Von Ludwig Anson

Fast ein Jahr lang hatte ich jede Nacht Alpträume gehabt. Meistens wachte ich mitten in der Nacht auf, fuhr im Bett hoch und riss die Augen auf. Mein Herz raste, meine Hände und Füße waren verschwitzt. Panisch blickte ich mich in dem noch dunklen Schlafzimmer um und suchte nach einer Ausflucht aus der Welt, in der mein Bewusstsein noch immer festzustecken schien, obgleich mein Körper wieder in die Realität zurückgefunden hatte. Erst wenn sich meine Augen nach ein paar Sekunden an die Dunkelheit gewöhnten und ich meine Umgebung erkennen konnte – das Bett, die Jalousien, den Körper meiner Frau, der sich, von mir abgewandt und in seine Bettdecke eingewickelt, beim Atmen leicht hob und senkte –, beruhigten sich mein Puls und mein Atem, und die Angst, die mich gerade noch aus dem Traum getrieben hatte, begann zu verblassen. Einige Minuten blieb ich so im Bett sitzen und betrachtete stumm meine Frau, wie sie im Bett lag und schlief. Anfangs fand ich Ruhe in diesem Anblick, doch bald kehrte die Angst auf eine noch erdrückendere Weise zurück. Am liebsten hätte ich sie dann aufgeweckt, ihr von meinen Alpträumen erzählt, ihr gesagt, dass ich Angst habe, aber die kleinen Medikamentenfläschchen und -packungen auf ihrem Nachttisch ermahnten mich, sie schlafen zu lassen, und so blieb ich stumm im Bett sitzen, bis ich irgendwann mein nassgeschwitztes Kopfkissen umdrehte und versuchte weiterzuschlafen. Ich weiß nicht, ob es die Angst war, die ich beim Anblick meiner Frau gespürt hatte, oder die Bilder des Traums, die immer wieder vor meinen geschlossenen Augen aufblitzten, aber ganz gleich, was ich auch versuchte, ich rollte mich meist die halbe Nacht in einem Dämmerschlaf von der einen auf die andere Seite und schaffte es erst in den frühen Morgenstunden wieder wirklich einzuschlafen. Wenn der Wecker mich dann nach kurzer Zeit aus dem Schlaf riss, waren die meisten Erinnerungen an das, was ich geträumt hatte, verschwunden. Was übrig blieb, waren einzelne Facetten, kleine Erinnerungsstücke – Chaos, Geschrei, Panik, das Bild, wie eine Hand mein Augenlid vom Augapfel wegzieht, um es mit einer Schere zu zerschneiden –, die Gewissheit, dass ich einen Alptraum gehabt hatte und die Müdigkeit, die mich zu dieser Zeit tagtäglich begleitete. Auf die Monate der Alpträume folgte eine Zeit der Stumpfsinnigkeit, in der ich lediglich funktionierte und weder tagsüber noch nachts träumte. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, dass dieser Zustand bleiben würde, und geglaubt, dass ich nie wieder träumen könnte, bis ich eines Nachts einen neuen Alptraum hatte.

Stumm und körperlos schwebte mein Blick über den Boden einer mittelalterlich wirkenden Kerkerzelle. An eine rohe Steinsäule gelehnt, saß ein einzelner Delinquent, um den Hals einen Ring, der ihn mit einer Kette an die Säule band. Über ihm, weit oben im Verließ, war ein kleines, vergittertes Fenster, durch das die letzten Sonnenstrahlen des Tages in sein Gesicht fielen. Ich sah diesem Mann nicht ähnlich und doch war mir absoluter Gewissheit klar, dass ich mich selbst betrachtete. Ich konnte die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht spüren, während sich die Nacht langsam in der Zelle ausbreitete und die Kälte vom unverputzten Steinboden durch meinen Körper zu ziehen begann. Es war mein letzter Abend auf dieser Welt. Am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufging, würde man mich aus dieser Zelle holen und mich in einen Raum mit einer Garrotte führen. Stumm würde man mich an die Maschine festschnallen, mir die Schlinge um den Hals legen und, ganz einem unumstößlichen Protokoll folge leistend, langsam den Mechanismus bedienen. Ich würde spüren, wie das kalte Metall beginnt die weiche Haut an meinem Hals zu umklammern, wie es mir langsam die Luftröhre abdrückt und den Atem nimmt. Der Schmerz würde zunehmen. Ganz instinktiv würde ich versuchen einzuatmen, auch wenn ich wüsste, dass es aussichtslos ist. Die Metallschlinge würde sich unnachgiebig immer weiter zuziehen. Langsam würde sich meine Sicht einschränken. Mein Körper würde sich immer unkontrollierbarer verkrampfen, während meine Handgelenke sich an den Fesseln wund scheuern. Dann würde alles schwarz werden. Ich würde mein Bewusstsein verlieren und sterben.

