Von Annette Müller
Sie schließt das Fenster und nimmt eine gerahmte Fotografie vom Schreibtisch. Roman in der Badehose. Hinter sich hat er ein Frottiertuch mit beiden Armen ausgespannt, als wolle er es sich gerade um die Schultern legen. Seine Haare glänzen nass. Er lächelt. Lässiger, beschwingter Optimismus. Letzten Freitag hat er genauso ausgesehen. Er ist von der Arbeit nach Hause gekommen, sie haben zu Abend gegessen, dann hat er geduscht und ihr mit nassem Haar vom Flur aus zugerufen: „Ich geh’ mit Patrick was trinken, dauert nicht lang!“
Sie hört, wie die Tür neben ihr geöffnet wird. Jean-François ist aufgestanden. Rasch stellt sie das Foto auf den Schreibtisch zurück und schiebt die Vorhänge zu Seite. Sonnenlicht fällt auf das weiße Fensterbrett. Blendet sie. Ein warmer sonniger Tag. Warum wird es nicht kälter? Im November ist es kalt, regnerisch, dunkel. Diesen November braucht sie. Noch besser: Einen frostig kalten Dezember mit Schnee. Zentimeter hoher Schnee auf den Straßen. Eisiger Wind, der durch die dreckigen Straßen fegt, die Eisklumpen aufwirbelt und den Leuten ins Gesicht klatscht. Morgens den Kälteschock auf der Haut spüren, wenn sie das Fenster öffnet und auf die weißen Straßen blickt. In den Schnee fallen wie in ein leeres weißes Blatt. Den ganzen Tag würde sie mit Jean-François zu Hause bleiben. Mit ihm spielen, Spagetti Bolognese kochen, Zeichentrickserien ansehen. Am Nachmittag würden sie auf dem Sofa liegen und sie würde ihm von dem Bösen erzählen. Von all dem Bösen, das nicht geschehen wäre, wenn es an dem Abend kalt, regnerisch, dunkel gewesen wäre. Wie es sich für den November gehört. Denn dann wäre Roman ins Café Charlot gegangen.
Stattdessen herrscht in Paris seit vielen Wochen ein falscher Frühling, ein Frühling, der alles durcheinanderbringt. Die Menschen tragen T-Shirts, sitzen draußen auf den Terrassen von Cafés. Carole beginnt zu schwitzen, reißt das Fenster wieder auf. Wenn es an dem Abend kalt gewesen wäre, hätte er nicht draußen gesessen, er wäre ins Charlot, gegangen, hätte sich an den Tisch neben dem Tresen gesetzt und wäre um 23:00 Uhr nach Hause zurückgekehrt. Sie hätten ihren besten Rotwein geöffnet, stundenlang über die Geschehnisse des Abends geredet und am frühen Morgen miteinander geschlafen.
Jean-François stürmt herein, er trägt die Batman-Maske mit dem Fledermausprofil.
„HUUUH … ich bin der dunkle Ritter, der die bösesten Verbrecher bekämpft“, brüllt
er, rennt auf sie zu und krallt sich an ihrer Hose fest. Sie streicht ihm über das Haar. „Mach dich fertig, Nounou wird gleich kommen.“
„Nounou ist blöd. Ich möchte nicht mit ihr gehen. Ich möchte, dass Papa kommt. Wann kommt Papa nach Hause?“
Wieder hört sie den Satz an der Türschwelle.
„Ich geh’ mit Patrick was trinken, dauert nicht lang!“
“Ok … wohin geht ihr?“
„Ins La Mouette.“
Jean-François kleine Hände krallen sich an ihrer Hose fest.
„Putz dir die Zähne, ich mach’ Frühstück.“
„Nein.“
„Liebling, geh ins Bad und zieh die Sachen an, die auf dem Wäschekorb liegen.“
Der Junge tappt ins Bad.
Gleich würde das Au-pair-Mädchen kommen und Jean- François in die Schule bringen. Sie würde zum Café La Mouette gehen. Seit einer Woche geht sie dorthin statt zur Arbeit. Inzwischen kommen weniger Menschen zum Café, die Fernsehanstalten mit ihren Kameras sind verschwunden. Rund um das abgesperrte Café sind Rosen, Lilien und Blumenkränze drapiert. Zum hundertsten Mal wird sie die Abschiedsbriefe mit den Fotos und den Trauerzeilen auf den Glasscheiben lesen. Sie würde Bilder und Worte einatmen, die sie ruhig und schwer machten. Zumindest für ein paar Stunden.
Seit vorgestern steht dort ein blasser Mann im Alter von Roman. Er trägt ein Schild und hält es hoch: „Free hugs“ steht darauf und er lächelt sanft.
Warum soll sie einen fremden Mann umarmen? Carole hat die psychologischen Angebote der Stadt abgelehnt. Was sie jetzt am wenigsten gebrauchen kann, ist der beflissene Trauerton einer Sozialarbeiterin. Ihre Trauerarbeit kriegt sie allein hin.
„Ich geh’ mit Patrick was trinken, dauert nicht lang!“
Vorher noch geduscht und eine andere Hose angezogen. Und wie immer die schmutzige Hose und die Socken auf dem Badezimmerboden liegen lassen. Obwohl der Wäschekorb direkt danebensteht. Warum Roman? Warum ihr Mann? Warum der Vater ihres Sohnes? Die Terrasse war gerammelt voll. Warum nicht Patrick? Der saß doch neben ihm auf dem Stuhl. Warum ist Patrick weggelaufen? Warum Roman nicht?
