Von Agnes Decker

Wie in Zeitlupe schieben sich meine Lider nach oben. Die plötzliche Helligkeit lässt mich zusammenzucken. Das Licht blendet. Mein Gesicht brennt. Mein Körper schmerzt. Als hätte mich jemand verprügelt und keinen Zentimeter ausgelassen. Ich fühle mich wie eine riesige Wunde, wie ein einziger Schmerz, so heftig, dass ich schreien könnte. Vielleicht hätte ich es getan, aber aus meiner Kehle kommt kein Ton. Mühsam hebe ich den Arm, um mit der Hand das Gesicht zu beschatten. Direkt vor mir liegt eine schmutzige Plastiktüte, darin ein angebissenes Brötchen, aus dem der Käse herausläuft, der sich in eine gummiartige Masse verwandelt hat. Daneben steht ein verrosteter Papierkorb, vollgestopft mit Zeitungen, Kartons und Essensresten. Es stinkt. Nach kaltem Zigarettenrauch und irgendwie säuerlich. Magensäure schießt hoch. Ich richte mich ein wenig auf und schlucke sie herunter.

Beide Hände auf den Boden gestemmt, wuchte mich hoch, bis ich in so etwas wie einer sitzenden Position bin. Mein Körper schwankt von der Anstrengung. Von einem zerfetzten Plakat schaut mich das halbe Gesicht einer Frau an, jung, mit blonden Locken und roten Lippen. Darunter die Reste einer Bank. Die Sitzfläche fehlt fast ganz und die schmutzige Glasscheibe dahinter ist mit Graffitis besprüht. „Fuck“ ist das einzige, was ich entziffern kann. Ich halte mich an dem, was einmal zum Ausruhen und Warten gedacht war, fest, ziehe mich langsam hoch. Die Luft presst sich pfeifend aus meiner Brust und löst einen schneidenden Schmerz hinter den Rippen aus. Ich versuche, flach zu atmen, um es erträglicher zu machen. Jeder Atemzug ist, als würde mir ein Messer in den Leib gerammt. Der Schweiß läuft über den Schädel, von da über mein Gesicht, tropft auf mein Shirt. Als ich an mir herunterschaue, bemerke ich, dass es von Feuchtigkeit durchtränkt ist, die es grau wirken lässt. Grau mit roten Schlieren. Und ich rieche meinen Schweiß. Stinkender Angstschweiß.  Wo bin ich?

Erschöpft lehne ich mich an die Scheibe, zucke zurück, so aufgeheizt ist sie. Neben mir hängt eine Tafel, in der ein paar Fetzen Papier stecken und verraten, dass sie einmal ein Fahrplan war. „19.30“ und „Saint M…“ kann ich lesen, sonst nichts. „Saint M…?“ Ich kenne eine solche Stadt nicht. Kann mich an nichts erinnern. Nicht, wie ich hierhin gekommen bin. Nicht, in welchem Land ich bin. Sobald ich nachdenke, tut sich ein schwarzes Loch auf. Jedes Wort, jedes Bild wird weggezoomt. Nicht einmal mein Name fällt mir ein, obwohl ich versuche, mich zu konzentrieren. Mit aller Kraft, die ich noch habe. Schlafen möchte ich nur noch schlafen. Keine Schmerzen mehr haben. Zu Hause sein. Wenn ich nur wüsste, wo es ist, mein Zuhause.

Ich bin eine Frau. Das weiß ich. Alles andere verschwimmt, dreht sich in meinem Kopf. Mir ist schwindlig. Werde ich verrückt? Träume ich? Geht das, träumen, dass man aufwacht? Denn das ist das einzige, was ich weiß, dass ich aufgewacht bin, an dieser Haltestelle, von der ich nicht herausfinden kann, wo genau sie ist. Und, dass ich hier alleine bin. Alleine irgendwo im Nirgendwo. Um mich herum eine unbekannte Landschaft, staubiger Boden, Steine und ein paar vertrocknete Büsche, sonst nichts, außer einer schmalen Straße, die sich bis zum Horizont windet.

