Von Helmut Blepp
Am Montagmittag schlurft Wolle müde ins Lager.
„Haste mal `ne Fluppe“, fragt er, noch halb im Tran und Schleimbollen ins Gebüsch rotzend.
„Hab´ ich Kohle? Hier, dreh dir eine. Aber dünn, verstanden!“
Body, der frühdemente Ex-Wrestler, wirft ihm seinen Tabaksbeutel an die Brust.
„Wie siehst du überhaupt aus“, hakt er nach. „Ich hab´ von Frankenpaul gehört, dass du am Samstag mit Geld rumgewedelt hast. Und jetzt suppst du hier rum wie die Kamellendame.“
„Mann, frag nicht! Übles Ding! Natürlich konnte ich in der Unterführung einen Touri verarmen, aber es gab nichts dafür auf der Scene. Also bin ich Richtung Bahnhofsviertel und hab da `ne Ladung fest gemacht.“
„Oh Scheiße, wer kauft denn noch am Bahnhof, Alter“, empört sich Body, und Muffel, der gerade seinen ausgelüfteten Schlafsack zusammenrollt, stimmt zu: „Nur gestreckte Balkankacke! Kenn ich!“
„Weiß ich ja, Bros! Für mehr reichte die Kohle aber nicht. Und ich schwör´s euch: nie wieder! Als ich danach endlich zu mir kam, lag ich halberfroren hinter einem Glascontainer und hatte das totale Flattern. Ich hätte keine S-Bahn mehr geschafft, um ins Nest zu kommen.“
„Klingt ätzend“, bekundet Muffel sein Mitgefühl.
„Aber hier warste doch auch nicht in der Nacht“, wirft jetzt der Professor ein, der sich nach einem kurzen Mittagsschlaf hustend aus seinem Waschmaschinenkarton schält. „Ich erkenne jeden am Schritt. Überlebenstraining!“
„Nee“, bestätigt Wolle. „Mir war scheiße kalt, bin dann halt zu Kurti gewackelt, der mir ab und zu sein Sofa vererbt. Der hat die kuschelige Mansarde überm Chinesenpuff, voll mit Heizung und Fenster zu den Sternen. Aber die Nacht war eine Tusse bei ihm, die er klar machen wollte. Keine Chance auf Asyl, nur den Dachboden hat er mir gegönnt mit den staubigen Matratzen. `Ratz dich aus! Da oben kommt keiner hin´, hat er noch gemeint und mir den Schlüssel in die Hand gedrückt. Dann warf er seine Tür zu, und ich schleppte mich die Stiegen zu dem riesengroßen Speicher hinauf. Auf die erste Rosshaarmatratze, über die ich stolperte, ließ ich mich fallen. Und dann Koma, ihr versteht!“
„Kenn ich“, bestätigt Muffel. „Nicht mal eine Decke gibt Kurti zu.“
„Das ist wahr, verdammt“, nickt Wolle ab und schiebt sich an den Esbit-Kocher mit dem schwarzen Gebräu im Blechnapf heran. „Aber der Hammer kommt erst noch.“
Jetzt hat er die volle Aufmerksamkeit der anderen.
„Kann ich noch was Tabak haben“, fragt er, die Gelegenheit nutzend.
Der Professor, der ein Näschen für gute Stories hat, kramt seinen Beutel hinter einem Stoß Tageszeitungen hervor und fordert ihn auf: „Nun mach voran!“
„Ist ja gut“, beruhigt Wolle ihn. „Aber ein Schluck Kaffee wäre jetzt gut“, meint er, den Blick auf Body gerichtet. „Mein Gaumen ist so trocken, dass die Zunge dran kleben bleibt.“
Body schüttet einen Coffee-to-Go-Becher, der schon bessere Tage gesehen hat, halbvoll. Wolle nimmt ihn und nippt ein paar Mal an der Plörre, verzieht das Gesicht und kommt zur Sache.
„Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht. Ich weiß nicht, warum, aber etwas hat mich wohl geweckt. Der Speicher lag in dämmrigem Licht, weil doch Vollmond ist. Ich hab mich umgeschaut, ob da vielleicht irgendwo die Mäuse tanzen, und als ich dann hochschaue zum Gebälk des Satteldachs, sehe ich diese Gestalt.“
„Wer war´s denn“, fragt Muffel gespannt. „Einer von der Platte?“
„Nee“, antwortet Wolle schnell, und dann, mit gesenkter Stimme: „Das war gar kein Mensch.“
Body schüttelt mit einer abwehrenden Bewegung seine Verunsicherung ab. “Mach kein´ Quatsch, Mann! Willst du uns jetzt mit einem Geisterbären hochnehmen?“
Wolle winkt ab. „Never, Jungs“, beeilt er sich, zu widersprechen.
„Wie sah das … Ding denn aus“, fragt der Professor jetzt.
„Na ja, wenn ich es recht überlege, könnte es eine Art Vogel gewesen sein, aber riesengroß. Es saß da bewegungslos auf einem breiten Querbalken und schaute runter zu mir.“
„War vielleicht ein Uhu“, vermutet Muffel.
„Blödsinn“, verwahrt sich Body, „ein Uhu in der City!“
„Doch“, beharrt Muffel auf seine These. „Die nisten manchmal auf Türmen und jagen Tauben.“
„Stimmt“, kommt ihm der Professor zu Hilfe.
„Das war kein Uhu. Ich weiß, wie die aussehen“, stoppt Wolle die Diskussion. Er ist ungeduldig und fährt fort: „Das Vieh kauerte da oben und sah aus wie ein Mensch, der sich einen Umhang übergeworfen hat. Es war über einen Meter groß, so wahr ich hier sitze. Auf dem Kopf hatte es eine Art Haube, darunter einen riesigen Schnabel, der scheiß gefährlich aussah, und links davon ein Auge mit einem unheimlich stechenden Blick.“
„Und rechts?“
Wolle scheint überrascht von die Frage. Dann wendet er sich Muffel zu und antwortet: „Da war kein Auge, nur ein graues Häutchen, das sich über die leere Höhle spannte. Aber, verdammt: dieses eine Auge reichte mir. Es schaute mich ununterbrochen an. Es blinzelte nicht ein einziges Mal. Ich hatte das Gefühl, dass es mich hypnotisieren will. Ich konnte nicht weggucken. Ich konnte mich nicht bewegen. Ganz ehrlich, ich war nahe daran, mir in die Hosen zu machen.“
„Und was hast du dann gemacht?“, fragt Muffel ungeduldig.
„Ja, was wohl? Sobald ich den Arsch hochgekriegt habe, bin ich getürmt. Und, so wahr ich hier sitze, das Vieh hat hinter mir her geschrien. Klang fast wie ein Mensch! Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen.“
„Mann, das glaube ich dir echt aufs Wort“, bekräftigt Body. „Ich hab schon viel schräges Zeug gehört, aber diese Story schlägt ja alles. Wenn man nur wüsste, was für ein Ding das überhaupt gewesen ist!“
„Es könnte eine Harpyie gewesen sein“, meldet sich der Professor wieder zu Wort.
Body stellt die Frage, die den anderen auf der Zunge liegt: „Was, zum Teufel, ist eine Harpyie?“
„Harpyien sind Greifvögel“, sagt der Professor und verfällt in einen dozierenden Ton. „Sie leben in Südamerika im Regenwald. Die Weibchen können wirklich so groß werden, wie Wolle beschreibt, und auf den ersten Blick könnte man sie für einen verkleideten Menschen halten. Und sie sind echt gefährlich, jagen sogar Affen und junge Wildschweine.“
„Irre“, meint Muffel. „Aber wie soll so eine gruselige Harpyie ins Bahnhofsviertel kommen? Und wie soll so ein Riesenvieh dort herumfliegen und jagen, ohne dass der ganze Kiez Zeter und Mordio schreit?“
„Stimmt“, muss der Professor zugeben. „Wenn so ein Vogel abgehauen wäre, hätte es bestimmt in der Zeitung gestanden“. Er weist auf den Papierstapel bei seinem Schlafplatz. „Und da stand garantiert nichts drin. Ich lese das Blatt jeden Tag. Eine derartige Meldung wäre mir aufgefallen.“
Alle rauchen, und jeder denkt für einen Moment allein darüber nach, was Wolle in der Samstagnacht tatsächlich gesehen hat.
