Von Sabine Esser

Sechs Uhr morgens. Müde schlurft Gerlinde aus dem großen Bürogebäude in der Innenstadt, in dem sie jede Nacht putzt, um ihre mickerige Rente aufzubessern. Den Weg zur U-Bahn laufen ihre Füße automatisch, sie kennen jeden abgesackten Pflasterstein.

 

Vor dem Schaufenster des Juweliers unterbricht sie abrupt ihren monotonen Trott. Seine nächtlichen Auslagen interessieren sie schon lange nicht mehr. Sie weiß, dass wegen der Einbruchsgefahr nur wenig Schönes gezeigt wird. Heute aber liegt dort etwas anderes, etwas ganz anderes. Ein in vielen Farben schimmerndes und glitzerndes Collier, dessen Leuchten durch den darauf gerichteten Strahler tausendfach verstärkt wird. Gerlinde starrt durch das Rollgitter. Dass sie die Bahn verpasst, ist ihr egal. Noch nie hat sie so etwas gesehen. Jeden einzelnen, namenlosen Stein bewundert sie, bekommt Gänsehaut und eiskalte Hände. Das war schon einmal so. Vor vielen Jahren.

 

Erst später spürt sie ihre schmerzenden Beine und reißt sich mühsam zusammen. Trotzdem fühlt sie sich seltsam erfrischt, als sie die Stufen zur U-Bahn hinuntersteigt. Auf ihrem Stammplatz schließt sie die Augen, schlummert aber nicht ein. Sie ist viel zu wach.

 

Auf das freundliche ‚Heute sind Sie aber spät dran‘ der Bäckersfrau reagiert sie kaum. Lustlos frühstückt sie, um sich gleich danach auf das verschlissene Sofa zu legen. Der Fernseher mit der morgendlichen Soap „Rote Rosen“ bleibt aus. Sie kann immer noch nicht schlafen.

 

Alles ist da, ganz dicht bei ihr: Farben, Jugend, Schönheit, Freude, Liebe. Alles, was sie so gern gehabt hätte. Früh musste sie die Mutter ersetzen und neben der Schule den spärlichen Haushalt führen. Später wollte sie heiraten, aber der Vater ließ sie nicht gehen, die Geschwister mussten versorgt werden. Als er endlich hochbetagt starb, war sie zu alt, hatte nichts gelernt. Bis heute lebt sie in der kleinen Wohnung mit den alten Möbeln und vergilbten Fotografien. Die Brüder rufen nur zu Weihnachten an, wenn überhaupt. Seit sie denken kann, schuftet sie und ist müde.

 

Jetzt aber. Jetzt ist alles anders. Jetzt kann es Gerlinde nicht mehr erwarten, ihren nächtlichen Putzjob anzutreten, denn jeden Morgen wartet auf sie ihr köstliches Rendezvous.

 

Ständig hat sie Angst, der Juwelier könne seine Auslage ändern. ‚Nichts währt ewig, auch nicht die Liebe, besser du lernst das beizeiten‘, hört sie die nörgelnde Stimme ihres Vaters, Gott hab ihn selig. Damals hatte sie geschwiegen, wie immer.

 

Das leere Schaufenster ist trotzdem ein Schock.

Wie betäubt fährt Gerlinde nach Hause. „Heute schon so früh“, wundert sich die Bäckersfrau und packt das übliche Brötchen ein.

 

Sie schmiert zum vierten Mal Butter auf die obere Hälfte, als ein lautes „Nein“ sie aufschrecken lässt. Ihre eigene Stimme. Fremd und heiser.

 

Hastig wirft sie sich den Mantel über und fährt in die Stadt. Das Rollgitter ist hochgezogen, das Collier auch nicht in der Tagesauslage.

 

Doch verkauft? Ihr wird heiß, sie ringt nach Luft, gerade noch schafft sie es, sich auf eine der Betonumrandungen zu setzen, in denen kümmerliche Bäumchen vegetieren.

 

Nein, ohne wenigstens zu fragen, will sie nicht gehen! Dieses eine Mal nicht. Gerlinde zählt bis fünfzig, dann betritt sie das teure Geschäft und wagt ihre Frage.

Nicht verkauft. Erneut wird ihr schwindelig.

 

„Ist Ihnen nicht wohl, möchten Sie sich setzen?“, fragt der Verkäufer besorgt.

„Nein, nein, jetzt ist alles wieder gut“, stammelt sie und atmet tief durch.

„Können Sie mir die Kette zeigen, bitte?“

Ihre geschundenen Hände möchten so gern die Steine berühren, streicheln. Jetzt, gleich, sofort. Augen reichen nicht für diese Schönheit.

 

„Ich zahle sie an“, hört sie sich sagen, und Gerlinde nimmt die letzten 150 Euro für diesen Monat aus ihrem Portemonnaie.

