Von Nils Hachtmann

Ein kleiner Ort in Tirol war in diesem Jahr unser Reiseziel, in einer kleinen gemütlichen Pension hatten meine Frau Britta, meine Schwiegermutter, sowie unsere beiden Kinder Niko und Andrea die Unterkunft gebucht. Für den vierzehntägigen Urlaub hatten wir Andrea, unsere Größere, in einer Skischule angemeldet, in der sie auch über Mittag versorgt wurde. Während sie das Skifahren lernte, waren wir restlichen vier meist auf Wanderungen durch die herrlich verschneite Landschaft unterwegs.

Am vierten Tag unseres Aufenthaltes waren wir wieder auf Wanderschaft. Diese Tour führte uns an einem Wildschweingehege vorbei, an dem wir lange stehen blieben, weil Niko sich die schwarzen Tiere ansehen musste, die mit ihren dicken Rüsselnasen auf der Suche nach Leckereien Spuren durch den Schnee schnüffelten. Nur mühsam konnten wir ihn von den Tieren lösen und weiter gehen. Schnell kamen wir nicht voran, denn an jedem zweiten Schneehaufen musste Niko stehen bleiben und mit seinem Stock Löcher hineinbohren. Als ich ihn einmal fragte, warum er das machte, antwortet er mir: „Ich muss doch gucken, ob da Luft im Haufen ist Papi!“

Nach einigen weiteren Schritten und einem kurzen Aufstieg, der allerdings wegen vieler zu prüfenden Schneehaufen lange gedauert hatte, erreichten wir einen beliebten Rodelhang. Hier rodelten Kinder, Erwachsene und Jugendliche mit den verschiedensten Gefährten in halsbrecherischem Tempo den Hang hinab. Staunend und fasziniert von dem wilden Treiben blieben wir eine Zeitlang stehen und schauten den Rodlern zu, die immer wieder den Hang hinab sausten, dann mit ihren Gefährten im Schlepp den Hang hinauf stapften, nur um ihn kurz darauf erneut hinunterzuschießen.

„Papi, ich will auch mal rutschen!“ begann schon nach kurzer Zeit unser Niko zu quengeln. Doch sowohl meine Frau als auch meine Schwiegermutter versuchten ihn davon abzubringen. „Dafür bist du noch viel zu klein,“ kam es von der Einen, die Andere fügte dann noch „Und das ist auch viel zu gefährlich für Dich,“ hinzu. Ich sah das anders und als Niko gerade wieder abgelenkt war, sagte ich daher auch zu meiner Frau: „Schau mal da drüben, der Junge hat einen Plastik-Bob mit Hebeln an der Seite, damit kann man bremsen und lenken. Der wird auch nie so schnell wie die anderen Kinder, das könnte Niko doch machen.“ Britta sah mich erst skeptisch an, beobachtete den Jungen aber sorgfältig und stimmte mir letztendlich zu.

Nachdem der Junge von einer weiteren Abfahrt wieder oben angekommen war, ging ich zu ihm und fragte ihn, ob ich mir seinen Bob einmal für meinen Sohn ausleihen dürfe. Nach kurzer Überlegung und einem Blick zu Niko, übergab er mir seinen blauen Bob, nicht ohne mir vorher die Funktion der beiden Hebel zu erklären, die ich schon von weitem gesehen hatte: Bremse und lenken. Mit dem Plastikgefährt im Arm kehrte ich zu meiner Familie zurück, Niko kam mir bereits auf seinen kurzen Beinchen entgegengerannt. Mein kleiner Junge strahlte über sein ganzes Gesicht, als ich ihm sagte, dass er mit diesem Bob einmal den Hang hinunter sausen dürfte. Sein Lachen war so breit, dass seine Mundwinkel fast an die Ränder seiner dicken Schneemütze stießen. Ihn so glücklich zu sehen, ließ mein Herz vor Freude glühen. Kurzerhand setzte ich ihn, unter den noch immer skeptischen Blicken meiner beiden Frauen, in die Plastikwanne, wünschte ihm viel Spaß und schob ihn langsam in Richtung Hang. 

Kurz vor der eigentlichen Abfahrt drehte sich Niko kurz um, strahlte uns an und winkte ein letztes Mal, bevor sein Blick sich voller Vorfreude wieder nach vorn wandte. Schon löste der Bob sich aus meinen Fingern und nahm schnell an Fahrt auf. „Halt dich gut fest!“, rief Britta ihrem davonschießenden Kind hinterher. Woraufhin ich zu ihr ging und beruhigend meinen Arm um ihre Schulter legte. 

