Von Christian Günther

 

Es war Pfingsten in Essen-Werden und die Kirmes gastierte auf dem Parkplatz ‚Feintuchwerke’ nahe den zwei Krankenhäusern und der katholischen Kirche.

»Gestern kam es zu mehreren Handtaschendiebstählen«, berichtete Romina, die Chefin des Reviers Kettwig/Werden. »Ich tippe, unser Freund Schröder ist wieder am Werke. Ihr kennt ihn, er kennt Euch, zeigt Präsenz. Womöglich reicht das schon, um es einzufrieren. In Zivil wie gewohnt, allerdings unauffällig, nicht als Polizisten zu erkennen. Reine Routine, sammelt ihn einfach unspektakulär ein, den Kleinganoven.«

So blieben die inzwischen ständigen Begleiter, die Schutzwesten, im Kofferraum des Dienstwagens, bevor wir in das Gedränge vor Ort eintauchten. Musik und viele Stimmen von allen Seiten in verschiedenen Lautstärken. Judith blickte sehnsüchtig auf den Autoscooter, wo es am lautesten war. Ja, das wär was für Ette! Für sie, die bei Verfolgungen gerne das Stabilitätsprogramm des Wagens ausschaltete, um driften zu können. Sie, die mit schnellen Reaktionen und fahrerischem Können ausgestattet war. Die das sogar einmal heimlich bei mir ausgestellt hatte, als ich mit ihr zu einem Einsatz fuhr. Was hatte ich mich erschreckt, als das Heck überraschend zum Überholen ansetzte! Doch ich bestand die von ihr initiierte Übung, fing es mit Gegenlenken ein. Natürlich mit einer für sie typischen Bemerkung mit Augenzwinkern: »Ey, Du kannst ja fahrn wie ’ne echte Kerle!«

»Wenn wir den Schröder ham, spendier ich Dir ’ne Fahrt«, versprach ich.

»Nur eine?« Sie boxte mir vor den Oberarm. »Samma, bisse knauserig?«

»Hunderte«, korrigierte ich.

»Dat klingt schon besser!«

Ich ließ den Blick schweifen. »Seh ihn nich, unseren Hünen, den Schröder. Is et noch wat früh für ihn? Du, wat hältsse von ’ner Cola?«

»Pooft noch, mutmaßlich. Hast töfte Ideen, Nick! Deine Cola zahl ich dann. Aber nur eine, nich hundert! Komm ich günstiger bei weg, ne?«

»Et sei Dir gegönnt, jau!«

Die Musik vom Autoscooter drang nur in Zimmerlautstärke bis zur Bude hin. Als die Dosen halbleer waren, erklang in geschätzt zwanzig Metern Entfernung eine laute Frauenstimme: »Hey, meine Tasche! Hey!«

»Da is er!«, rief ich. Durch seine Größe überragte er die übrigen Leute, und er war der Eiligste der ausgelassenen Gesellschaft. »Kommt in unsere Richtung!«

»Seh ihn«, bestätigte Judith.

»Ich verstell ihm den Weg.«

»Ich komm vonne Seite, etwas dahinter.«

So trennten wir uns, ich ihr einen Klaps auf die Schulter gebend.

Schröder war darauf konzentriert, sich den Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. So sah er mich erst im letzten Moment und stoppte abrupt zwei, drei Meter vor mir. Eine gute Bremsleistung bei der Masse! Der Mittfünfziger hatte eher zu- als abgenommen, schnappte laut nach Luft und sein Gesicht war gerötet. Meine Hand ruhte auf dem Waffenholster, ziehen wollte ich sie bei den vielen Menschen nur im Notfall. Hoffte auf eine friedliche Lösung.

»Fengler, willst Du mir mein Geschäft kaputtmachen?«

»Mit Vergnügen, Schröder! Ist mein Job, verstehsse?«

Judith verharrte einige Meter hinter ihm. Menschen traten zur Seite. Wie in einem Boxring standen wir da. Der Verdächtige wie ein Schiedsrichter zwischen uns. Nur dass das Publikum nicht anfeuerte.

