Von Ingo Pietsch

 

In meinem Kopf pochte es und es fühlte sich so an, als würde er gleich zerbersten.
Ich atmete ein paar Mal tief durch und musste husten. Tatsächlich ließ der Druck in meinem Schädel etwas nach. Sogar der Pfeifton in meinen Ohren verwandelte sich in ein dumpfes Rauschen.
Langsam öffnete ich meine Augen. Um mich herum war völlige Dunkelheit. Ich war also taub und blind. Panik stieg in mir auf. Ich begann zu zittern, dass meine Zähne klapperten. Das musste der Schock sein. Die langen Atemzüge verwandelten sich in ein Hecheln. Übelkeit stieg in mir hoch. Ich wusste nicht, wo sich oben und unten befand. Ich schloss die Augen wieder, doch der Schwindel blieb.
Ich blickte wieder auf und sah die schwache Beleuchtung der Instrumententafel meines Autos vor mir. Anscheinend war mir nur schwarz vor Augen gewesen. Ich war also nicht blind. Wenigstens etwas. Immer wieder explodierten kleine Sterne vor mir. Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Egal. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren. Mein Hinterkopf tat weh. Möglicherweise durch den Airbag, als mein Kopf nach hinten geschleudert worden war. Okay. Linker Arm, in Ordnung. Rechter, schwer zu bewegen, aber auch noch dran. Die Beine. Taten ein bisschen weh, ließen sich aber nicht bewegen. Eingeklemmt. Die Haut am Hals brannte vom einschneidenen Sicherheitsgurt. Beim Atmen weiter keine Einschränkungen.
Meine Sicht klarte immer mehr auf. Der weiße Fleck vor mir, war der erschlaffte Airbag. Zwei schwache Schemen wanderten in meinem Sichtfeld ständig hin und her und quietschten dabei furchtbar, als kratzte jemand über eine Schultafel. Es waren die Scheibenwischer, die die Blätter verloren hatten und  die über die mit Rissen durchsetzte Frontscheibe zogen.
Langsam hob ich den verletzten Arm und schaltete den Scheibenwischer aus. Mit der anderen Hand drehte ich den Scheinwerferschalter, aber es wurde nicht heller. Beide waren wohl defekt.
Ich schmeckte Blut. Meine Zunge tat auch weh, also hatte ich wohl bei dem Unfall draufgebissen.
Ich versuchte meine Tür zu öffnen, bekam sie aber nur einen Spalt weit auf und die Deckenleuchte ging an.
Ich drehte vorsichtig meinen Kopf und stellte fest, dass alle losen Gegenstände im Auto nach rechts gefallen waren: Eine Wasserflasche, mein Rucksack, die Parkscheibe, Sonnenbrille, Handy.
Mehrere Szenarien entstanden vor meinem geistigen Auge. Das Auto stand an einem Abhang. Es lag in einem Graben. Es stand irgendwo schräg gegengelehnt.
Soweit ich sehen konnte, waren alle Scheiben noch heile. Bis auf die zerkratzte und mit Rissen überzogene Frontscheibe. Vermutlich hatte ich mich nicht überschlagen.
Ich löste den Sicherheitsgurt und musste mich mit der Linken am oberen Türgriff festhalten.
Durch den plötzlichen Lagerungswechsel wurde die Übelkeit wieder stärker und ich übergab mich.
Ich hätte heute Mittag keine Nudeln mit Tomatensoße essen sollen. Es roch jedenfalls furchtbar. Aber es ging mir jetzt viel besser.
Meine Beine waren tatsächlich unter der Lenksäule eingeklemmt worden. Hätte ich mich nicht festgehalten, wäre mein Oberkörper nach unten gefallen und ich hätte mich vielleicht an der Wirbelsäule verletzt.
Ich konnte um mich herum immer noch nichts erkennen. Während ich mich festhielt, versuchte ich mein Handy zu erreichen. Ich packte das Lenkrad ganz fest und streckte mich dabei soweit es ging.
Das Lenkrad dreht sich mit und veränderte den Stand der Räder. Ich merkte, wie das Auto weiter nach unten rutschte. Keine Ahnung wo genau ich mich befand, aber es waren sicherlich ein paar Meter, bis das Auto zum Stillstand kam.
Es gab knackende Geräusche und die Beifahrerscheibe bekam Risse, die sich spinnennetzartig immer weiter ausbreiteten. Mein Herz blieb einen Moment lang stehen, als die Scheibe mit einem lauten Knall in tausend Stücke zerplatzte. Im gleichen Augenblick schoss Wasser in den Innenraum und alle Gegenstände, die nicht leicht genug waren, um zu schwimmen, verschwanden in der Dunkelheit.
Auch mein Handy.
Ich versuchte ruhig zu bleiben und die Scheibe auf der Fahrerseite mit dem Ellenbogen einzuschlagen. Aber mir fehlte einfach die Kraft dazu und außerdem schmerzte jetzt auch noch mein Arm.
Immer mehr Wasser drang in das Fahrzeug ein und es rutschte noch ein Stück weiter.
Bloß keine weiteren ruckartigen Bewegungen mehr!
Ich fasste an meine Stirn und massierte sie. Beim Atmen hatte ich doch Probleme und spürte ein Stechen in der Brust, dort wo der Sicherheitsgurt gewesen war.
Ich sah wieder nach unten: Das Wasser hatte den halben Beifahrersitz bedeckt und stieg immer weiter. Ein Teddybär wurde in den Fond getrieben.
