Von Ursula Kollasch

„Tot,“ stellt er fest, während er in das Innere des Renault Twingo blickt. „Du bist mausetot.“
„Ach, wirklich? Eine überaus geistreiche Schlussfolgerung von dir.“
Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, aber der neben mir schwebende ältere Herr bleibt unbeeindruckt.
Um uns herum liegt eine weite, von Mondlicht übergossene Schneelandschaft. Idyllische Ruhe. Auch ich mustere meine sterblichen Überreste auf dem Fahrersitz.
Der Tod hat mich meines Charmes beraubt, denke ich mit seltsamer Abgeklärtheit. Was bleibt, ist wie ein Haus ohne Möbel …
Großvaters Stimme reißt mich aus meinen Betrachtungen.
„Hier passiert heute Nacht nichts mehr. Die finden das Wrack und deine Leiche erst morgen früh. Komm‘, Nora, Großmutter hält die Gulaschsuppe auf dem Herd warm, mein Spezialrezept. Die magst du doch so gern.“
„Was redest du da?“
Es reicht, das ist ein beschissener Albtraum! Ich kneife die Augen zusammen, ein bewährtes Mittel, um aufzuwachen. Jedoch funktioniert es heute nicht. Denn als ich die Lider wieder öffne, befinde ich mich nach wie vor mit Opa am Autowrack. Darin mein verstorbener Körper.
Eigentlich sollte mich jetzt ein Gefühl von Fassungslosigkeit überwältigen oder Panik mir die Kehle zuschnüren. Doch weder beschleunigt sich mein Herzschlag noch ringe ich nach Luft. Ich atme gar nicht mehr, wie ich feststelle. Kein Puls. Die Erkenntnis, dass ich tatsächlich einen tödlichen Unfall erlitten habe, ist wie eine Gefängnistür, die sich sanft schließt. Ich nehme es hin. Bis ich an Mia und Bo denke.
„Ich muss nach Hause!“
Augenblicklich ändert sich die Szenerie und wir befinden uns im Zimmer der Zwillinge, schauen auf die schlafenden Kinder in ihren Gitterbetten. Mein kleines Mädchen ist halb bedeckt von einem schwarzen Fellbündel.
Ich schreie auf. „Daphne, du elendes Katzentier! Runter von Mia!“
Die Katze faucht erschrocken, springt aus dem Kinderbett und verschwindet durch die halb geöffnete Tür. Mia erwacht und bewegt sich in ihrem Babyschlafsack.
„Schh, mein Schatz.“ Ich will sie hochheben, doch meine Hände fahren durch den gesteppten Stoff und das Kind hindurch. Verdammt!
„Wir sollten jetzt gehen“, sagt Großvater. „Oma wird sich Sorgen machen.“
„Warum sollte sie sich Sorgen machen? Wir sind doch schon tot. Oder geht‘s noch toter? Wo ist Jaqueline?“ Meine Stimme überschlägt sich.
„Wer ist Jaqueline?“
„Ich bring‘ sie um!“
Auf der Suche nach der Babysitterin rausche ich durch das Haus. Opa folgt mir.
„Du kannst niemanden umbringen, nun sei doch vernünftig.“
Im Badezimmer entdecke ich sie. Entspannt in einem Schaumbad liegend, mit Kopfhörern in den Ohren.
„Jaqueline! Raus aus dem Wasser! Guck nach den Kindern!“
„Sie hört dich nicht.“
Ich beuge mich direkt über die Siebzehnjährige, die mit geschlossenen Augen irgendeinem Lied lauscht. „Schieb – deinen – Hintern – aus – der – Wanne!“, brülle ich und fasse nach dem Airpod, der im linken Ohr des Mädchens steckt, aber auch dieser Griff geht ins Leere. Mein Großvater seufzt leise, als hätte er es mit einem bockigen Kleinkind zu tun.