„He Girl, where you come from?“.  

Eine vertraute Stimme. Jetzt ist sie wieder weg. Niemand zu sehen. Wer war das? Muss es doch wissen. Der Kopf tut weh. Ich habe Durst, muss unbedingt trinken und raus aus der Sonne. Bestimmt bin ich schon verbrannt. Vielleicht habe ich ja einen Sonnenstich und halluziniere. Ist das so, wenn man verrückt wird? Die Sonne steht hoch am Himmel. Direkt über mir. Heiß. Gleißend. Kein Haus, kein Baum weit und breit. Nichts, was Schatten spenden könnte. Vor langer Zeit gab es wohl einmal ein Dach über der Haltestelle. Ein Stückchen Wellblech zeugt davon, das lose an einem Nagel hängt und quietscht, wenn es durch einen Luftstrom bewegt wird.

Jetzt sehe ich, noch in weiter Ferne, eine Staubwolke, die auf mich zukommt. Schnell wird sie
größer, kommt näher. Bis ich die Silhouette eines Wagens erkennen kann. Es gibt also doch Menschen hier. Wie wundervoll. Ich atme erleichtert aus. Der Wagen entpuppt sich beim Näherkommen als rostiger Pickup. Nur an wenigen Stellen ist die ursprüngliche Farbe zu erkennen. Rot.

„Nach hinten auf die Ladefläche“, eine raue Stimme, Hände packen mich an den Armen. Dann wird es dunkel.

Konzentriere dich. Denk nach. Motorengeräusch holt mich zurück. Der Pickup hält an. Nur wenige Meter von mir entfernt. Hinter der verschmutzten Frontscheibe sehe ich zwei Männer.

„Hallo“, rufe ich und, „Hilfe“, aber ich höre nichts, räuspere mich, und rufe noch einmal: „Helfen Sie mir, bitte.“ Nichts. Die Kehle schmerzt. Mein Mund ist trocken. Ich versuche, einen Schritt auf den Wagen zuzugehen. Halte mich an der wackelnden Glasscheibe fest.

Die Männer in dem Pickup starren mich an. Warum steigen sie nicht aus? Warum helfen sie nicht? Sie müssen doch sehen, dass ich in Not bin. Sehen sie nicht das Blut? Nicht, dass ich mich kaum aufrecht halten kann?

Die Tür an der Fahrerseite öffnet sich. Langsam. Wie in Zeitlupe. Dann die andere, die auf der Beifahrerseite. Quietschend und knarrend. Jetzt sind beide offen. Aber es steigt niemand aus. Die Männer sitzen da und starren mich an. Wie wilde Tiere, die ihre Beute fixieren. Groß wirken sie und dunkel.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Jetzt kann ich ihre Gesichter erkennen. Kann sie kaum unterscheiden. Beide haben dunkle Bärte, gebräunte Gesichter mit tiefen Falten, dunkles Haar, das mit Grau durchzogen ist und unter ihren Hüten hervorschaut und Augen, eiskalt, die mich in die Abgründe ihrer Seele schauen lassen. Ich schüttele mich, als könnte ich das dadurch abschütteln, das Grauen, das mich plötzlich erfasst. Mich zittern lässt, am ganzen Körper. Bis ich nur noch Zittern bin und Angst und Schmerz.

„Wer will zuerst?“ Eine tiefe Stimme. Dann wird gelacht. Es sind mehrere, die lachen. „He, bleib bei uns“, ruft jemand. Dunkel wieder. Alles.

Ich muss weg hier. Schaue mich verstohlen um. Flaches Land bis zum Horizont. Die wenigen niedrigen Büsche bieten keinen ausreichenden Schutz. Trotzdem muss ich hier weg. Spüre es, fühle die Gefahr, die von den beiden Männern ausgeht. Warum tun sie nichts, sagen nichts? Was, wenn ich loslaufe? Erschießen sie mich dann? Das hätten sie doch schon längst tun können. Ich schaue in die ausdruckslosen Gesichter. Zuerst in das eine, dann in das andere.