Lea!
Viel zu schnell ruckte mein Kopf nach rechts. Wieder explodierten Sterne vor meinen Augen. Das war mir jetzt egal. Ich musste wissen, was mit meiner Tochter war. Doch der Kindersitz hinten rechts war leer.
Panik überkam mich erneut. Mein Herz raste. Wo war sie nur?
Ich versuchte mich zu erinnern. Stück für Stück ging ich in Gedanken zurück. Ein Hupen. Scheinwerfer, die mich blendeten. Meine Fahrt am Kanal. Davor war ich beim Kindergarten gewesen und hatte Lea abgegeben. Meine Frau war zuhause geblieben. Zum Glück.
Es war in den frühen Morgenstunden und noch dunkel. Bestimmt würden mich ein Jogger oder ein Fahrradfahrer finden, die am Kanal ihr Training machten.
Ich könnte schreien oder um Hilfe rufen, aber ich bezweifelte, dass mich jemand hören würde.
 Außerdem war mein Mund inzwischen ganz trocken, dass es beim Atmen wehtat.
Das Wasser stieg immer höher. Eigentlich stieg es ja nicht, sondern mein Wagen rutschte Stück für Stück weiter nach unten.
Mit einem Mal flackerte die Innenbeleuchtung und ging schließlich aus. Die Instrumententafel auch.
Ich traute mich nicht, mich zu bewegen, um das Unausweichliche nicht zu beschleunigen.
„Hallo, Sie!“, hörte ich von links jemanden rufen. Ich drehte meinen Kopf und glaubte zuerst mein Spiegelbild zu erblicken. Doch es war ein junger bärtiger Mann, mit einem sanften Lächeln und einem Leuchten in den Augen. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“
Ich nickte und sagte: „Ich denke schon, aber meine Beine sind eingeklemmt.“, Schnell fügte ich hinzu:  „Berühren Sie auf keinen Fall das Auto, es rutscht immer weiter in den Kanal hinein!“
„In Ordnung, der Notruf ist schon gewählt, die Rettungskräfte sollten jeden Moment hier sein. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann.“
Irgendwie kam mir der Mann bekannt vor, denn er spendete auf seine beruhigende Art Ruhe und Trost, was mir wirklich half, die Situation besser durchzustehen. „Das Wichtigste ist, dass wir mich hier herausbekommen. Können Sie mal schauen, ob die Rettungskräfte schon in Sichtweite sind oder Hilfe holen? Ach, noch etwas“, mich durchlief ein wohliger Schauer. „kennen wir uns von irgendwo her?“
Der Mann lächelte, hob eine Hand und verschwand aus meinem Sichtfeld.
Das Wasser hatte die Mittelkonsole erreicht. Testhalber fasste ich in die dunkle Brühe. Sie war eiskalt. Obwohl das keine Rolle spielen würde. Ich würde garantiert nicht erfrieren …
Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und ich zuckte zusammen. Langsam machte ich mir wirklich Sorgen, ob ich hier lebend herauskam. Ich fragte mich, warum ich nicht völlig in Panik geriet. War es der Schock, der noch in meinen Knochen steckte?
Den Wagen durchzuckte ein Ruck und ich wurde von dem kalten Wasser bis über die rechte Schulter umspült. Es war so kalt, als würde ich von tausend Nadeln gepikt. Ich schlug voller Wut auf die Hupe und erschrak selbst über den lauten Ton. Dass ich da nicht schon früher drauf gekommen war, um auf mich aufmerksam zu machen. Jetzt war es eh sinnlos.
Bevor ich weiterdenken konnte, war es vorbei. Das Wasser schlug über meinem Kopf zusammen. Steif vor Kälte hielt ich die Luft an. Ich begann mit meinen Beinen zu zappeln und zerrte mit meinen Armen daran, doch die Lenksäule zeigte sich unnachgiebig.
Ich fluchte in Gedanken. Ich würde meine Frau und mein Kind nie wiedersehen.
Der Sauerstoff ging mir aus und ich fühlte mich ganz leicht.
Ich strebte einem Licht entgegen, dass mich magisch anzog.
Das Licht wurde immer heller, bis mich jemand ansprach: „Können Sie mich hören?“
Meine Antwort war nur ein Stöhnen.
Dieser Jemand leuchtete mir mit einer Stabtaschenlampe in die Augen: „Sie haben unglaubliches Glück gehabt. Ein paar Minuten später und wir hätten nichts mehr für Sie tun können.“
Man erzählte mir, dass der Wagen nur etwa einen Meter unter Wasser gestanden hatte.
Ein Treckerfahrer, auf dem Weg zu seinem Feld, war von einem jungen Mann in altmodischer Kleidung angehalten und gebeten worden hierher zu fahren. Er hatte eine bewusstlose Frau in ihrem Auto am Straßenrand entdeckt und war schließlich durch die Spurrillen im Gras der Böschung auf mich aufmerksam geworden. Mit einer Kette hatte er mein Auto aus dem Kanal gezogen. Die Kälte hatte dafür gesorgt, dass sich mein Kreislauf verlangsamt hatte und ich schnell wiederbelebt werden konnte, hoffentlich ohne Schäden davon zu tragen.
Ich war und bin immer noch sehr dankbar für den jungen Mann, der nicht ausfindig gemacht werden konnte …

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