Von Björn D. Neumann

 

Genervt schalte ich den Fernseher aus. Es ist so ermüdend. Täglich neue Horrormeldungen über Krieg und Zerstörung. „Alexa, spiel‘ Peter Maffay“, rufe ich der Blechdose im Bücherregal zu. Als wolle sie mich auch noch verhöhnen, wählt sie ausgerechnet jetzt dieses Lied aus – die Hymne aus den 80ern gegen den kalten Krieg und das Wettrüsten. Eiszeit.

Berge spucken Lava aus …

Ich bin so unendlich müde und mir fallen die Augen zu.

***

Der Schnee fegte mörderisch durch das Tal. Die schmutzig grauen Flocken bildeten einen schmierigen Film auf den Gesichtern der beiden Jungen. Sem war weitgehend durch seinen dichten Vollbart geschützt. Nur um die blauen Augen, die unter der Fellkapuze herausblitzten, bildete sich der gleiche Asche-Film, der ihn noch finsterer erscheinen ließ, als sein entschlossener Gesichtsausdruck es schon tat.

„Aaron, Jona, bleibt dicht bei mir. Wir haben es fast geschafft.“ Sem straffte sich und rückte den Hirsch-Kadaver, den er um die Schultern trug, zurecht.

„Ja, Vater“, kam es fast einstimmig aus den Mündern der Knaben. Auch Sie waren in Fellkleidung gehüllt und stapften ihrem Vater durch den grauen Schnee hinterher.

Nach kurzer Zeit erreichten sie den Eingang einer Höhle. Sem schob den ledernen Vorhang beiseite und trat ein. An der Feuerstelle, die den Raum in ein schummriges Licht tauchte, stand Lydia, sein Weib und legte gerade ein Holzscheit nach.

„Sem, gelobt sei der Herr. Ihr seid wieder da. Und Essen habt ihr auch mitgebracht!“

„Es war nicht leicht.“ Als wolle der Himmel ihn bestätigen, grollte ein Donner aus der Ferne. „Nicht weit von hier haben wir die Söhne des Raben-Clans gesehen. Irgendetwas führen die im Schilde. Wir müssen wachsam bleiben.“

Ein verächtliches Schnauben kam aus dem hinteren Teil der Wohnstätte. Es war Sems Vater Joe, der dort saß und an einem trockenen Stück Brot kaute. „Wachsam bleiben. Ihr müsst miteinander reden! Sollen sich die letzten Menschen auf diesem gottverlassenen Planeten wieder bekriegen?“

„Sie haben meinen Bruder, deinen Sohn, getötet. Sollen wir das einfach hinnehmen?“, blitzte Sem seinen Vater an.

Joe lachte freudlos. „Auge um Auge. Zahn um Zahn. Deswegen sind wir jetzt da, wo wir sind.“

„Verschone uns mit deinen Geschichten, alter Mann.“

„Verschließe du nur die Augen. Aber meine Enkel sollen es einst besser haben. Meine Generation hat euch diese Welt hinterlassen. Hinterlasse du ihnen eine Bessere. Eine Lebenswertere. Aaron, Jona, setzt euch zu mir!“

Die beiden Jungs liebten ihren Großvater und vor allem liebten sie seine Geschichten aus der Zeit, als der Himmel nicht von Staubwolken bedeckt war. Als die Sonne hell am Horizont stand und es nicht das ganze Jahr über bitterkalt war. Es war die Zeit vor dem großen Krieg.

„Ich war damals so alt wie ihr heute, wisst ihr…“, begann Joe und sah dabei versonnen auf das gesplitterte Glas seiner Armbanduhr. Die Zeiger auf dem „Spiderman“-Ziffernblatt bewegten sich schon lange nicht mehr. Genau gesagt, seit dem Tag, den Joe als letzten glücklichen seiner Kindheit in Erinnerung behielt.

***

„Der russische Staatspräsident bekräftigte noch einmal, dass jede Aggression gegen die russische Föderation mit einem Atomschlag beantwortet würde. In Brüssel trafen sich zeitgleich die Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedsstaaten … Einen Moment, uns erreicht gerade eine Meldung … Sehr geehrte Zuschauer, laut mehreren übereinstimmenden Meldungen ist soeben ein atomarer Sprengkopf auf polnischem Staatsgebiet eingeschlagen.“

Joes Mutter schlug die Hände vors Gesicht. Seit Tagen war die Bedrohung greifbar gewesen. Jetzt war der Alptraum Wirklichkeit geworden. „Oh, mein Gott. Hoffentlich behält die NATO die Nerven.“

In diesem Augenblick wurde die Nachrichtensendung unterbrochen und auf dem Bildschirm war der Präsident der Vereinigten Staaten zu sehen, der ans Podium trat. „Ich wende mich mit der schlimmsten aller Nachrichten an die Bevölkerung. Die russische Föderation hat heute, unter fadenscheinigsten Begründungen und ohne Vorwarnung, einen atomaren Schlag auf einen Verbündeten verübt. Die Vereinigten Staaten von Amerika erklären hiermit den Bündnis-Fall und werden diese Aggression mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vergelten. Gott schütze Sie. Gott schütze Amerika.“