„Du kannst hier nichts ausrichten.“
„Doch! Mia ist von meinem Geschrei aufgewacht. Auch die Katze hat mich bemerkt, sie hat gefaucht, als ich sie angemotzt habe“, widerspreche ich.
„Nein, Mia ist allein wegen Daphne wach geworden. Katzen haben feine Antennen. Eine Art siebten Sinn für das Übernatürliche, wenn man es so nennen mag. Menschen aber nehmen uns nicht wahr.“
Wieder ignoriere ich seine Worte und gleite zurück ins Kinderzimmer. Beide Kinder sind jetzt wach, sie strampeln und quengeln. In Kürze werden sie anfangen zu weinen.
„Ich kann euch nicht zurücklassen. Was soll ich nur tun?“
Auch wenn mich mein eigener Tod merkwürdigerweise kaum berührt, wühlt mich auf, dass meine Kinder mich nicht wahrnehmen können, ich nur hilflose Beobachterin bin. Dass ich sie verlassen muss … Der Stich der Trauer darüber ist so scharf wie ein Samuraischwert.
Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle. „Mia! Bo! Mami ist hier!“ Meine Stimme bebt.
„Nora, sie können dich nicht hören, sehen oder spüren. Bitte komm‘ mit.“
„Ich geh‘ nirgendwo hin! Ich bleib‘ hier. Ich muss aufpassen!“
Verzweifelt schwebe ich über den Kinderbetten hin und her, in denen meine Kleinen nun schreien, als wollten sie sich gegenseitig übertönen.
„Du kannst nicht helfen, nicht eingreifen.“
Opa macht eine Geste, als wolle er mir über die Wange streichen, unterlässt es aber. Seine Hand würde wohl durch mich hindurchwischen.
„Versteh‘ doch! Ich verlasse meine Kinder nicht! Sie brauchen mich!“
„Sie haben noch einen Vater.“
Ich stoße einen bitteren Laut aus.
„Der beruflich mehr unterwegs ist als zu Hause. Jetzt gerade ist Tim in China.“
Mein Tod wird ihm das Herz brechen, denke ich. Wieder mit dieser Gefasstheit, ja Gleichmütigkeit. Aber dass unsere Kinder zukünftig fremden Personen anvertraut werden, das bricht mir das Herz. Welches – wenn auch tot – mit jedem Millimeter bei Mia und Bo ist, als könnte dieser kleine, jetzt nutzlose Muskel sie noch beschützen. Angst und Sorge schlingen ihre Tentakel fest um meinen Leib.
Großvater bemerkt es, aber er schweigt, scheint nachzudenken.
Dann kann ich das Ping in seinem Kopf beinahe hören.
„Es gibt möglicherweise einen Weg zurück in dein altes Leben. Allerdings musst du mich jetzt erst einmal begleiten.“
Ich sehe ihn prüfend an. „Das ist eine Falle.“
Er lächelt sein feines Lächeln, das sein ganzes Gesicht in Falten legt.
„Unsinn. Wieso sollte ich dir eine Falle stellen? Ich hab‘ dich doch lieb!“
„Das sagst du nur, damit ich mitkomme und dann gibt es keinen Weg mehr zurück.“
Zu meiner Erleichterung stolpert die Babysitterin endlich ins Zimmer, barfuß, in meinem Bademantel. Ich funkele sie trotzdem wütend an, ehe sie sich erst über das eine Gitterbettchen beugt und Mia heraushebt, dann Bo. Sie wiegt die Zwillinge in ihren Armen hin – und her, wobei sie beruhigend summt und redet. Es wirkt.
„Ich werde dich niemals belügen“, versichert mein Großvater. „Die Liebe zu deinen Kindern ist so groß, du kannst vielleicht wieder ins Leben und zu ihnen zurück.“
„Wirklich? Wie denn?“ Hoffnung flackert auf.
