Von Michael Kothe

 

Zu Beginn war es eine Hand. Doch wusste er, dabei würde es nicht bleiben. Zu oft hatte er gesehen, wie es weiterging. Nicht nur in Filmen. Es geschah tagtäglich und überall auf der Welt. Auch in Filmen schien es realistisch, dem Anblick konnte sich niemand entziehen. Special Effects nannten sie das. Die Hand, wie sie – zuerst tastend – der Hülle ihre Konturen aufzwang. Von innen heraus! Unwillkürlich stieß er ein bitteres Lachen aus. Wie ein Kondom. Wie eine Membran aus Latex. Ja, Latex ist das beste Material: Man kann von einer Seite daran greifen und daran schaben, von der anderen Seite aus erkennt man die Konturen, die Bewegung. Die Bewegungen werden heftiger, Erregung sieht man, Kampf, den Willen zur Flucht aus dem Kokon – nein, kein Kokon, eher wie Gummi. Ein Luftballon. Wieder nicht, denn ein Luftballon würde platzen. Also doch Latex.

Einen Augenblick lang entspannte er sich: Die Hand hatte sich zurückgezogen. Seine Bauchhaut war glatt, als wäre nie etwas geschehen. Doch er war sich sicher, das war es nicht gewesen! Sämtliche Muskeln spannte er an, sein Bauch straffte sich. Das Wesen durfte nie seine Bauchdecke zerreißen! Doch dann? Dann müsste es in ihm bleiben, könnte ihn von innen heraus auffressen, aushöhlen. Das wollte er auch nicht, dieses Schicksal zu akzeptieren, war er nicht bereit. Also entspannte er sich. Je weniger Widerstand er entgegensetzte, umso leichter und weniger schmerzhaft wäre es. Und wer weiß, welche Gefühle ihn danach mit dem Wesen verbänden – schließlich hätte er es geboren. Geschwisterliebe? Freundschaft? Oder doch Hass? Hass wegen des Eingesperrtseins in ihm? Er wusste es nicht, hilflos sank er auf die Liege zurück. Tränen lösten sich aus seinen Augenwinkeln, rollten hinab zu seinen Ohrläppchen, um dann unter seinem Nacken im Kissen zu versickern. Was war es? Wie sieht es aus? Kann man es gern haben – lieben? Filmszenen spulten vor seinem inneren Auge ab, ein Genremix aus Horror, Science Fiction und Fantasy. Grausame Gestalten, nichts Hübsches. Monster eben. Er schluckte.

Da, es rührt sich wieder! Unwillkürlich ballte er die Fäuste, ließ seinen Tränen freien Lauf, bäumte sich nicht auf. Hoffentlich würde der Schmerz nicht zu stark! Wehen. Er als Mann dachte an Wehen, stellte sich den Geburtsschmerz vor, versuchte es zumindest, aber es gelang ihm nicht. Es wäre auch zu tröstlich gewesen, hätte er das, was ihm bevorstand, wirklich als alltäglich betrachten können. Weil es die Natur so wollte. Aber er wusste, entgegen dem, was er sich einredete, war sein Los einzigartig. Wer hat es eingepflanzt? Wer hat dieses Wesen in mich hinein …

Unwillkürlich bäumte sich sein Körper auf, bis nur noch Schultern und Fersen sein Lager berührten. Es fängt wieder an. Entspann dich! Denk an … Er schaffte es nicht. Wenigsten widerstand er dem Drang hinzuschauen, dem Drang, den ein an Höhenangst Leidender verspürt, der am Abgrund steht. Dem Drang hinabzuschauen, zu springen. Auch ohne zu schauen wusste er, was geschah. Die Hand war wieder da, tastend suchte sie die dünnste Stelle, um sich mit einem Ruck zu befreien. Einmal eine Lücke geschaffen, wäre das Erweitern nur eine Frage der Zeit, nicht der Anstrengung. Ein Küken kam ihm in den Sinn, das mit seinem Eizahn seine Zelle aufbricht. Der Vergleich mit dem Finger, der zuerst ein Loch bohren würde, schien ihm vernünftig, doch es gab einen Unterschied. Die Hülle! Eine Eierschale war hart, sein Körper nicht. Das Wesen würde ihn weniger aufbrechen, sondern vielmehr aufschneiden, aufreißen. Babyschlangen wanden sich vor seinem inneren Auge, denn auch deren Eier waren weich. Wie sein Bauch. Würde das Schneiden weniger schmerzen?