„So viel zum Thema Nerven behalten“, knurrte Joes Vater. Das Telefon klingelte. „Ich habe es in den Nachrichten gehört, Sir. Ich bin auf dem Weg zur Basis. Zu Befehl, Sir!“  Er hängte auf und wandte sich an Mutter und Sohn. „DEFCON 2. Höchste Kampfbereitschaft. Ich muss in die Base. Ihr macht euch auf den Weg nach Cheyenne Mountain.“

„Ich dachte, der Atombunker sei außer Betrieb?“

„Offiziell ja. Er steht aber weiterhin für hohe Militärs, Regierungsbeamte und unsere Familien zur Verfügung. Sicher ist sicher. Und anscheinend sollten wir recht behalten. Ich habe den Ivans nie getraut.“

Das war das letzte Mal, dass Joe seinen Vater sehen sollte. Als er mit seiner Mutter über den Highway raste, waren die Sirenen, die den Untergang verkündeten, schon zu hören.

***

„Was passierte dann, Großvater?“

„Nun, ich saß mit eurer Urgroßmutter später in der riesigen unterirdischen Bunkeranlage. Vorerst hatten wir noch Fernsehen. Wir sahen die Raketen. Die Einschläge. Sowohl in Russland, wie auch überall auf der Welt sonst und auch hier. Aber keiner ahnte, welche Auswirkungen neben der Zerstörung dieser Krieg noch hatte. So brachen zeitgleich alle aktiven und inaktiven Vulkane aus. Lavafontänen schossen in den Himmel. Der Rauch verdunkelte den Horizont mehr noch als der Staub der Raketeneinschläge und der Explosionen. Die Erde riss an mehreren Stellen auf und Kontinente zerbarsten. An anderen Stellen stiegen riesige Landmassen aus dem Meer.“ Zur Untermalung seiner Worte brach er einen Fladen Brot in zwei Teile. „Das Wasser der Flüsse und Meere fing an zu brodeln und zu kochen“, fuhr er fort.

„Musst du den Kindern solche Angst machen?“, rügte Lydia ihn.

„Wovor soll ich ihnen denn noch Angst machen? Die Menschheit ist bis auf eine Handvoll Menschen ausgelöscht und es herrscht atomarer Winter. Was soll denn da noch kommen, vor dem sie Angst haben sollen?“ Joe zeigte ein zahnloses Lächeln. „Wo war ich stehengeblieben? Ah ja, bald gab es keine Fernsehbilder mehr, danach keinen Strom. Noch einige Zeit konnten wir über generatorbetriebene Funkgeräte zur Außenwelt Kontakt aufnehmen. Doch irgendwann starb auch der letzte arme Teufel den Strahlentod. Die Erde war unbewohnbar geworden.“

„Aber wieso können wir draußen überleben“, fragte Aaron.

„Das ist die Frage aller Fragen. Irgendetwas ist in diesem Tal besonders. Vielleicht irgendwelche Erzablagerungen im Gestein, die vor der Strahlung schützen. Naja, jedenfalls bemerkten wir nach ein paar Monaten, dass die Tiere überlebten und so wagten wir uns raus. Es blieb ja auch nichts anderes übrig. Irgendwann wären die Vorräte zur Neige gegangen. Später schickten wir Erkundungstrupps aus dem Tal heraus – aber keiner kam jemals zurück. So bauten wir in diesem Tal eine neue Zivilisation auf und natürlich brauchten wir auch Anführer. Und wie zu allen Zeiten kam es darüber zum Streit. Sowohl der ranghöchste Offizier, Colonel Raven, als auch die höchste Politikerin, Secretary Wolf, beanspruchten die Führung und so bildeten sich der Raven-Clan und das Wolf-Pack.“

„Und wir gehören zu den Wölfen, richtig?“, fragte Jona und imitierte das Geheul eines Wolfes.

„Michelle Wolf schien meiner Mutter die besonnenere Anführerin zu sein.  Was mir sehr recht war – ihre Tochter war nämlich bezaubernd.“ Joe lächelte traurig.

„War das Granma?“

„Ja, das war eure Großmutter. Als Kinder waren wir enge Freunde und später verliebten wir uns. Bis zu ihrem Tod waren wir keinen Tag getrennt.“ Joe wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Jedenfalls dauerte es nicht lange und es kam zu ersten Streitigkeiten bezüglich der Aufteilung der Vorräte und kurz darauf zu den ersten Toten.“

„Die Raben sind Feiglinge“, spie Aaron hervor.

„Ich muss dich enttäuschen. Es war ein Wolf, der den Brudermord beging. Aber es spielt keine Rolle mehr, wer anfing. Wichtig ist, dass es endlich aufhört. Versteht ihr beiden?“

Die Jungs überlegten einen Augenblick und nickten.

„Jetzt ab ins Bett mit euch.“

***

Joe schlief, als ein Trupp des Raben-Clans die Höhle stürmte. Er merkte nicht, wie seine Familie abgeschlachtet wurde. Das Letzte, was er sah, als er die Augen öffnete, war der Stein in der Faust, die auf ihn niederging.

***

Als die Schlussakkorde erklingen, schrecke ich auf. Mein Herz rast. Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn und die letzten Zeilen des Songs treffen mich ins Mark.

Und die Kinder unserer Kinder werden fragen,

Wie konnte das passieren?

Wenn die Erde bricht…

(Auszug aus „Eiszeit“ von Peter Maffay)

 

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