Sie warten. Plötzlich sind meine Gedanken glasklar. Sie warten darauf, dass ich loslaufe. Damit sie mich jagen können. Weil es ihnen Spaß macht, den gewissen Kick gibt. Ich weiß jetzt auch, dass alles keinen Sinn hat. Das Bleiben nicht. Und das Weglaufen nicht. Sie sind gekommen, um mich zu töten. Aber sie lassen sich Zeit. Ein paar Stunden, ein paar Tage. Egal. Sie können warten. Und genießen. Meine Angst. Meine Hilflosigkeit. Ihre Macht.

Einer der Männer steigt aus, stellt sich neben den Wagen. Die Sonne ist wieder hinter der Wolke hervorgekommen und die dunkle Gestalt sieht aus, als hätte sie einen Heiligenschein.

Ein Heiligenschein. Vielleicht sind es Engel, vielleicht bin ich im Himmel. Ich kichere, kann nicht mehr aufhören. Der Mann macht einen Schritt auf mich zu. Das Kichern bleibt mir in der Kehle stecken. Dann geht er zurück und setzt sich in den Wagen.

 

Jetzt, wo ich es weiß, fällt alles von mir ab. Leer wird es in mir drin, eine Gleichgültigkeit erfasst mich und ich fühle mich leicht, ganz leicht, so als würde ich in einer Seifenblase schweben. Und auch meine Erinnerung setzt wieder ein.

Das Camp. Die beiden Niederländer. Wir hatten Bier aus Dosen getrunken und Marshmallows und Stockbrot in die Flammen des Lagerfeuers gehalten. Es hatte gut geschmeckt, obwohl es schwarz geworden war vom Ruß. Es war eine so schöne Nacht mit einem grandiosen Sternenhimmel. Zu schade, ihn zu verschlafen. Wir hatten getrunken und geredet, uns später, als es kalt wurde, in unsere Schafsäcke gekuschelt, geschwiegen und nach oben zum Firmament geschaut. Eine Nacht, die nie enden sollte. So schön. Bis die Männer auftauchten. Und auf die beiden Jungs einschlugen. Mit Ästen und Baseballschlägern.

 „Aufhören, aufhören, lasst sie in Ruhe“, schrie ich, als ob das genützt hätte.

 „Mama, bitte nicht“, gewinselt hat er, geweint, Mats, der kleinere von beiden. Der andere hat nur Laute von sich gegeben, wie ein verletztes Tier. Sie haben immer weiter geschlagen. Bis sie sich nicht mehr bewegten, meine beiden Gefährten, keinen Ton mehr von sich gaben.

Und dann standen die Männer vor mir. Vier waren es oder fünf. Ich kann es nicht mehr genau sagen. Vielleicht auch mehr. Einer genau über mir. Ich lag ja noch in meinem Schlafsack, starr vor Angst. Er schaute mich an und grinste. Dann bückte er sich und griff in meine Haare, riss meinen Kopf hoch. Ein Knirschen. Dunkel, alles dunkel.

„Willst du es dir nicht nochmal überlegen, Kind?“ Meine Mutter hatte ihren Gluckenblick und ich lachte, lachte sie aus. Viel zu gefährlich, ihr kleines Mädchen, alleine in einem fremden Land. Aber ich hatte nichts so sehr gewollt, wie diese Reise.

Wie in einem Film sehe ich plötzlich alles wieder vor mir, das Feuer, das Sternenmeer am Himmel, rieche den Rauch und meinen Schweiß, höre die gequälten Schreie meiner beiden Freunde und wie sie plötzlich still sind. 

Eine Tür quietscht. Der Mann auf der Beifahrerseite hat sie geschlossen, sich in seinen Sitz zurückgelehnt und den Hut über die Augen gezogen. Der andere zündet sich eine Zigarette an.

Sie haben Zeit. Alle Zeit der Welt. Vielleicht warten sie noch auf die anderen Männer.

Ich schaue über die endlose Steppe bis zum Horizont. Ein Grasbüschel rollt über den Sand auf mich zu. Irgendwann werden sie kommen.

Mein Alptraum fängt gerade erst an.

 

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