Von Sabine Rickert                                                 

Am zweiten Urlaubsabend bekam Eva ein perfektes Alpenglühen zu sehen. Sie stand heute an der richtigen Stelle, zum besten Zeitpunkt und genoss dieses Lichtspiel. Sie liebte die Dolomiten, mit dem dazugehörigen Respekt. Das Bergpanorama wirkte auf sie äußerst beruhigend und in Kombination mit Almkühen und dem Klang ihrer Glocken, fühlte sie sich wie im Paradies. Da gab es aber die andere Seite der Tiroler Berge, die ihr Angst einjagte. Die Massive sind bekannt für ihre schwindelerregende Höhe, das Wetter schlug oft gefährliche Kapriolen und nicht zu vergessen der Steinschlag, geschweige denn die Lawinengefahr.

Die beiden waren nicht die sportlichsten Wanderer, die jeden Berg zu Fuß erkundeten, aber sie hatten ihre stattlichen Touren. Diese führten häufig zu Almhütten, die leckere heimische Spezialitäten bereit hielten. 

„Eva, morgen wäre das ideale Wetter für den Piz Boè. Es wird sonnig und klar. Die Aussicht wird perfekt! Hast du Lust, es zu wagen, dort hochzusteigen?“

„Ich denke schon, dann fahren wir zur Sellagruppe, wie vor zwanzig Jahren, im ersten Ehejahr, damit wir den diesjährigen Dreitausender von oben erleben?“, sinnierte Eva.

Eva war nicht begeistert von Gondelfahrten, doch anders kamen sie nicht zum Plateau. Dort oben hatte sie das Gefühl, auf dem Dach der Welt zu stehen. Auf dem Bergplateau brauchen sie dann nur zweihundert Höhenmeter überwinden, bis zur Spitze und der dortigen Hütte auf dem Piz Boè. Für den nicht unsportlichen Wanderer mit festem Schuhwerk ist es zu schaffen. 

„Thomas, dir ist schon klar, dass wir gealtert sind, genauer gesagt um zwanzig Jahr?“

„Nicht doch, ich denke, fünfzig ist das neue vierzig“, scherzte er. 

Solche Ausflüge verursachten bei Eva mittlerweile große Nervosität. In der Nacht schlief sie unruhig und wälzte sich hin und her. Es war immer derselbe Traum. Sie stand mit Thomas in einer überfüllten Gondel. Sie fuhren ungewöhnlich schnell los, bis zur Hälfte der Strecke, dann stoppte die Kabine, schaukelte hin und her und rutschte rückwärts wieder zur Talstation zurück. Wie in einer Endlosschleife wiederholte sich der Traum, bis sie am anderen Morgen von ihrem Mann geweckt wurde. Sie war wie gerädert.                    

„Heute Nacht warst du aber lebhaft, bist du schon einmal zu Fuß auf den Seller gegangen?“, scherzte er.

„Nein, du weißt, ich hasse Seilbahnen und hatte deswegen einen Alptraum“.

Der Fahrtweg zur Seilbahnstation war serpentinenreich. Die Bahnstation lag auf zweitausendzweihundert Höhenmetern. Für Eva fing jetzt das Abenteuer an. Sie hatte Höhenangst! Auf Sessellifte ließ sie sich gar nicht ein. Dort hing sie direkt draußen in der Luft, da gab es keine Kompromisse. Eine geschlossene Gondel war Voraussetzung für den Ausflug. Thomas kannte ihren Ehrgeiz. Seine Frau hatte nicht vor, auf die Berge zu verzichten, nur weil sie unter Höhenangst litt. Sie würde sich überwinden! Er bewunderte sie dafür.

Die Gondel war voll und sie standen in der Mitte, dadurch hatte Eva keinen Ausblick und Thomas verwickelte sie zur Ablenkung in ein Gespräch. Doch das funktionierte nur bedingt, denn Evas Gedanken sprangen zu dem Unglück vor über zwanzig Jahren, wo ein Kampfjet in die Zug-und Tragseile einer Seilbahn in Cavalese geflogen ist. Es ruckelt und sie blieben stehen. Sie fing an zu zählen, dabei atmete sie bewusst ein und aus, um sich abzulenken. Nach drei Minuten fuhren sie weiter und kurze Zeit später hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Geschafft! Die erste Hürde hatte sie bewältigt. 

„Warum folter ich mich derartig, bin mindestens um fünf Jahre gealtert“, scherzte sie. 

„Du bist tapfer Schatz und wirst gleich mit einem geilen Panorama und einen Kaiserschmarrn dafür belohnt, dazu ein leckerer italienischer Rotwein, dann wirst du auf der Rückfahrt die Seilbahn lieben“.