Niko sauste den Hang hinab, da ließ ein Gedanke meinen Körper vor Schreck zusammenfahren: „Hatte ich ihm gezeigt, wie man lenkt und bremst?“ Die Farbe wich mir aus dem Gesicht, als ich sah, wie er über einen Buckel schoss und kurz abhob. Bei der Landung hatte Niko sich am Gefährt festgekrallt und dabei wohl einen der Bremshebel gezogen, denn der Bob neigte sich kurz nach links, um dann nach einer kurzen Linkskurve mit veränderter Richtung weiter in voller Fahrt den Hang hinabzupoltern. Mein Blick folgte der Linie, die das rasende Gefährt in den Schnee zog, dabei entdeckte ich voller Entsetzen, in der Verlängerung seiner Route, dass nach dem leichten Richtungswechsel nicht mehr das freie Feld als Auslauf vor meinem Sohn lag, sondern er geradewegs auf einen Schuppen zuhielt. „Oh nein,“ entfuhr es mir, auch Britta schien gerade erkannt zu haben, was die neue Fahrtrichtung bedeutete, sie zuckte zusammen. Während ich begann ohne Rücksicht auf Verluste, den Hang hinabzustürmen, hielt sich meine Schwiegermutter die Hände vors Gesicht, Britta begann zu schreien: „Niko, pass auf“, und wild mit den Armen zu fuchteln. Kurz meinte ich zu sehen, wie Niko zurückschaute, noch lag ein glückseliges Lächeln auf seinem kleinen Gesichtchen. 

Mehr rutschend als rennend versuchte ich ihm nachzusetzen, weder auf den Verkehr der Schlitten und Bobs noch auf das wütende Geschrei ihrer Piloten zu achten. Zu den Rufen der Fahrer gesellten sich erste Entsetzensschreie. Nur kurz hatte ich den Blick von Niko abgewandt, um mich auf meinen Weg zu konzentrieren, doch was ich beim Weiterstolpern sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Nicht der Schuppen war das Problem, sondern, das hatte ich von oben nicht erkennen können, ein Zaun um den Schuppen herum. In zwei parallel verlaufenden Strängen war zwischen mehreren Holzpfosten ein Stacheldraht gespannt, und auf diesen Stacheldrahtzaun fuhr mein Knirps noch immer in einem halsbrecherischen Tempo zu. 

In den nächsten Sekunden, in denen ich den Hang hinab stolperte, konnte ich meine Augen nicht von meinem geliebten Sohn abwenden. Sein kleiner Kopf war genau in der Höhe der unteren Stacheldrahtreihe, sie würde ihn bei der Geschwindigkeit enthaupten und ich könnte nichts mehr daran ändern, zu weit weg war ich, zu langsam bewegten sich meine Beine über den steilen Hang hinab. Der blaue Bob derweil näherte sich Meter um Meter den im Sonnenlicht ironisch blitzenden Zähnen des Stacheldrahtes. Wie in Trance schien sich die Zeit zu dehnen. Den Abstand zwischen meinem Sohn und dem gefährlichen Zaun konnte ich schon nicht mehr erkennen, so nah war er ihm bereits gekommen. Ich schwitze, mir war heiß, während mir zeitgleich der Angstschweiß in kalten Strömen über den Rücken lief. Untätig musste ich mitansehen…. 

Da geschah das Unerwartetste, das Undenkbarste! Nur Millimeter von den mit Zähnen besetzten Strängen entfernt, warf mein Sohn sich einfach auf die Seite, aus der unglückseligen Plastikwanne, in den Schnee. Dort blieb er regungslos liegen, während die Wanne unter dem Zaun hindurch glitt und gegen die Scheunenwand prallte.

„Niko!“ entwich ein Schrei meiner Lunge, die bereits vor Anstrengung brannte. Diesen Schmerz ignorierend hetzte ich zu meinem Jungen, warf mich neben ihm in den Schnee und zog ihn in meine Arme. Er lag doch noch etwa einen halben Meter von dem böswilligen Stacheldrahtzaun entfernt.  Der Ärmste zitterte wie Espenlaub. Ich hielt ihn einfach nur fest, flüsterte: „Niko, mein Kleiner, das hast du großartig gemacht. Wie ein Stuntman hast du dich da eben aus dem Bob geworfen. Geht es dir gut?“ Zögernd sahen mich seine kleinen strahlenden Augen an, ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während zeitgleich Ströme heißer Tränen darüber liefen und er fast unmerklich nickte. Bei diesem herzzerreißenden Anblick musste auch ich mir eine Träne aus dem Auge wischen.

Wieder zog ich ihn fest an mich, drückte ihn. Hinter mir hörte ich die näherkommenden, aufgebrachten Rufe meiner Britta und bestimmt wäre auch kurz darauf meine Schwiegermutter an ihrer Seite und würde mich mit Schimpftiraden überschütten. Das war mir in diesem Augenblick egal, es zählte nur mein Sohn, der Stuntman, der sich selbst gerettet hatte, als ich nicht dazu in der Lage war.

Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, robbte ich unter dem Stacheldrahtzaun her und barg den ausgeborgten Bob, den ich seinem jungen Besitzer, der inzwischen auch am Fuße des Hanges angekommen war, zurückgeben konnte. Argwöhnische begutachtete er sein Gefährt, an dem zum Glück nichts kaputt gegangen war. Zum Abschluss seiner Inaugenscheinnahme blaffte er mich noch an: „Das mit dem Lenken hätte ich Deinem Sohn wohl besser selbst gezeigt.“ Zum Glück hatte er sich schnell abgewandt und rannte den Hügel hinauf, so konnte er nicht sehen, dass er mir mit seinen Worten die Schamesröte ins Gesicht getrieben hatte. 

 

V2 Nils Hachtmann 20.04.2024

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