Von Daniela Seitz

Nia war eine halbe Stunde zu früh. Sie hatte im Restaurant einen Tisch für zwei bestellt. Es war zwanzig Jahre her, dass sie Melvin gesehen hatte. Nun hatte Melvin sich bei ihr gemeldet und wollte reden. Sie beschloss, drinnen zu warten. Der Tisch war schon frei. Sie setzte sich und bestellte einen Wein.

Melvin kam fünf Minuten zu spät. Als sie ihn schon von weitem sah, verschluckte sie sich. Er hatte sich so verändert. Als er auf sie zukam, versuchte sie aufzustehen um ihn zu begrüßen. Doch sie blieb irgendwo hängen und warf das Glas Wein um, bei dem Versuch sich abzufangen.

„Bleib ruhig sitzen, Nia.“, rief Melvin, ebenfalls nervös und damit beschäftigt ihr Glas aufzufangen.

Was für Reflexe, dachte sie, während sie gleichzeitig sehr wohl registrierte, dass er sie bei ihrem Namen nannte.

Sie setzte sich wieder, während Melvin das Glas hinstellte und notdürftig mit ihrer Serviette den verschütteten Wein von der weißen Tischdecke zu wischen suchte. Es aber nur schlimmer machte. Er gab auf, zog seinen Mantel aus und setzte sich ebenfalls. Die Begrüßung fiel damit aus.

„Entschuldige, dass ich zu spät bin.“

Sie sah ihn an. Ein peinliches Schweigen entstand zwischen ihnen. Es zog sich und sie hielt es nicht mehr aus. Sag irgendwas, dachte sie. Hauptsache wir schweigen uns nicht an. Sie setzte zum Sprechen an. Doch sie verstand kein Wort, da sie beide zugleich anfingen zu reden.

„Du zuerst!“, sagte sie und lachte unsicher.

Er sah sie an. Fest und durchdringend. Sie erwiderte den Blick und er fasste sich ein Herz.

„Na gut, dann direkt und ohne Umschweife. Warum bist du gegangen? Ich verstehe es nicht.“

Betroffen senkte sie den Blick und betrachtete stattdessen die Weinflecken auf der Tischdecke, die durch die Wischaktion zu einem großen Fleck geworden waren. Die Schmetterlingsform, die sie zu erkennen glaubte, irritierte sie.

Die Bedienung kam an den Tisch und nahm ihre Bestellungen auf. Dies verschaffte ihr einen kurzen Aufschub. Ihr Blick schweifte hektisch umher. Ihre Hände wurden feucht und sie versuchte sie unauffällig trocken zu reiben.

„Bist du sicher? Wenn ich es dir erzähle, verletzte ich dich vielleicht noch mehr?“, sagte sie, in der Hoffnung, nicht in der Vergangenheit rumstochern zu müssen.

„Darauf bin ich gefasst. Lass nichts aus. Es zu verstehen, ist mir wichtiger!“, beharrte er.

Überrascht begann sie zu erzählen:

„Ich war mit der Ausbildung zur Fotografin gerade fertig und machte mit einer Freundin Urlaub in Thailand. Ich reiste sehr gerne, liebte Sprachen und wollte als Reisefotografin arbeiten. Alle Städte der Welt zu fotografieren, das war mein Traum. Die Welt stand mir und meiner Freundin offen. Alles war möglich.

In Bankok besichtigten wir den Wat Phra Kaeo, den Königspalast. Ich musste mir Umhang und Schuhe ausleihen, weil ich unangemessen gekleidet war und man als respektlos gilt, wenn man die Kleiderordnung nicht beachtet. Wir betraten die oberen Terrassen vom östlichen Treppenaufgang, welcher von zwei riesigen Dämonenfiguren flankiert wird und passierten noch mehrere weitere vergoldete Figuren, die Wesen aus dem alten Glauben symbolisierten. Wir wollten zum Smaragbudda, welcher in einer Kapelle im Innenhof auf einem Thron aus Gold sitzt. Als wir den Innenhof betraten, fiel mir ein gutaussehender Mann mit einer professionellen Fotoausrüstung auf.