Jean-François sieht sie mit seinem schokoladenverschmierten Mund an.
„Machst du mir ein Nutella Brot für die Pause?“
„Ja. “
Wieder hört sie das Telefon. Unzählige Male hat es in dieser Nacht geklingelt. Zuerst hatten Romans Eltern angerufen, dann ihre Eltern, ihre Schwester, Freunde, sogar ihre Chefin erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Nur Roman meldete sich nicht. Alle fünf Minuten rief sie ihn auf seinem Handy an, schickte Nachrichten. Hallo Roman! Hallo! Roman melde dich endlich.
Gegen Mitternacht klingelte es an der Wohnungstür. Da war sie schon völlig ausgelaugt. Patrick stand an der Tür. Wortlos folgte er ihr in die Küche. Erst jetzt bemerkte sie die benutzte Espresso-Tasse auf dem Küchentisch. Roman hatte einen Kaffee getrunken, bevor er losgegangen war. Das tat er manchmal, wenn er abends noch wegging.
„Die Polizei wird gleich bei dir sein.“
„Nein“, flüsterte sie. Sie hatte nicht die Kraft. Nicht die Kraft, die Nachricht aus dem Mund eines Polizisten zu hören. Nicht die Kraft, ins Kommissariat zu gehen und die Leiche ihres Manns zu identifizieren. Nicht die Kraft, den Rückweg nach Hause anzutreten. Die Tage, Wochen, Jahre danach zu ertragen.
Patrick sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, Schweiß lief ihm in die Augenbrauen.
„Wir saßen draußen, am Tisch rechts neben dem Eingang … du weißt schon.“
Sie nickt.
„Plötzlich gab es einen Knall im Café. Wir haben zuerst gar nicht kapiert, was los war.“
Er presste die Hände auf die Ohren.
„Da waren Menschen auf dem Boden, umgekippte Tische und Stühle … Blut, überall Blut. Die Leute haben nach einem Arzt gerufen. Roman ist hingerannt, ich bin ihm hinterher …“
Sie geht zum Küchentisch und stellt die Espressotasse in die Spüle.
Patricks Stimme wurde lauter: „Er wollte einem Verletzten helfen, der Typ saß am Tisch hinter uns.“
„Leise, der Junge schläft.“
„Er hat ihm das T-Shirt aufgerissen“, fuhr Patrick mit gedämpfter Stimme fort. „Da waren … Drähte, einer schwarz, einer rot und einer orange.“
Sie wusste nicht, was sie mit der Espressotasse machen sollte. Es gehörte zu Romans Aufgaben, das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler einzuräumen. Sie sah auf die ordentlich nebeneinandergestellten Teller und Tassen in dem Geschirrspüler. Es gab eine genaue Reihenfolge. Die bunten Teller im linken Fach unten, die kleinen Tassen links oben, die hohen Tassen gegenüber, die Gläser, die Gabeln die Messer, die großen Löffeln … Verwirrt blickte sie auf Geschirr. Das schaffte sie nicht. Nie wieder würde sie diese Ordnung hinkriegen.
„Ich hab’ ihm gesagt, dass wir abhauen sollen, dass das ein Selbstmordattentäter ist.
Lauf weg– schnell!, habe ich gerufen.
Aber Roman hat nicht reagiert. Der Typ hat ‚Allah Akbar’ gemurmelt … “
Die Espresso-Tasse knallte auf den Boden. Zerbrach in vier Teile, lag zertrümmert auf den schwarz-weißen Fliesen.
„Hör auf“, flüsterte sie.
„Carole … Ich habe vier Kinder. Ich musste weg.“
Er berührte sie an der Schulter. Ihr Körper versteifte sich. Warum ließ er sie nicht in Ruhe? Gut, er hatte sich selbst gerettet. Und Roman? Roman mit seinem scheiß Helfersyndrom. Ich hasse dich, Roman. Warum hast du uns allein gelassen? Uns musst du beschützen. Nicht irgendwelche fremde Leute. Es sind Bestien, denen es völlig egal ist, wen sie über den Haufen schießen. Unmenschen, die Leichen in ihren Autos hinter sich herziehen.
„Hau ab,“ wiederholte sie laut.
Sie hört, wie etwas auf den Fliesenboden scheppert und fährt erschrocken zusammen. Jean-François sieht sie angstvoll an: „Heute ist Freitag, Du musst mich von der Schule abholen. “ Er bückt sich, um den Löffel vom Boden aufzuheben.
„Natürlich.“ Am Freitag arbeitet sie halbtags und holt Jean-François ab.
Heute Abend wird sie es ihm erzählen. Sie wird ihn in die Arme nehmen und ihm sagen, dass ein böser Mann den Papa getötet hat. Dass Papa jetzt bei den Engeln sei. Papa habe ihm ein Geschenk dagelassen und es in der Wohnung versteckt. Jean- François solle das Geschenk suchen gehen. Jean-François’ großer Held ist Batman und er wünschte sich ein Batman-Kostüm. Roman hatte das Kostüm bereits gekauft. Ihr fällt ein, dass Roman auch Konzertkarten für den ersten Weihnachtsfeiertag gekauft hatte. Die hatte sie völlig vergessen.
Es klingelt. Evelyne steht an der Tür. Sie drückt ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange.
„Bis später!“
Anschließend geht sie zurück ins Wohnzimmer, holt die Konzertkarten und geht damit ins Bad. Sie zerreißt die Karten und spült die Schnipsel die Toilette hinunter. Diese Abende gehören jetzt einer Vergangenheit an, entfernt und ungreifbar wie ein ferner Stern.
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