„Allerdings gibt es auch noch eine andere Möglichkeit“, sagt der Professor dann gedehnt und reibt sich am stoppeligen Kinn.
„Ja, was“, kommt es wie aus einem Munde. Die Männer rücken noch näher an den Professor heran. Der lässt sich Zeit, trinkt jetzt auch einen Schluck von dem eingekochten Kaffeeextrakt und zieht an seiner Selbstgedrehten.
„In der griechischen Mythologie gibt es auch Harpyien“, stellt er dann fest und wartet auf die Reaktion der anderen.
„Märchenfiguren, oder was?“ Muffel kann mit der Aussage nichts anfangen.
„Mehr als das“, sagt der Professor darauf und betont jedes Wort eindringlich. „Diese Harpyien sind Chimären, grässliche Vögel mit riesigen messerscharfen Krallen und Frauenköpfen auf dem gefiederten Rumpf. Sie schleppen die Seelen Verstorbener ins Totenreich und töten jeden auf schreckliche Weise, der die Götter frevelt.“
„Jetzt hör aber auf, Alter“, winkt Body ab. „Du verscheißerst uns doch! Oder glaubst Du wirklich, dass hier irgendwelche Vogelweiber aus Griechenland auf Kurtis Speicher wohnen?“
„Wer weiß“, murmelt der Professor vielsagend und wendet sich Wolle zu. „Sag mal, diese Erscheinung, die du da in der Nacht gesehen hast, hatte die Titten?“
„Titten“, empört sich Wolle. „Pass nur auf! Mich nimmt keiner ungestraft auf den Arm, auch du nicht!“
Doch dann verstummt er und denkt offensichtlich ernsthaft nach.
„Na ja, Titten würde ich nicht unbedingt sagen“, gibt er dann zu und scheint sich schon wieder beruhigt zu haben.“ Aber sie hatte da so nackte Hautlappen im Brustfell…“
„Im Gefieder“, verbessert der Professor.
„Dann halt im Gefieder“, bestätigt Wolle ärgerlich. „Wenn das Titten gewesen sind, dann höchstens Altweibertitten, ihr versteht?“
Sie nicken und starren minutenlang auf das Esbit, das fast heruntergebrannt ist. Dann erhebt sich Muffel unvermittelt und sagt: „Ich muss endlich los zu meinem Platz, bevor sich irgendein Penner da hinhockt.“
Wolle und Body sind froh, dass das Thema damit erst einmal abgehakt ist und machen sich ebenfalls auf den Weg zu ihren angestammten Ecken. Nur der Professor, der die Angewohnheit hat, sich erst am Nachmittag zur Fußgängerzone aufzumachen, bleibt nachdenklich zurück. Er hat heute Morgen den Polizeibericht gelesen. Am Samstagabend war viel los in der Stadt. Die üblichen Messerstechereien, ein Überfall auf einen Taxifahrer, ein gesprengter Geldautomat und diese alleinstehende Rentnerin, die in ihrer Wohnung überfallen worden ist. Nachbarn haben sie gefunden, das leere Portemonnaie neben ihr auf dem Boden. Der Einbrecher hat ihr einen Schraubendreher ins rechte Auge gerammt.
Es gibt keine Zufälle, denkt der Professor, als er kurz vor Mitternacht im Licht des Vollmonds neben den Polizeibeamten unter der alten Eiche steht. Er hat die 110 gerufen, nachdem er heute Abend auf dem Weg zum Lager über Wolles Leiche gestolpert ist. Der Trebebruder lag da, wie von einem Dutzend irrer Metzger zerfetzt, aber kaum Blut unter dem ausgeweideten Leib.
Die Uniformierten fragen, aber es gibt keine Antworten. Was soll man auch sagen, wenn man dieses Gesicht gesehen hat, in Wahnsinn erstarrt mit gellend aufgerissenem Mund? Wie will man das trommelnde Flattern beschreiben, das dazu gezwungen hat, in die Baumkrone zu starren, wo dieses einäugige Monstrum die Flügel zum Flug ausbreitete, die prallen rosa Brüste vorgereckt, aus deren Nippeln noch Blutstropfen quollen.