbundenheit.
Dein Albert
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