Von Cornelia Bochmann

Todmüde kuschle ich mich in meine extraweiche Daunendecke und hoffe auf eine gute Nacht. Alles, was stören könnte, habe ich längst aus dem Schlafzimmer verbannt. Selbst den Vollmond halte ich unter Kontrolle. Das Fenster bleibt einen Spalt offen – ich will auf das frühe Zwitschern der Vögel in der Morgendämmerung nicht verzichten. Ich liebe es, wenn im Frühjahr vor Anbruch der Tage als Erster der Gartenrotschwanz anschlägt und mir sagt: Es ist noch Zeit! Dreh dich noch einmal um und schlaf noch eine Runde, bis der Wecker die Nacht beendet.
Mit der Erwartung auf einen dieser schönen Morgen finde ich abends schnell in den Schlaf. Meist. Manchmal nicht. Dann hat sich die Angst auf meine Bettkante gehockt und baumelt hinterhältig mit den Beinen. Ich weiß nicht, ob ich in dieser Nacht ungehindert wieder von der Pein heimgesucht werde und der Qual schutzlos ausgeliefert bin:
Ohne Zweifel: Das bin ich. Klar und deutlich erkenne ich mich in meinem hellblauen Hängerkleid mit weißem Kragen für besondere Gelegenheiten. Ich habe mich aus Anlass der Prüfung im Fach Chemie und zu Ehren der Prüfer besonders hübsch gemacht. Meine sonnengebräunten, nackten Beine stecken in Ballerinas, der Rocksaum deutlich über dem Knie. Meine brünetten langen Haare sind seitlich zu einem Zopf gebunden.
Ich habe mich im Chemiekabinett der Schule vorn platziert, hinter mir ein überdimensionaler Tisch mit einer Menge aufgebauter Utensilien für mögliche Experimente. Vor mir vier Lehrer und Frau Schneider. Die Herren hinter dicken Brillengläsern und Frau Schneider mit Freundlichkeit im Gesicht.
Stocksteif stehe ich da, schaue in die Runde und bemühe mich um ein Lächeln. Bei der Frage, ob ich gesundheitlich der Prüfung gewachsen bin, bringe ich kaum hörbar irgendetwas hervor. Das bewertet der Prüfungsvorsitzende als „ja“, notiert es in dem Protokoll – die Prüfung beginnt.

Aus Calciumcarbonat können Felsen und ganze Gebirge bestehen, aber auch die Gehäuse von Muscheln und Schnecken. Der Stoff wird beim Bauen von Häusern ebenso benötigt wie beim Düngen von Feldern. Nennen Sie die Namen von zwei Erscheinungsformen des Stoffes Calciumcarbonat in der Natur. 

Ich habe gehört, aber nichts verstanden. Ich bitte um eine Wiederholung der Aufgabe. Einer mit den dicken Brillengläsern spricht jedes Wort sehr laut und sehr deutlich. Ich verstehe die Worte trotzdem nicht. Ich ringe erfolglos um ein Wort der Erklärung, suche nach einer Antwort. Nicht einmal der Versuch, ein paar Worte zu einem Satz zusammenzubringen, gelingt mir ansatzweise. Noch schlimmer meine Scham, hier zu versagen.
Mein hoffnungsvoller Blick in die Runde der Prüfer mit der flehentlichen stummen Bitte, sie mögen mir die Prüfung erlassen – nichts, aber auch gar nichts passiert, was zum Überleben taugt.
Hochbeinig im Mini und die Ballerinas an den Füßen helfen nicht. Ich werde sterben. Vor den Augen meiner Lehrer. Alle, bis auf einen, waren mir wohlgesonnen und hatten im Unterricht gern mein Lächeln mit Wohlwollen honoriert. Jetzt eisige Minen. Kein Erbarmen. Nur Frau Schneider, inmitten der Lehrer, schaut liebevoll zu mir. Sie jetzt zu enttäuschen, bricht mir das Herz – hatte sie mir doch bereits einen begehrten Ausbildungsplatz im Labor der ortsnahen Chemiefabrik verschafft.
Ich drohe zu ersticken. Einer Ohnmacht nahe, ringe ich um ein Quäntchen Luft – hochnotpeinlich, hochbeinig und im Mini vor den Augen der Herren Prüfer umzufallen. Ich sterbe … 

Mein Aufwachen an dieser Stelle verhindert meinen Tod. Völlig fertig, mit klopfendem Herzen und schweißgebadet bin ich ihm entwischt. Bloß gut!

Wie viele Male ich in meinem Leben des Nachts zu dieser Chemie-Prüfung antreten musste, weiß ich nicht. Über die Jahre kommen da etliche zusammen. Das akute Versagen und die Bedrohlichkeit des Sterbens haben sich tief in mein Bewusstsein eingegraben, sodass ich tags danach noch lange in ihnen gefangen bin. Erst wenn meine vollständige Aufmerksamkeit im Job verlangt ist, gerät es in den Hintergrund.  
Mit den Jahren hat sich ein rettendes „Nur ein Traum“ in mein Erwachen eingeschlichen. Vermutlich wäre ich sonst längst im Schlaf einem Herzinfarkt erlegen. Die Selbsthilfe meines Ichs funktioniert also. Es muss mir gelingen, den Dämon des Albtraumes auf immer und ewig zu besiegen. Aber wie? 

