von Raina Bodyk

 

Alina, Lisa, Ulla und Marie tummeln sich wie meist im Sommer an ihrem Lieblingsplatz. Der mit gelben Seerosen überwucherte Teich auf der kleinen Waldlichtung ist seit jeher ihr Treff, wo sie sich alles erzählen, voll Übermut über die Stränge schlagen: die erste Zigarette, das erste Verliebtsein, der erste Joint, schlechte Noten oder wieder mal Ärger mit den Eltern.

War es früher Limo, schleppen sie jetzt, kurz vor dem Abi, Sekt und die passenden Gläser hierher, immer auch dabei die kleinen roten Kästchen mit den Dingen, die Frau so braucht: Sonnencreme, Nagellack, Lippenstift und, ganz wichtig, der Spiegel.
Letzten Sommer haben sie einen kleinen, verrosteten Tisch entdeckt, den wohl jemand hier ‚vergessen‘ hat. Den haben sie tief in den Teichboden gedrückt, jetzt ragt nur noch die Platte aus dem Wasser.
Schnell ins Badezeug geschlüpft, waten sie mit dem Mitgebrachten dorthin. So lässt sich der heiße Augusttag aushalten. Mit Prösterchen und gelegentlichem Abtauchen ins kühle Nass.

Ihre Gespräche drehen sich an diesem Tag, wie fast immer in der letzten Zeit, um Patrick, den so gut aussehenden Neuzugang in ihrer Klasse. Jede in der Schule über zwölf träumt davon, in seinen Armen zu liegen, gestreichelt und geküsst zu werden.

„Ich darf mir gar nicht vorstellen, wie er nackt aussieht! Da wird mir ganz heiß.“

„Huhuh!“, grinsen die anderen Marie, die sonst eher gehemmt ist, an.

„Nein, mal im Ernst! Seltsam, dass ihn sich noch keine schnappen konnte. Versucht haben es ja genug“, wirft Alina dazwischen.

„Vielleicht ist er schwul!“

„Nie im Leben! Habt ihr nicht gemerkt, er guckt mir immer direkt in die Augen, wenn er an die Tafel muss. Da kriege ich jedes Mal Gänsehaut!“ Ulla errötet leicht.

„Quatsch, das bildest du dir tausendprozentig ein“, feixt Lisa.

„Von wegen! Wetten, dass ich ihn in Nullkommanichts erobere?! Welcher Einsatz?“, lockt Ulla.

„Nee! Was haltet ihr davon, wenn wir es alle versuchen? Dann wird es noch spannender“, widerspricht Lisa. „Diese männliche Jungfrau werden wir knacken! Er soll merken, dass er uns nicht einfach ignorieren kann. Bis jetzt haben wir doch noch jeden gekriegt, den wir wollten. Außer unserer braven Marie, die sich immer noch für die ganz große Liebe aufhebt. Am besten versucht es jeder mit einer anderen Methode.“

„Warum das denn? Du denkst mal wieder viel zu strategisch, wie bei deinen Aufsätzen. Immer machst du erst einen Plan. Ich brauch sowas nicht! Es ist doch ganz leicht: einfach anbaggern, bis er aufgibt! Seit wann denken Kerle mit dem Kopf?“ Ulla brüstet sich gern mit ihren angeblich zahllosen Eroberungen.

„Na ja, bisher hast du es ja noch nicht geschafft, genauso wenig wie die anderen. Mit meinem Plan können wir gleichzeitig herausfinden, wie Mann im Allgemeinen so tickt, worauf er am liebsten reinfällt. Wir werden einfach jede eine andere männliche Traumvorstellung verkörpern.“

„Das ist genial! Das wird bestimmt total lustig. Abends treffen wir uns hier und jede muss berichten. Wir wollen alles wissen!“; verlangt die neugierige Alina.

„Du machst doch mit, Marie?! Drücken gilt nicht!“

Die Angesprochene, gewöhnt, wegen ihrer romantischen Ader verspottet zu werden, errötet, traut sich aber nicht, sich auszuschließen.