Ich sprach ihn an, da das Fotografieren wegen des Smaragdbuddhas bereits im Innenhof verboten war. Seine Augen waren hypnotisch und ließen mich nicht los. Er erklärte mir, Reisefotograf zu sein und ich stellte ihm tausend Fragen. Bis meine Freundin dazu kam und darauf bestand sich jetzt den Smaragdbuddha, Thailands Nationalschatz, anzusehen. Daher trennten sich unsere Wege wieder.

Als ich zwei Tage später allein den Chatuchak Wochendmarkt besuchte, traf ich ihn wieder. Was an sich schon ein kleines Wunder war, da der Markt mit über 10.000 Ständen auf einer Fläche von 1,13 Quadratkilometern, so groß ist, dass man oft den Stand, an dem man war, nicht wiederfindet. Er lud mich in eines der Restaurants auf dem Markt zum Essen ein, gab mir Tipps, Kontakte und seine eigene Karte, für den Beruf den ich ergreifen wollte.

Danach liefen wir den ganzen Tag über den Markt, ein wahres Shopaholic Paradies. Wir erlebten Künstler, wühlten uns durch allerlei Krimskrams, regten uns über die schlechten Bedingungen für die Tiere, die verkauft wurden, auf und hatten dabei selbst kaum Platz, weil so viele Menschen dort unterwegs waren und die Waren dicht an dicht um einen herumstanden oder, wie in der Textilabteilung, von der Decke herabhingen.

Als es Abend wurde, wechselten wir zum Nachmarkt JJ Green. Dort gab es Live Musik und jede Menge Bars. Kein Ort für jemanden der früh schlafen geht. Wir gingen in eine Bar und ich bekam Lust zu tanzen. Doch ich war verunsichert, weil niemand sonst tanzte. Da beugte er sich vor und küsste mich.

Es war nicht mein erster Kuss, doch dieser Kuss war anders. Ich wollte mehr. Ich wollte ihn. Das war eine völlig neue Erfahrung und ich wusste nicht wohin sie führt. Sein Atem kitzelte an meinen Ohren, als er mich fragte ob ich ihn nach Hause begleite. Sein Duft raubte mir den Atem. Ich nickte nur, ging mit ihm mit und erlebte meine erstes Mal.

Am nächsten Tag zerstritt ich mich mit meiner Freundin, weil ich lieber mit ihm im Rot Fai Park Fahrräder auslieh, als mir weiter, wie geplant, mit meiner Freundin Thailand anzuschauen. Überhaupt wollte ich die restliche Woche  nach ihm ausrichten.

Meine Freundin warf mir vor, was für ein Spätzünder ich doch sei. Doch das war mir egal. Mit ihm fühlte ich mich so euphorisch, so frei. Ich glaubte seinen Liebesschwüren. Das Gefühl, mir stünde die Welt offen, wurde mit ihm in ein Gefühl der Unbesiegbarkeit gesteigert. Alles war möglich!

Als der Urlaub vorbei war, hielt dieses Gefühl leider nicht an. Unsere Auftragslagen als Fotografen deckten sich nicht und während ich kaum Aufträge hatte, war er mal hier, mal dort und reiste über den ganzen Globus. Um ihm hinterher zu reisen, hatte ich nicht genug Geld. Und so weit weg wie er wohnte, wäre nur eine Fernbeziehung möglich gewesen, die mir zu anstrengend war.

Doch wir hielten sporadischen Kontakt und trafen uns ab und an sogar. Und jedes Mal, wenn wir uns trafen, war es wie beim ersten Mal.

Ich lernte andere Männer kennen, wurde Mutter und heiratete einen älteren Mann, der mich mit seiner Liebe einengte. Ich konnte meinen Traum nicht weiterverfolgen. Die Mutterrolle nahm mich gänzlich ein. Ich fotografierte nur noch zum Spaß. Ich stand still und hatte das Gefühl mich nicht weiterentwickeln zu können. Meine Welt war grau und eintönig.