„Vertrau mir und komm.“
Nur widerwillig lasse ich mich von meinen Kindern weglotsen und finde mich im nächsten Augenblick am Autowrack wieder.
„Und was jetzt?“
„Also, Liebes. Im Jenseits gibt es keine Beschränkung von Raum und Zeit. Du gehst einfach in der Zeit zurück, bis kurz vor dem Unfall, und schlüpfst in deinen Körper.“
„Das funktioniert? Warum tun das dann nicht mehr Menschen?“ Mein Misstrauen kehrt zurück.
„Nicht jeder Verstorbene erfährt davon“, erklärt mein Großvater. „Aber ich hab’s mitgekriegt. Und sage es dir jetzt. Hätte dich zwar gern bei mir, aber ich sehe ja, dass du wirklich noch gebraucht wirst. Zuhause.“
„Kann ich mich dann an all dies erinnern? An dich? Unser Gespräch? Daran, dass Jaqueline nicht richtig aufgepasst hat?“ Der werde ich dann aber die Ohren langziehen, denke ich.
„Nein. Unser Gespräch findet auf Seelenebene statt. Allein deine Seele wird die Erinnerung behalten, nicht dein Gehirn. Du wirst dich erst nach deinem Leben wieder daran entsinnen.“
Ich denke nach. „Wenn ich keine Erinnerung an den Unfall habe, wie soll ich dann wissen, dass mir auf dieser Landstraße ein Reh vors Auto läuft und ich beim Ausweichen an den Baum knalle? Dann bin ich gleich wieder tot.“
„Nicht unbedingt. Du kennst sie doch, die Vorahnung. Die dunkle Gewissheit, dass etwas passieren wird, die einen besonders wachsam sein lässt … oder?“ Opa lächelt mich an. „Und jetzt hör gut zu. Ich erkläre dir, was ich hörte. Wie man zurückgelangt.“

Ich fahre durch die Nacht über die schneebedeckte Straße. Das Scheinwerferlicht prallt auf einen dichten Vorhang aus weißen Flocken, er blendet, nimmt mir die Sicht. Dennoch reduziere ich die Geschwindigkeit kaum, denn ich bin spät dran. Die Babysitterin wartet.
Plötzlich verspüre ich einen unbestimmten Druck in Magen und Kehle. Mein Herz zittert wie ein gefangener Vogel in meiner Brust. Als ob ich am Rand eines Hochhausdaches stünde und in die Tiefe hinabblicke.
Ein mieses Gefühl steigt in mir auf. So eins, das man hat, wenn man in einer finsteren Gasse mit einem Mal Schritte hinter sich hört. Die kleinen Härchen an meinem Nacken stellen sich auf, obwohl es warm im Wagen ist, die Heizung läuft.
Ich erschauere, umfasse das Lenkrad fester.
Vorsicht! Ich muss vorsichtig sein! Aufmerksam starre ich durch die Windschutzscheibe, an den winkenden Wischerblättern vorbei, auf die Straße und die Umgebung.
Jaqueline ist bestimmt sauer, aber sie wird bleiben, bis ich zurück bin!
Ich hebe den Fuß etwas vom Gaspedal und fahre in Schneckentempo nach Hause.
Dort angekommen schließe ich die Tür auf. Daheim. Das üble Gefühl ist fort.
Die Jugendliche eilt mir mit verkniffener Miene entgegen, bereits in Jacke. Sie sagt, dass alles gut ist, Mia und Bo schlafen. Mit einem „Entschuldige bitte die Verspätung!“ überreiche ich ihr den Lohn plus einem großzügigen Extrabonus und ihre Gereiztheit verpufft, ehe sie hinausrauscht.
Jetzt erst einmal nach meinen Kleinen sehen, denke ich, und dann werde ich eine Tupperschale mit Gulaschsuppe aus dem Frost holen, heiß machen und genießen.
Denn ich verspüre großen Appetit auf die Suppe, wie mein Opa sie immer gekocht hat.

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