Das Kratzen spürte er im Bauch, einen Schmerz wie ein Pieksen, ein Brennen wie mit einem heißen Eisen, unwillkürlich zuckte sein Bauchfell. Er öffnete den Mund, sein Atem ging flach. Dafür raste sein Puls. Der Schmerz steigerte sich, und bevor er das Bewusstsein verlieren konnte, ließ er nach, veschwand. Er verglich seinen Körper mit einer eitrigen Blase. Der Druck steigert die Empfindlichkeit, jede Berührung tut weh, bis man die Eiterbeule aufsticht und der Flüssigkeit einen Ausweg bereitet.

Sein geistiges Auge zeigte ihm den Finger, dessen Nagel seine Bauchdecke durchbohrte und das Loch zu einem kleinen Ritz erweiterte. Tastend streckte sich der Finger nach außen, befühlte die Haut ringsum, drückte und zog sich zurück. Zerren. Platz für zwei Finger, dann mehr. Alle reckten sich nach draußen. Finger zweier Hände, die sich spannten, auseinanderzogen, die klaffende Lücke aufrissen. Pause, Entspannung. Wie Luftholen.

Angespannt lauschte er in die Stille. Hoffte wider besseres Wissen, dass es so bliebe. Wartete dennoch auf das Geräusch, wenn Körpergewebe reißt. Ein Geräusch, nicht zu beschreiben, weil es nur der Betroffene hört. Wie den Peitschenknall, der sich beim Reißen der Achillessehne im Körper entlang des Skeletts bis ins Gehör fortpflanzt, ohne dass ein Außenstehender auch nur einen Laut vernähme. Wie wäre das Gefühl beim Reißen? Könnte, müsste er den Schmerz aushalten, oder würde sich eine Ohnmacht seiner erbarmen? Da: Bewegung, die Hände rührten sich wieder, rissen, zerrten, teilten. Er stellte sich vor, wie das Wesen aus ihm hervorkroch. Wie war das überhaupt möglich? Wie groß war es? Ihm gleich, dessen war er sich sicher. Doch wie hatte es in ihn gepasst, hatte Raum gehabt, sich zu bewegen? Seit ewigen Zeiten, seit er lebte. Und was geschah mit ihm, wenn er leer war? Würde sich seine Bauchhöhle, würde er sich wieder füllen? Oder ließe ihn das Wesen ausgehöhlt zurück, eine Hülle, die in sich zusammenfiele, weil die Kreatur vielleicht Organe mitnahm? Organe, die er zum Leben brauchte. Wollte er überhaupt weiterleben? Die Frage war zumindest dann angebracht, wenn das Wesen ihm den Schmerz auf ewig hinterließ.

Das Reißen schleuderte ihn aus seinen Gedanken zurück ins Zimmer. Sein Bauch war weit offen, das Wesen arbeitete sich ins Freie. Seinen Körper drehte es dabei auf die Seite, sodass mit ihm die Eingeweide hinausglitten. Ein Klatschen tönte vom Boden. Kein Geräusch, als hätte ein Mensch in die Hände geklatscht. Nach Nässe hörte es sich an, dickflüssig, schmatzend. Und von seinem Lager floss … Er wollte es sich nicht vorstellen! Schleim und Blut. Sein Inneres ergoss sich über die Liege und auf den Boden. Dieses Bild konnte er nicht verdrängen, obwohl er nicht hinsah. Immer noch hielt er die Augen zusammengekniffen. Wie ein Kleinkind, das sich die Augen zuhält, damit es für die anderen unsichtbar sei, hoffte er, das nichts geschähe, was er nicht sah.