„Und, Mädels, übertreibt nicht zu dolle, sonst merkt Patrick noch was.“

„Darauf trinken wir!“

„Yes! Das wird eine Supergaudi!“

„He, und um was wetten wir?“

„Um unser jeweiliges Lieblingskleidungsstück.“

Marie posaunt wagemutig: „Dann ist klar, dass ich gewinnen werde! Denn meine neue Jeansjacke mit den Spitzeneinsätzen kriegt ihr nur über meine Leiche!“

*

So beginnt das, wie sie meinen, harmlose Spiel.
Lisa, Klassenbeste, will mit Verständnis und Wissen punkten, interessiert an seinen Gedanken, Hobbys und Zielen. Fasziniert und gebannt wird sie seinen Vorstellungen lauschen und selbstverständlich genauso empfinden.

Ulla will ihre Feuer-und-Eis-Methode probieren. Ihn locken, bis er letztlich Zeichen von Empfänglichkeit sendet, und dann wird sie das Fräulein Rühr-mich-nicht-an spielen. Nach ihrer Theorie müsste ihn das in kürzester Zeit zum reißenden Wolf machen.

Die andern sind sich einig: Marie braucht nur sie selbst zu sein, etwas schüchtern und zurückhaltend, von Selbstzweifeln gequält. Dabei hat sie so intensive, blaue Augen, in denen man versinken möchte. Wenn Patrick nicht blind ist, muss sie ihn einfach verzaubern! Wenn er sie bemerkt, wird sie verschämt lächeln und ihren Blick mädchenhaft senken. Ganz ohne Verstellung. Er wird sich männlich und stark fühlen durch ihre Schwäche. Beschützerinstinkt funktioniert immer!

Da Alina, wie sie selbst zugibt, nicht so geschickt in weiblichen Verführungskünsten ist, schwört sie auf die Kumpel-Masche. Etwas burschikos, wird sie die sein, der er alles erzählen kann. Er wird nicht den geringsten Verdacht verspüren, sie könne etwas von ihm wollen. Trotzdem, mit ein bisschen Nachhelfen …!

 

Leider stellt sich nur allzu bald heraus, dass Patrick freundlich, aber ablehnend auf ihre Verführungskünste reagiert. Lisa, Ulla und Alina fühlen sich schwer in ihrem Selbstwertgefühl gekränkt. So etwas sind sie nicht gewöhnt. Sind sie nicht hübsch, modisch auf dem neuesten Stand, begehrenswert, ihre Partys berüchtigt? Ihre Welt erbebt bis in die Grundfesten. Je deutlicher sie gegenüber dem Objekt ihrer Begierde werden, desto mehr zieht es sich zurück.

Sie sind tierisch sauer auf diesen sturen Klotz. Außer gutem Aussehen hat er offensichtlich nichts zu bieten. Ulla wird sogar von ihm angeschnauzt, sie solle ihn endlich in Frieden lassen, er stehe nicht auf Modepüppchen wie sie und ihre Freundinnen. Das wurmt mächtig!

„Sag mal, Alina, weißt du, wie sich Marie schlägt?“, fragt Ulla.

„Nein, ich weiß nicht mehr als ihr. Nach Schulschluss ist sie immer gleich verschwunden. Wahrscheinlich drückt sie sich vor ihrem Teil der Wette. Du kennst sie doch.“

Lisa mischt sich ins Gespräch: „Findet ihr nicht auch, dass sie sich richtig abkaspelt?“

„Sie wird sich doch nicht ernsthaft in unseren Klassenschönling verliebt haben?“

„Quatsch! Das hätte sie uns doch gesagt.“

„Wer weiß!“, Alina ist nachdenklich geworden. „Wenn es ihr Ernst ist, ist es ihr vielleicht peinlich, uns das zu gestehen.“

„Möglich. Ich hätte es erzählt.“

„Ja, du! Marie war doch schon immer zurückhaltender als wir.“

„Das stimmt. Was machen wir, wenn sie sich da in etwas verrannt hat?“

„Wir müssen sie auf jeden Fall beschützen. Wir können nicht zulassen, dass sie sich ernsthaft in den arroganten Schnösel verliebt. Der wird ihr wehtun und sie bei nächster Gelegenheit fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Wir haben doch in den letzten Tagen erlebt, wie er drauf ist. Er hat einfach keinen Respekt vor uns Frauen! Er behandelt uns so verächtlich, als wären wir billige Schlampen“ wütet Ulla. Oberpeinlich, wie er sie kalt abgewiesen hat. Nur gut, dass niemand in der Nähe war.