Im realen Leben habe ich nie eine Chemieprüfung ablegen müssen. Sämtliche Prüfungen in diversen Fächern hatte ich mit Bravour bestanden. Hartnäckig versuche ich dahinter zu steigen, warum ich wieder und immer wieder die nächtlichen Qualen erleiden und völlig fertig in den Tag gehen muss.
Rational betrachtet, halte ich es für möglich, dass ich am Ende meiner Schulzeit die Note „sehr gut“ in Chemie nicht verdient habe und nun unter lebenslänglichem Zwang die Leistungen nachweisen muss.
Tatsächlich war ich vor mehr als 50 Jahren sehr überrascht, auf dem Reifezeugnis auch in diesem Fach ein „sehr gut“ zu finden. Ich mochte Frau Schneider, aber dem Fach habe ich rein gar nichts abgewinnen können. Mit Mädchenfleiß habe ich mich gerade so über Wasser gehalten.  Das „sehr gut“ war nicht verdient. Klar, aber, was hätte ich tun sollen? Hätte ich nachfragen sollen, ob es sich vielleicht um eine Verwechselung handelt?  Das Risiko der Überprüfung war mir zu hoch. Das hätte mit Sicherheit zur Folge gehabt, dass ich mein Gesamtprädikat von „sehr gut“ verliere.

Ich hatte mich entschlossen, mich und die nette Frau Schneider nicht zu enttäuschen. Schließlich war sie stolz auf meine Note. Es war ihr Verdienst, wenn der Durchschnitt der Klasse in Chemie zum Vorzeigen taugte. Sie, im Kollegium und der Schülerschaft hochgeachtet, sollte auch den nächsten Jahrgang der Abschlussklassen zum Erfolg führen dürfen. Sollte ich ihr diesen Triumph nehmen? Das hatte sie nicht verdient.
Ihr freundliches Gesicht, mit dem aufmunternden Lächeln, wenn hin und wieder das Periodensystem in der Abfrage nicht klappen wollte, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Jedes Mal, wenn wir uns später in unserem Städtchen begegneten, hoffte ich sehr, dass sie mein schlechtes Gewissen nicht entdeckt. 

Frau Schneider ist nun längst verstorben. Mir aber sitzt seit Jahrzehnten in Form einer nächtlichen Attacke auf meinen Nachtschlaf die Höchststrafe im Nacken: ein lebenslanger Albtraum für meine Fürsorglichkeit für Frau Schneider. Ist das gerecht? Lebenslänglich für meine Freundlichkeit. Ungerecht!
Abend für Abend hoffe ich, die Strafe für meine Unehrlichkeit wird mir erlassen, zumal ich bisher unbescholten, ohne den geringsten Fehl und Tadel durch mein Leben gekommen bin. Sollte das nicht ausreichen?
Gibt es keine Begnadigung von höherer Stelle? 

Ich meinte, eine Beichte vor dem Herrn mit dem Ziel der Absolution müsste zur Erlangung eines ruhigen Schlafes ausreichen. Schließlich finden viel größere Verfehlungen und Schandtaten Vergebung und Absolution.
Die Idee des Sündenbekenntnisses musste ich leider verwerfen – viele Lügen für eine einzige. Dieser Preis war mir zu hoch.
Der Weg als Ungläubige in den Beichtstuhl der Katholischen Kirche schien mir mit den Sünden der damit verbundenen Lügen als äußerst schwierig.  Dennoch hatte ich den „WEG VON DER SÜNDE ZUR SÜNDENBEFREIUNG IM BEICHTSTUHL“ gewissenhaft studiert. Um endlich meine Not durch die nächtliche Bedrohung loszuwerden, überwand ich mich zu einer Probesitzung im Beichtstuhl des Doms St. Marien.  Mein Aufenthalt dort in diesem hölzernen, mittelalterlichen Schrank – auf meinem rechten Knie, links gelang nicht, wegen der Prothese – führte mich zu dem Schluss, dass das keine Lösung für mich sein kann. Nicht wegen meines linken Knies, sondern weil die Erkenntnis, dass der Adressat meiner Worte als Pönitent nicht der Priester vor Ort ist. Meine Beichte und die Bitte um Erlösung würden nach Vorschrift direkt in Gottes Ohr gelangen. Konnte ich darauf vertrauen? Als Ungläubige erschien mir das zu unsicher für mein Ziel.

Sigmund Freud mit seiner Traumdeutung hat mich auch nicht weitergebracht.
Eine Reihe von Terminen auf der Couch bei Herrn Dr. Gutseel haben auch nicht geholfen, obwohl er mir als sehr kompetent in der Sache empfohlen worden war. Vielleicht lag es daran, dass ich ihm meine damalige Unehrlichkeit verschwiegen hatte. 
Feldenkrais-, Pilates- oder Yoga-Kurse an der Volkshochschule haben mich beweglicher werden lassen – meinen Kopf haben sie leider nicht erreicht.

Verzweifelt suche ich noch immer nach der Erlösung von dem Übel.
Neulich bot mir mein Kollege Hans-Dieter eine pragmatische Lösung an: Ich könnte bei ihm als ehemaligen Fachlehrer für Biologie und Chemie eine Chemieprüfung in echt ablegen. Er habe gelesen, dass die Konfrontationstherapie in Fällen von hartnäckigen Albträumen Erlösung von der unerträglichen Marter brächte und zu einem störungsfreien Nachtschlaf verhelfe. Er würde sich auch eine leichte Aufgabe ausdenken. 

Bevor ich mich auf eine Prüfung bei Hans-Dieter einlasse und mich vor ihm blamiere, schreibe ich lieber erst einmal eine Kurzgeschichte.  

 

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