Ich kannte den Ablauf dieser Geschehnisse so deutlich, als hätte ich ihn schon hunderte Male erlebt und doch war mir klar, dass es das erste Mal sein würde, dass es nur dieses eine Leben und diesen einen Tod geben würde. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages im Gesicht blickte ich noch immer unverändert hinauf zu dem vergitterten Fenster. Ich fragte mich nicht, welches Verbrechen ich begangen hatte, ob es eine Gerichtsverhandlung und einen Urteilsspruch gegeben hatte, denn ich wusste, dass nichts davon stattgefunden hatte, dass nichts davon je hätte stattfinden können, denn ich war alleine in dieser Welt, die mit meiner Gefängniszelle begann und endete. Es existierte nichts außerhalb dieser Mauern, kein Himmel, keine Erde, keine Menschen, Tiere, Wälder, oder Flüsse. Selbst die Henker, die mein Leben am nächsten Morgen beenden würden, waren nicht mehr als stumme, mechanische Entitäten, die zwar in diesem Traum angedacht waren, sich aber noch nicht in ihm materialisiert hatten. Die Welt, in der ich mich befand, begann und endete mit Gitterstäben. Sie hatte weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft, die über meine Hinrichtung hinausreichen würde, und so hatte auch ich keine Vergangenheit und war bereits mit dem eisernen Ring um den Hals in sie hineingeboren worden. Nichts an ihr war zufällig, alles war zweckgebunden und der Zweck, dem alles diente, der einzige Zweck, zu dem diese kleine Welt geschaffen worden war, war es mich hinzurichten, so wie auch ich, der einzig vermeintlich lebendige Teil dieser Welt, nur zu einem einzigen Zweck in sie hineingeboren worden war: um hingerichtet zu werden. Es hatte kein Verbrechen gebraucht, keine Verhandlung und keinen Urteilsspruch. Meine Hinrichtung war nicht nur unausweichlich, sie war der einzige Grund warum ich und die Welt um mich herum überhaupt existierten. 

All das war mir, auch wenn ich es nicht in Worte oder strukturierte Gedanken hätte fassen können, schon während des Traums bewusst und doch hatte ich keine Angst, denn ganz gleich wie grausam und ungerecht meine Zukunft auch sein mochte, sie war unumgänglich. Weder hatte ich sie verschuldet noch gab es eine Möglichkeit sie abzuwenden. Ich war in diese Welt und dieses Schicksal hineingeworfen worden, nur um es jetzt, ganz seiner kalten, auf starren Bahnen laufenden Ungerechtigkeit unterworfen, über mich ergehen zu lassen. In meiner vollkommenen Machtlosigkeit leistete ich weniger Widerstand als ein Insekt, das, auf dem Rücken liegend, hilflos mit den Beinen strampelt, während der Schatten des Vogels es umkreist, denn ich dachte nicht einmal darüber nach mit meinen Beinen zu strampeln, sondern wartete stumm, dass der Schnabel des Vogels mich zerquetschen würde. Ich hatte nicht einmal die tollkühnste Hoffnung und eben das nahm mir die Angst. In einer Welt, in der man seinem Schicksal so vollkommen ergeben ist, dass man keine Hoffnung mehr hat es abzuwenden, kann man genauso wenig Angst haben, wie man Hoffnung in einer Welt ohne Angst haben kann und so ließ ich, kraftlos am Boden meiner Zelle sitzend, weiter die Bilder meiner Hinrichtung vor mir abspielen. Es gab keine anderen Gedanken, keine Orte, an die mein Geist hätte fliehen können. Ich hatte nicht einmal den Wunsch irgendwo hinzufliehen, denn in der Welt dieses Traums gab es keine Wünsche. Alles, was ich machen konnte, alles, was für mich überhaupt vorstellbar war, war es, alleine, eingefroren in diesem einen Moment, auf dem Boden meiner Zelle zu sitzen und stumm auf meinen Tod zu warten. 

Ich wachte nicht, wie früher, ruckartig aus diesem Traum auf, denn es gab keine Angst, die mich aus ihm hätte vertreiben können. Die Welt des Traums verblasste langsam, während die Realität an Schärfe gewann. Es war bereits später Morgen. Die Sonne schien durch die Jalousien hindurch und erleuchtete den Raum. Ich hatte lange geschlafen und fühlte mich doch, obwohl ich nicht mehr müde war, zu ausgelaugt, um mich zu bewegen. Stumm blieb ich mit offenen Augen im Bett liegen, drehte mich irgendwann um und schaute auf die leere Bettseite neben mir. In den kleinen Falten auf dem Kopfkissen glaubte ich kurz den Beweis zu sehen, dass hier noch vor kurzem jemand gelegen hatte – vielleicht wollte ich ihn auch nur sehen. Es kostete mich viel Kraft aufzustehen, aber irgendwann trieben mich die Erinnerungen aus dem Bett. Wie jeden Morgen nahm ich eine kleine, weiße Tablette und ging dann runter in die Küche. Ich machte mir einen Kaffee und setzte mich an den Küchentisch. Auch wenn mir bewusst war, dass ich nur geträumt hatte, hatte sich der Traum doch wie ein dunkler, schwermütiger Schatten, über mich und die Welt gelegt. Ich wartete darauf, dass die Tablette ihm die Bedeutsamkeit nehmen würde und schaute auf die Uhr. Bald würden die Kinder aufstehen. Es war Sonntag. Ich würde etwas mit ihnen unternehmen müssen. Vielleicht würden wir hinaus ins Grüne fahren – ein kleiner Spaziergang durch den Wald, ein Picknick, Sonnenschein. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf in die Hände und wartete…

 

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