Der junge Mann ist verunsichert und holt seinen Chef zu Hilfe.

„Sie interessieren sich für das Turmalin-Collier, 585-er Weißgold? Sie wissen aber, dass es 6.500 Euro kostet? Es ist immerhin ein Einzelstück.“

Gerlindes Gesicht und Hände, Mantel und Schuhe sprechen Bände.

„Das ist mir egal“, beharrt sie. „Ich stottere es ab. Es kann ja so lange bei Ihnen bleiben, Hauptsache, Sie legen es wieder in die Nachtauslage. Dann kann ich es wenigstens ansehen und mich daran freuen. Ich schwöre Ihnen, ich gebe Ihnen jeden Cent, den ich verdiene. Nur bitte, bitte verkaufen Sie es nicht!“

 

Der Juwelier stimmt zögernd zu. Er weiß selbst, dass das Collier keine Wertanlage ist, sonst wäre es längst verkauft. Es ist einfach nur schön. Reine Goldschmiedekunst, aus Freude geschaffen. Und diese verhärmte Frau liebt es. Warum nicht?

 

Gerlinde nimmt jeden Job an, den sie bekommen kann. Hauptsache „schwarz“. Kinderhüten, Putzen im Puff und in der Spielhalle, alles egal. Sie kauft keine Brötchen mehr, schneidet sich die Haare selbst, schläft kaum noch. Neue Brillengläser? Unnötig. Sie kündigt das Telefon, wer sollte sie schon anrufen? Nichts ist wirklich wichtig.

 

Der Juwelier hält sein Versprechen. Die Nachtauslage wird nicht geändert.

 

Monat für Monat liefert sie das Verdiente und Ersparte ab. Jedes Mal aber darf sie das Collier berühren und lässt sich die Steine erklären. Rauchblauer Chalzedon, klarer Bergkristall, grüner Turmalin, roter Turmalin, orangefarbener Citrin, leuchtend violetter Amethyst, giftgrüner Chrysopras, hellblauer Aquamarin, blauviolett strahlender Tansanit, gelber Diamant, in Grün und Blau schimmernder Labradorit, Türkis – eine ganz neue Welt. Cabochon-Schliff, Treppenschliff, Kissenschliff, sogar Brillantschliff. Aus der Leihbücherei besorgt sie sich ein Buch über Edelsteine und schreibt alles Wissenswerte ab.

 

Nach gut einem Jahr, zu Weihnachten, hängt ein kleines Schild an dem Collier „Verkauft“. Gerlinde starrt durch das Rollgitter und kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie weiß, dass sie gemeint ist. Zum ersten Mal in ihrem Leben weint sie. Sogar in der U-Bahn. Sie kann nicht aufhören damit.

 

Drei Jahre, sieben Monate und einundzwanzig Tage. Sie sind wie im Flug vergangen. Gerlinde fühlt sich wie damals, als sie – noch ganz jung – an die Liebe glaubte. Jetzt fängt das Leben an. Kaum kann sie es abwarten, bis ihr das Collier in neutraler Verpackung ausgehändigt wird. Der Juwelier gibt ihr zum Abschied einen Handkuss. Noch nie hatte er so eine Kundin. Der junge Verkäufer macht sogar einen Diener und hält ihr die Tür auf.

 

Zitterig legt sie zuhause das Collier um. Die Steine freunden sich nur langsam mit ihrer dünnen Haut an, bleiben lange kühl. Erst, als sie warm sind, wagt Gerlinde einen Blick in den Spiegel. Sie ist zu alt. Niemals wieder wird sie diesem Schmuck ihren zerknitterten Hals mit den Alterswarzen zumuten. Und schon gar nicht wird sie irgendjemandem davon erzählen. Dieses Mal wird ihr niemand ihre Liebe nehmen, ihr Leben.

 

Sie legt das Collier auf die Sesselkante, neben ihr Kopfkissen, es ist immer da, immer schön. Sie streichelt es, flüstert die Namen der Steine, spricht mit ihnen von ihrer Heimat, von Brasilien, Tansania, Australien.

 

Dass niemand davon weiß, macht ihre heimliche Liebe umso kostbarer. Gerlinde ist glücklich. Sehr.

 

Ihre Wohnung kann sie nicht mehr verlassen, jeder weiß doch von den vielen Einbrüchen. Sie wird nicht vermisst. Auch nicht von der Bäckersfrau. Von den Brüdern sowieso nicht.

 

Monate später findet die Feuerwehr einen halbverwesten Körper, den Schädel neben ein unerwartet teures Schmuckstück gebettet. Die ausgestreckten Fingerknochen der linken Hand hütend darüber.

 

„Ich könnte schwören, sie lächelt“, sagt ein Feuerwehrmann.

 

 

Version 3