„Also: Retten wir Marie!“

„Retten wir Marie!“

*

Die ‚geläuterten‘ Girls winken Patrick in der Pause aus  der Gruppe seiner Freunde heraus.

„Wir möchten uns bei dir entschuldigen. Wir haben uns in der letzten Zeit unmöglich benommen. Es tut uns leid, es war nur wegen …

„Ja-a, wegen …?“

„Äh, einer Wette. Na ja, wir wollten herausfinden, wer von uns dich am schnellsten rumkriegt.“

Patricks Gesicht wechselt langsam von Erstaunen zu Verstehen. Er starrt sie fassungslos an. Er dreht sich auf dem Absatz um und will gehen. Aber eins muss er vorher unbedingt wissen: „Hat Marie auch mitgespielt?“

„Natürlich, wir machen immer alles zusammen. Auch ihr tut es leid.“

Das konnte nicht sein! Eine Wette? Das Mädchen, das als erste sein Herz erobert hat, hat wirklich mitgemacht?! Sind alle Worte und Liebkosungen nur Lüge gewesen?

Er muss sofort zu ihr, springt auf sein Rad. Seine Enttäuschung über ihre bodenlose Gemeinheit, mit seinen Gefühlen zu spielen, entfacht einen Sturm widerstreitender Empfindungen in seinem Kopf. Die Haustür steht offen. Er stürzt mit langen Schritten die Treppe hoch in ihr Zimmer. Marie strahlt ihn an, streckt ihm sehnsüchtig ihre Arme entgegen. Doch er packt diese nur derb und stößt hervor: „Stimmt das, ihr habt um mich gewettet? Du hast mir nur was vorgegaukelt?“

Marie schließt für einen Moment entsetzt die Augen. Wie hat ihr vor diesem Moment gegraut. Er weiß es! Sie kann nur nicken, sein wütender Blick lässt sie verstummen. Seinetwegen hat sie sich in den vergangenen Tagen von ihrer Clique ferngehalten. Wollte die Wette einfach nur vergessen. Seitdem er sie das erste Mal geküsst hat, weiß sie, dass sie auf ihn gewartet hat.

Seine Raserei, seine verzerrte Miene machen ihr Angst. Dennoch gesteht sie tapfer: „Ja, es ist wahr. Aber du musst wissen, ich …“

„Oh nein, meine Liebe. Mehr brauche ich wirklich nicht zu wissen!“ Zutiefst enttäuscht und todunglücklich stößt er sie auf ihr Bett und verlässt das Zimmer.

In ihm herrscht ein einziges Chaos. ‚Ich Dummkopf dachte, ich hätte die große Liebe gefunden. Stattdessen haben die vier haben sich nur einen Scherz erlaubt. Einen Scherz!‘ Bitter lacht er auf.

 

Aufgebracht, nein, eher stinkwütend, eilt Marie so schnell sie kann zu ihren Freundinnen. Waren sie das überhaupt noch?

„Warum habt ihr das getan?! Ich liebe ihn und ihr erzählt von dieser beschissenen Wette. Wie konntet ihr nur? Es war uns ernst. Jetzt wird er nie wieder ein Wort mit mir wechseln!“ Sie schluchzt auf, Tränen kullern in kleinen Bächen die Wangen hinunter.

Wenn Marie so ein Wort wie ‚besch…‘ benutzt, ist die Lage ernst! Lisa will sie beruhigen:

„Aber Marie! Wir wussten das doch nicht. Du hast dich in letzter Zeit so rar gemacht.“

„Wir dachten, du bräuchtest vielleicht unsere Hilfe. Er hat uns so mies und herablassend behandelt, das wollten wir dir ersparen.“

„Ja, vielen Dank auch! Das werde ich euch nie verzeihen!“ und knallt die Tür hinter sich zu.

 

Alina starrt nachdenklich vor sich hin: „Mal ganz ehrlich, Mädels: Kann es sein, dass wir eifersüchtig und egoistisch waren, weil sie Erfolg hatte, wo wir versagten?“

Lisa zeigt sich einsichtig: „Nein! Na, ja, vielleicht ein bisschen …!“

„Wir müssen Patrick alles erklären.“

„Der wird uns nie zuhören!“

„Und Marie heult sich die Augen aus.“

„Wir müssen was tun! Für Marie!“

„Für Marie!“

 

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