»Sind zu zweit, Schröder«, teilte sie ihm mit ernster Stimme mit. »Sei vernünftig!«

Was würde Schröder tun? Er blieb beharrlich stehen. Prüfte er seine Optionen?

Ein junger Bursche trat plötzlich zwischen ihn und Judith, rempelte die Partnerin mit den Worten »Scheiß Polizei!« an. Ich sah ein Messer, die Klinge glänzte.

Schröder merkte, dass ich von ihm abgelenkt war, und flüchtete in Richtung Autoscooter. Ich stand wie angewurzelt, nichts funktionierte! Nur meine Augen schienen zu arbeiten und gaben die Eindrücke an das Gehirn weiter. Ansonsten verharrte ich stockstarr. Was passierte hier? War das real? Wo kam der Hass her? Warum konnte ich nichts tun? Was hatte Judith schon alles überstanden, seit ich mit ihr auf Streife war?

Bei der Fahrt auf die Motorhaube geklettert, um von dort abzuspringen und Schulkinder in einem führerlosen Bus vor schweren Verletzungen zu retten. Der Faustkampf mit einer Verdächtigen, nach dem ihr halbes Gesicht ein einziges Hämatom war. Wie überrascht sie der Juwelier damals ansah, als wir wegen der Eheringe bei ihm waren: So einen Schläger wollte diese Frau heiraten? Der heftige Crash, als sie vor meinen Augen den BMW fünf Meter hangabwärts spektakulär zwischen Bäumen parkte, diesen im Gegensatz zum Wagen unverletzt überstand. Die Rettung in letzter Sekunde an der Firma bei Neuss, gefesselt, mit diversen Platzwunden, die Nase und mehrere Rippen gebrochen.

Judith, Du mutige Frau auf Augenhöhe! Du liebenswerter Frechdachs, gebürtig aus Rüttenscheid, um keinen Spruch verlegen. Fäkalsprache vermeidend, denn gerade diese hätte eine starke Frau nicht nötig, das stets Dein Credo.

Es ging so schnell, zu überraschend, und das nicht nur für mich. Das Messer wieder verschwunden. Judith öffnete Augen und Mund weit, bevor sie zusammensackte. Sah sie zu mir mit dem Gedanken, warum tut der nichts und schaut nur zu?

Der Bursche verschwand so schnell in der Menge, wie er aus dieser aufgetaucht war. Niemand hielt ihn auf. Judith lag zusammengekrümmt regungslos auf dem Boden. Lebte sie noch oder …?

»Neiiin!«, schrie ich.

Ich bekam einen heftigen Stoß vor die Brust.

»Niiick! Ich möcht poofen! Wat plärrsse rum? Et is tief inne Nacht!«

Zum Glück nur ein Stoß, keine Stichwaffe! Ich schüttelte den Kopf und atmete kräftig aus, sortierte die Gedanken. »Hab nur schlecht geträumt, Judith«, resümierte ich nach mehreren Sekunden besänftigend. »Entschuldigung, ich wollte Dich nich wecken.«

»Schlecht geträumt? Dann kann ich nich Teil Deines Traums gewesen sein, Nick. Also, penn weiter! Wir müssen morgen fit sein für den Großeinsatz. Für die Razzia, bei der wir routinemäßig bei der Absperrung aushelfen.«

»Gut Nacht, Judith!« Ich legte meinen Arm um sie und zog sie zu mir heran. Drückte sie fest, ganz feste. So feste es ging.

Sie nahm das Angebot an. »Verziehen«, murmelte sie und drückte mich ebenfalls. »Bist doch mein Lieblingsbulle, nich?«

Die Absperrung morgen bei dem Einsatz, reine Routine?

 

 

V3 / 6111 Zeichen