Daran drohte ich zu ersticken, als ich ihn, per Zufall, bei einem Radrennen wiedertraf. Ich war da, um meinen Mann anzufeuern, der sich mit ihm das Hobby des Radsports teilte. Er hatte sich ebenfalls dort angemeldet und trat gegen meinen Mann an. Oder wäre angetreten, hätte er mich nicht gesehen. Während alle anderen losfuhren, sprang er vom Fahrrad und stürmte auf mich zu.

Ich hatte den sporadischen Kontakt zu ihm abgebrochen, um meine Ehe nicht zu gefährden. Doch gegen den Zufall war ich machtlos.

„Also kurz zusammengefasst, hast du mich, deinen Sohn, mit fünf Jahren verlassen, weil du deine Jugendliebe wiedergetroffen hast? Liebe ist wichtiger als Mutterliebe? Ist es das was du mir sagen möchtest?“, fragte Melvin.

Er hatte still zugehört, während er gleichzeitig seine Reispfanne aufgegessen hatte. Nun warf er das Besteck frustriert auf den Teller. Das Geräusch hallte in Nias Ohren wie ein lautes und bedrohliches Donnern eines Gewitters wieder.

„Alasdair ist mehr als nur meine Jugendliebe. Als ich den Kontakt zu ihm abbrach, wurde ihm klar wie sehr ich ihm fehle. Er bot er mir einen Job an und zog nah zu mir. Er machte meine Träume wahr und gab meinem beruflichen Leben Impulse.  Er machte alles möglich.“

„Offensichtlich ist alles möglich, wenn eine Mutter ihr Kind verlässt. Aber warum hast du mich nie besucht?“, fragte Melvin zornig.

„In meinem Beruf reise ich spontan in der ganzen Welt herum. Ich muss flexibel planen. Dein Vater kochte vor Eifersucht. Er forderte Stabilität für dich und behauptete, mein Beruf verhindere, dass ich meine Zusagen, dir gegenüber, einhalten würde. Als ich meinen Beruf nicht aufgab, wurde er aggressiv und drohte mir, obwohl ich ihm das Sorgerecht überlies, um dich nicht aus deiner gewohnten Umgebung zu reißen…“

Melvin haute mit der Faust auf den Tisch.

„Schluss damit! Erst betrügst du ihn, dann verlässt du uns und jetzt soll ich mir Lügen über Pa anhören?“, schrie er.

Er winkte die Bedienung zum Tisch.

„Ich habe dich nicht umsonst gewarnt, dass du noch verletzter sein würdest, wenn ich es dir erzähle. Du warst fünf. Woher willst du wissen, was wirklich zwischen ihm und mir war, wenn du dir meine Seite nicht anhörst?“, fragte Nia impulsiv und griff nach seiner Hand, die noch auf dem Tisch lag.

Er riss seine Hand weg, während er wie von der Tarantel gestochen aufsprang. Sein Blick war wie ein riesiges Stopp Schild, das warnte: Bis hierhin und nicht weiter!

„Heute verkrafte ich aber nicht mehr! Pa liegt im Sterben!“

Die Bedienung kam an den Tisch und während Melvin bezahlte, versuchte er sich zu beruhigen.

 

„Er will dich sehen.“, sagte er, um Fassung bemüht, während er sich seinen Mantel anzog.

„Warum sollte er das wollen?“, fragte Nia verdutzt.

„Das würde ich auch gerne wissen. Aber er will es mir nicht sagen und beharrt darauf.“, sagte Melvin verärgert und wandte sich zum Gehen.

„Kannst du mir verzeihen, Melvin?“, rief Nia ihm panisch hinterher.

Er blieb stehen und sagte nichts. Dann schien er einen Entschluss zu fassen.

„Bring das mit Pa in Ordnung. Danach höre ich dir zu.“

Sie schaute ihm nach, während er ging. Ihr Herz verkrampfte sich und sie kämpfte mit den Tränen. Doch verzweifelt klammerte sie sich an die Hoffnung. Ihr Sohn hatte Kontakt zu ihr gesucht. Weitere Treffen waren nicht ausgeschlossen. Sie musste sich nur der Vergangenheit stellen. Vielleicht war Absolution dann erreichbar.

Denn alles ist möglich.

 

Version 2