Von Marianne Apfelstedt

Leises Rauschen, rhythmisch untermalt von einem Pumpgeräusch. Ich sehe nichts. Bevor ich erneut meine Aufmerksamkeit auf die Geräusche in meiner Umgebung richten kann, dämmere ich weg.

Alles bleibt dunkel. Gefangen im kleisterzähen Kokon, ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, kein Ton verlässt meine Lippen. Ich spüre mein Herz schlagen, mein Blut rauscht durch die Venen, wie das Wasser an einer Stromschnelle. Meine Welt besteht aus meinen Gedanken und den Geräuschen, die aus dem Off eindringen. Ein Piepton dringt zu mir durch. Monoton. Wo bin ich? Vor mir eine schwarze Wand. Was ist dahinter? Ich drücke mit aller Kraft dagegen, immer stärker, bis sie umkippt und mir ein klein wenig mehr Raum lässt. Meine Reserven sind verbraucht und ich falle.

Beim nächsten Auftauchen umhüllt mich wieder Dunkelheit. Meine Ängste kreisen mich ein. Gefangen. Für immer? Allein. Ich bin stumm und wehrlos. Das Karussell dreht sich schneller, wird zum Strudel, der mich hinabzieht. Ich bin kraftlos, gehe unter. Als ich erwache, schwebe ich schwerelos, bis etwas Spitzes in meiner Haut sticht. Ich fokussiere meine Sinne. Mein Arm schmerzt. Ein leises Summen dringt durch. Und sonst? Durch meine Nase strömt ein Geruch, fremd und scharf. Alkohol? Reinigungsmittel? Ich stoße an eine weitere Mauer, stemme mich dagegen mit aller Macht, als sie einstürzt, bleibt es dunkel und ich dämmere wieder weg.

 

Etwas hat sich verändert. Ich lausche, bin ganz sicher, Vogelgezwitscher zu hören, und es riecht vertraut. Eine neue schwarze Wand begrenzt mich, mit gebündelten Kräften ringe ich sie nieder. Mein Herz schlägt kräftig und hart, Stakkato eines Trommelwirbels, das Piepsen wird lauter und ich höre bekannte Männerstimmen, eine jung und eine älter.

„Warum piept das Überwachungsgerät? Kann sie uns hören?“

„Ihr Blutdruck ist zu hoch, vermutlich durch den Transport vom Krankenhaus nach Hause. Ich schalte den Ton leiser.“

„Es wird jetzt kühler, ich schließe lieber die Terrassentür, nicht, dass sie sich erkältet.“

„Die Schwester von der Intensivpflege meinte, die gewohnte Umgebung könnte ihr helfen, deshalb hoffe ich, dass die vertrauten Geräusche zu ihr durchdringen.“

„Bei der Hausarbeit hat sie immer Radio Bob gehört, ich schalte mal ein.“

„Eine gute Idee, vielleicht spielen sie einen ihrer Lieblingssongs.“

„Wann darf er endlich zu ihr? Ich konnte ihn kaum halten beim Spaziergang. Sobald das Nötigste erledigt war, hat er mich wieder nach Hause gezogen.“

„Typisch Schröder, die Einzige, auf die er hört, ist Carmen. Mit uns Jungs spielt er nur.“

Die Stimmen schwingen nach. Ich bin sicher, sie zu kennen, sie streichen durch mein Dunkel, geben mir Halt, verankern mich. Nachdem ich eine neue Wand niedergekämpft habe, lasse ich mich von ihnen durch mein Dunkel tragen, wie ein Drachen an der Schnur.

 

Eine Türe öffnet sich und ein Ton, der durch Mark und Bein fährt, erschüttert mein Innerstes. Ein Jaulen einer Kreatur, die unsagbar leidet.

„Langsam, Schröder sei vorsichtig.“ Gespannte Stille. Meine Hand wird geführt, ich spüre etwas Weiches. Dann liegt mein Arm wieder unbewegt neben dem Körper. Ein knirschendes Quietschen dringt mir in die Ohren und ich bewege mich nach unten.

„So mein Junge, du darfst bei ihr bleiben. Ich komme gleich zurück.“

 

Stupser an meiner Hand, feuchte Stupser. Mein Herzschlag trommelt wie nach einem Dauerlauf. Fast weiß ich, wer das ist, spüre die grenzenlose Liebe, die mich einhüllt wie ein Mantel. Sehe ein Tier vor mir, mit flauschigem Pelz, weiß und schwarz. Hängeohren umrahmen ein vertrautes Gesicht. Jetzt fährt mir etwas weich, warm und feucht über die Haut. Mein Atem stockt. Erinnerungen stürmen auf mich ein. Aufgewühlte Emotionen preschen gegen die nächste Mauer.

Das wuschelige Hundekind rennt durch den Garten. Ein großer Hund reicht mir bis zum Oberschenkel. Wir laufen Seite an Seite. Durch die Wiesen und in den Straßen. Mein Begleiter. Mein Seelengefährte. Mein Hund, Schröder. Die Bilder wechseln, bis mir schwindelig wird, rasen vorbei auf der Autobahnfotowand. Ich klammere mich an ein Bild von Schröder, wie er mich ansieht, vor den Gassi Runden und reiße eine weitere Mauer nieder.

Es wackelt, etwas Schweres, Warmes, drückt sich an meine Seite, legt seinen Kopf auf meine Brust. Mein Herz schlägt ruhig wie das Echo in seinem Körper. Ich lasse mich erschöpft zurück gleiten, weil ich spüre, dass er bei mir ist.