Ein trockenes Räuspern hörte er, eine Stimme rau wie ein Reibeisen. Worte schmirgelten aus dem Mund des Wesens, die er nicht verstand, die vielleicht nicht wirklich Worte waren. Unwillkürlich öffnete er die Augen, um zu sehen, welche Ausgeburt aus ihm gestiegen war. Ein letzter Blick, bevor er verblutete, bevor sein offener Leib das Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgte, bevor er starb. Es war ohnehin vorbei. Zu erkennen, was er da geboren hatte, würde seine Lage nicht verschlimmern.

Das Halbdunkel offenbarte ihm einen Umriss neben seinem Lager. Eine Kreatur erhob sich aus kniender Haltung, hätte ihn sicherlich auch überragt, wenn er nicht sterbend daläge. Das Wesen beugte sich herab, ihre Blicke trafen sich. Entsetzt kniff er die Augen zusammen, drehte den Kopf zur Seite und konnte doch das Bild nicht verdrängen. Ein Mensch stand neben ihm, jedoch entstellt und missgestaltet. Gekrümmt, mit gekröpften Armen, mit einem Gesicht ohne Konturen, jedoch mit der gleichen fahlen Haut, die seinen Körper umspannte. Faltenlos, transparent sein Inneres preisgebend. Ein Mensch, aber nicht menschengleich.

Ein plötzlicher Gedanke machte, dass er sich zusammenriss und dem Wesen wieder den Kopf zuwandte. Könnte sich ein Gefühl der Verbundenheit einstellen? Ein letztes, damit er nicht ohne positive Emotion sterben musste, einfach nicht mehr wäre? Er zwang sich, die Lider zu heben und ihm ins Gesicht zu schauen, in dem er nun Augen erkannte. Augen, die glühten, die seine Gedanken fesselten und sie aufsogen, bis sein Gehirn leer war. Was die Kreatur krächzte, bekam er nur wie durch Nebel gedämpft mit: »Du hast mich getragen, du hast mich genährt. Hab Dank!« Im Rückblick auf den Schmerz und den Schrecken weigerte sich sein Geist, den Sinn der Worte anzunehmen. In einem letzten Aufbäumen seines Willens tat er endlich, was er die ganze Zeit vermieden hatte, um das Grauen nicht weiter zu steigern: Er schrie. Aus vollem Hals, aus voller Kehle verlieh er seinem Entsetzen und seinem Ekel Ausdruck, bevor er leblos aufs Lager zurücksackte.

 

Irgendetwas rührte sich. Rührte sich in ihm, rumorte in seinem Bauch. Völlegefühl –  gleich würde er die Toilette aufsuchen müssen. Er zuckte zusammen, schlagartig war es wieder präsent: das Wesen, das gleich aus ihm herauskriechen würde. Doch diesmal wäre er nicht allein, sein Schrei musste jeden Menschen im Haus in sein Zimmer gerufen haben! Entsetzt und hoffnungsfroh zugleich schlug er die Augen auf. Statt der tröstenden Helligkeit umfing ihn Dunkelheit. Hatte er sich seine Schreie nur eingebildet? Abrupt setzte er sich halb auf. Furchtsam tastete seine Hand unter die Bettdecke. Sein Bauch zeigte sich bis auf die kleine Beule glatt und unverletzt. Es gab keine Wunde, keine Nässe aus Schleim, Blut und Bauchflüssigkeit. Er zog die Hand wieder hervor, suchend fuhr sie zur Seite, fand den Schalter und drückte ihn. Flackernd und mit dem typischen Klacken erwachten die Neonröhren zum Leben. Das Licht und das Summen riefen die Erinnerung wach an die Leuchten im Operationssaal, in dem man ihm am vergangenen Tag herumgeführt hatte, um ihm die Angst vor der Operation zu nehmen. Die Angst, die ihn sein Leben lang gelähmt hatte, die Teil davon geworden war. Erleichtert seufzte er, ließ seinen Kopf aufs Kissen zurücksinken. Plötzlich war er sich sicher, dass der Traum nie wiederkehren würde. Morgen, morgen endlich würde man den parasitären Zwilling aus seinem Bauch entfernen.

 

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