Sie wanderten gemütlich über das Plateau und genossen die Stille oberhalb der Baumgrenze. Es war die Grenze für sämtliche Pflanzen, es gab nur Felsen. Der Steig hoch zum Piz Boè war mit Seilen gesichert. Eva kletterte vorsichtig nach oben, trotz ihres bedächtigen Tempos kam sie am Piz Boè an. Eva verlor ihr Ziel nicht aus den Augen und setzte ihren Weg zur Hütte fort. Sie hatte Heißhunger auf den versprochenen Kaiserschmarrn, die Belohnung gehörte dazu. 

Der Rückweg war eine Quälerei. Sie kam besser hoch statt runter, obwohl man das nicht vermuten würde, so langsam wie sie beim Aufstieg war. Unten am Plateau angekommen, verfiel Eva in eine euphorische Stimmung, von der ihr Mann direkt profitierte. Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Sie war stolz auf sich, sie hatte den Berg bezwungen und der Aufenthalt dort oben hatte sie für die Plackerei entlohnt.

„Wau, da nehmen wir uns morgen den nächsten Dreitausender vor“, rief er erfreut. Ihr Ausbruch gefiel ihm. 

Sie nahmen einen Absacker im Restaurant der Bahnstation, bevor sie die letzte Gondel zurücknahmen. Diese Idee hatten viele Touristen, es war recht voll in der Kabine. Einige Insassen besaßen keine geruchshemmenden Wandershirts, es roch intensiv nach anstrengenden Touren. Eva hatte wenig Sicht aus der Gondel, somit konzentrierte sie sich auf das Ausschalten ihres Geruchssinnes, das erleichterte ihr die Rückfahrt etwas. Doch sie wurde immer wieder gestört, durch das stockende Fahren der Bahn. Die Gondel hielt kurz an, dann fuhr sie weiter. Es wurde nicht besser, bis sie auf halbem Wege stehen blieb. Eva wurde panisch: „Was jetzt? Waren wir zu spät? Hatte sich das Personal verkrümelt? Bleiben wir bis morgen früh hier hängen?“ Thomas versuchte sie zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck, sie sah durch ihn durch, weil sie seine Worte nicht mehr aufnahm. Sie reagierte nicht auf Ablenkung, sie konzentrierte sich auf die bevorstehende Katastrophe, und rechnetet mit dem Schlimmsten. Sie war im Ausnahmezustand!

Es kam eine Durchsage über Lautsprecher, dass die Gondel ein elektrisches Problem habe und Hilfe auf dem Weg sei.

„Wie auf dem Weg? Zu uns? Und was dann? Schieben die die Gondel runter?“

Thomas nahm sie in die Arme und schwieg erst einmal. Nur nicht unnötig Panik verursachen. Nach einer Weile wurden die Mitinsassen lebhaft und Eva schaute vorsichtig aus dem Fenster. Dort draußen kamen zwei Männer an Rollen am Halteseil auf die Kabine zugefahren. Sie stiegen in die Gondel, es war das Rettungsteam der Bergwacht. Sie teilten den Insassen mit, dass sie nacheinander abgeseilt werden. Die Seilbahn war nicht mehr fahrbereit und sie waren nicht in der Lage das Problem zeitnah zu beheben. Vor dem Einbruch der Dunkelheit werden alle Touristen unten sein. So war der Plan! Sie ließen sich nicht darauf ein, dass Eva so lange ausharren würde, bis das Ungetüm wieder repariert ist. In der Zeit, in der sie mit den Rettern diskutierte, wurden schon die ersten Insassen herunter gelassen. Für manch einen war es das pure Adrenalinabenteuer und man hörte sie Jubeln. Evas Verhandlungen waren erfolglos, die Männer von der Bergrettung waren resolut, denn sie hatten einen Rettungsauftrag. Sie schnallten ihr den Gurt an. Ab da bekam sie die Aktion nicht mehr mit, sie wurde steif wie ein Opossum, das angegriffen wurde. Sie merkte nicht, wie sie zum Ausgang geschoben wurde und dann in der Luft hing und langsam heruntergelassen wurde. Ehe sie sich versah, war sie auf der Wiese und man nahm sie in Empfang und befreite sie von ihrem Gurtsystem. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dort unten angekommen war. 

Ihr Mann wartete schon auf sie, denn sie war, durch die langen Diskussionen mit den Rettern, die letzte Person aus der Gondel. Man hatte ihn angewiesen, sich abseilen zu lassen. Sie hätten langjährige Erfahrung mit Panikattacken. Für ihn war diese Rettungsaktion das große Highlight seines Urlaubs. Er kam mit offenen Armen auf sie zu, in freudiger Erwartung, wie er ihr im Nachhinein erzählte. Doch sie drehte sich weg, denn ihr wurde übel und sie gab dem Kaiserschmarrn den fordernden Raum und erbrach sich auf die wunderschöne Alpenwiese. Trotz der Almkühe, die dort friedlich herumlagen und mit ihren Glocken läuteten, obgleich Alpenglühen in der untergehenden Sonne sichtbar, sie war außer sich. Die Wirkung der Dolomiten auf Eva hatte definitiv ihre Grenzen.

                                                  V3

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