 

„Oh Mann Schröder, so war das nicht gedacht.“

„Grrrrrr, grrrrr“

„Ok, du darfst bei ihr bleiben, dann setze ich mich eben auf die andere Seite.“

„Sie sieht so friedlich aus, als würde sie nur schlafen. Im OP rette ich meine Patienten, doch Carmen konnte ich nicht beschützen.“

„Willst du mal schnuppern, Schröder? Letzten Sommer hat Carmen das Melissen Öl von der Zitronenmelisse im Garten angesetzt. Ob dieser Duft zu ihr durchdringt? Hey, nur schnuppern, nicht abschlecken. Das Öl brauche ich für die Massage.“

„Wenn du den Kopf so schief hältst und die Stirn runzelst, fühle ich mich ein wenig besser. Du vermisst Carmen, wir vermissen sie beide. Ich bin hier fertig, jetzt muss ich auf deine Seite.“

„Braver Junge. Meinst du, sie wird zu uns zurückfinden? Vielleicht dringt der Duft zu ihr durch. Zumindest sind ihre Arme und Beine nach der Massage etwas wärmer und besser durchblutet. Ich habe solche Angst, sie für immer zu verlieren.“

„So anschmiegsam bist du sonst nur bei Carmen. Danke Kumpel. Du hilfst mir so sehr, du bist der beste Verbündete, den ich mir wünschen kann, zusammen bringen wir die Frau, die wir lieben in unser Leben zurück.“

 

Durch meine Nase strömt ein frischer Geruch nach Zitrone, der mich an Sommer erinnert. Ich spüre ein Streichen von der Hand zum Arm und sehe grüne Blätter mit holzigen Stängeln und winzigen Blüten. Ich lausche dem Klang seiner Stimme. Sie klingt so traurig, dass es mir die Kehle zuschnürt, ich bekomme keine Luft. Mein Herz verliert seinen Rhythmus. Angst! Ein Jaulen und rumpeln. Dann spüre ich Wärme auf meiner Brust, rieche Hundefell und seine Zunge streicht mir über Wange und Hals. Ich inhaliere seinen Duft in meine Lungen und mit jedem Atemzug entkrampft sich mein Herz. Schröders Kopf liegt auf meiner Brust und mein Herzschlag passt sich an, schlägt mit dem Hundeherz kraftvoll und ruhig und ich lasse mich hinabgleiten.

 

Klar höre ich, seine Stimme, nur er rollt das R so melodisch. Er liest mir aus meinem Lieblingsbuch vor. Ich sehe ihn vor mir mit seinen grauen Schläfen und den Fältchen um die Augen, wenn er lacht. Herzklopfen. Robin, mein Mann. Er lacht so gerne. Wir haben so oft zusammen gelacht. Können wir irgendwann wieder gemeinsam lachen? Wie viele Mauern muss ich noch einreißen? Spüre meinen Herzschlag bis zum Hals. Ich will Licht. Angst!

 

Im Raum schwingen Töne, schwappen in mein Dunkel wie die Wellen am Strand. Gitarrenakkorde verbinden sich zur Melodie. Das Lied bricht in meine Dunkelheit wie Sonnenstrahlen nach einem Gewitter und die Mauer bekommt Risse. Wut flammt in mir auf. Mein Sohn singt für mich und ich kann ihn nicht sehen. Ich beschwöre sein Bild herauf und meine Wut schlägt wie ein Blitz in die Mauer ein, sie zerbröselt. Dahinter türmt sich eine Weitere auf. Ich lausche seiner Stimme, höre wie er „Lady in black“ singt und spüre, wie die nutzlosen Augen in Tränen schwimmen, die Sehnsucht zerreißt mein Herz. Mit aller Kraft werfe ich mich gegen die Mauer, entdecke einen Riss und drücke mit Macht dagegen. Blendendes Licht schneidet in meine Augen und der Spalt schließt sich. Schweißgebadet zerre und ziehe ich, bis ich merke, wie sich meine Augenlider bewegen. Helligkeit. Schwummrig sehe ich ein unscharfes Gesicht. Tränen spülen es fort, wie ein Frühlingsregen den Blütenstaub und ein tiefer Schluchzer dringt aus meiner Kehle.

„Paps! Schnell komm zu uns!“, ruft Fred.

Eine Hand, warm und kräftig hält meine und ein Papiertuch wischt den Tränenschleier aus meinen Wimpern. Ich bündle meine Kraft, stemme die schweren Lider nach oben und bin wieder geblendet. Meine Augenlider klappen auf und zu und bei jedem Mal geht es leichter.

„Carmen, du bist wach. Siehst du uns?“, fragt mich Robin. Ich blinzle einmal und das pure Glück zieht seine Mundwinkel nach oben.
„Sie versteht uns. Frag sie etwas, worauf sie mit Ja oder Nein antworten kann“, erklärt er Fred.
Nur ein Blinzeln. Ok, das ist nicht viel, aber ein Anfang.

„Kann ich Gitarre spielen?“, fragt Fred. Innerlich verdrehe ich die Augäpfel über so eine blöde Frage, wo er gerade mit seiner Gitarre einen meiner Lieblingssongs gespielt hat. Ich blinzle einmal und freue mich über sein breites Grinsen.
„Bin ich gut in Mathe?“

Jetzt muss ich zweimal zwinkern, für nein. Meine beiden Männer brechen in ein wahres Jubelgeheul aus, in das Schröder mit einstimmt. Wenn das so weitergeht, werde ich taub bei dem ganzen Lärm. Meine Mundwinkel wandern nach oben und schon wieder fließen Tränen, bis die geliebten Gesichter sich auflösen und meine Nase läuft, doch mein Herz schlägt leicht in meiner Brust.

 

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