Von Sabine Esser
Vier Uhr früh. Susanne wacht plötzlich auf. Irgendetwas stimmt nicht. Hastig schlüpft sie in ihre Klamotten, beruhigt die aufgeschreckten Katzen und radelt in den Hölderlinweg. Das ganze Viertel schläft noch. Nur im dritten Stock rechts ist das Licht an. Klar, Steffi!
Als beste Freundin hat sie die Schlüssel für Haus und Wohnung. Drei Treppen. Atemlos japst sie nach Luft. Blöde Raucherei! Schon von draußen hört sie die Musik. Nicht schon wieder! Dieser Scheiß-Kerl!
Automatisch wählt sie 110. Dort kennt man die Adresse schon.
Alles wie immer. Er war da. Beziehungsweise: Er war wieder mal nicht da! Terminprobleme vermutlich. Das halbvolle Glas im Wohnzimmer, zwei leere Flaschen Wein und eine fast volle. Die Teelichter brennen noch. Der Schallplattenspieler steht auf „Wiederholung“.
Im Schlafzimmer, auf dem Bett mit dem dunkelroten Satinzeug liegt sie. Die gleichen Schlaftabletten wie immer auf dem Nachttisch. Das sexy Outfit zerknittert und befleckt. Vollgedröhnt. Besinnungslos. Tränenverschmiertes Makeup. Und dazu diese Musik. Die sanfte Stimme und die simple Melodie sind nicht zum Aushalten.
Die Sanitäter sind weg. In ein paar Stunden darf Susanne zu Steffi. Erschöpft sinkt sie in deren Lieblingssessel und hört: „… und immer wieder, und immer wieder, ich lieb‘ dich immer noch …“
Am liebsten würde sie den Plattenspieler mit einem gezielten Schuhschlag töten. Es kostet große Überwindung, die Anlage einfach nur auszuschalten, die Schallplatte nicht zu zertrampeln.
Seit über fünfzehn Jahren geht das so. Höchstens zweimal im Jahr ruft der A… an, und die sonst so „coole“ Steffi ist hin und weg. Putzt die Wohnung bis in die letzte Ecke, kauft sich neue Klamotten, geht zum Friseur und hat kein anderes Thema als „IHN“.
In welche Lokale er sie ausgeführt hat, wie sein Lächeln sich anfühlt, welche Wirkung sein Blick hat. Wie unverstanden er sich fühlt! Dass er ihr als Erster zeigte, wie schön Liebe sein kann. Und vor allem, dass er sich ganz bestimmt von seiner Frau trennen wird. Immerhin seien sie schon so lange zusammen. Die Plastikrose vom Hamburger Dom, die er vor –zig Jahren für sie geschossen hat, liegt immer noch in der Vitrine. Für mehr hat es nie gereicht. Das uralte Foto, auf dem sie an seiner Seite so glücklich aussieht, steht auf dem Nachttisch.
Susanne schnauft wütend, wuchtet sich aus dem Sessel, schnappt sich das halbvolle Glas und geht auf den Balkon. Dort darf sie rauchen. Steffi raucht zwar auch, aber der A… mag den Geruch nicht. Er mag auch keine Katzen, und schon gar nicht mag er es, dass Steffi mit ihr über ihn spricht. Tut sie aber trotzdem. Eine Therapie hält sie für unnötig, sie sei nicht krank, sondern kämpfe lediglich um die Liebe ihres Lebens.
Was Steffi schon an Männern hat sausen lassen! Die können baggern, soviel sie wollen. Aber nein, nur ER ist wichtig. Der A… und seine Sch…-Plastikrose! Echte Rosen braucht Steffi. Lebendige.
Das halbvolle Glas ist leer. Susanne knallt es auf den kleinen Balkontisch. Es reicht! Dieses Mal räumt sie Steffis Wohnung nicht auf. Soll die Andere doch das Elend sehen und eine Entscheidung treffen.
Bevor Susanne geht, stellt sie die Musik wieder an und auf „Repeat“, allerdings sehr viel leiser.
Kurz nach neun Uhr morgens lässt sie sich von der Klinik mit seiner Ehefrau verbinden und gibt vor, Steffi habe einen Selbstmordversuch begangen, was nicht mal ganz gelogen ist. Melanie ist völlig überrascht und sagt sofort zu, sich mit Susanne zu treffen, um „Missverständnisse aus der Welt zu räumen.“
„Wie kommt Ihre Freundin dazu, zu glauben, dass mein Mann sich von mir trennen möchte?“
„Kommen Sie einfach mit und sehen Sie selbst. Das muss ein Ende haben.“
Kaum hat Susanne die Tür geöffnet, zuckt Melanie zusammen. Deutlich ist zu hören:
„Wieviele leere Stunden schon
Saß ich wie dumm vorm Telefon
Und hab gehofft in meinem Wahn
Dabei nur meine Zeit vertan …“
„Sulke. Ich dachte, den spielt er nur für mich. Wie lange geht das schon?“
„Etwas über fünfzehn Jahre.“
Melanie starrt auf das Foto vom Hamburger Dom und die Plastikrose.
„Da war Ihre Freundin …“
„Ja genau, gerade mal sechzehn.“
Beide Frauen schweigen, mustern sich. So viel Unausgesprochenes ist zwischen ihnen.
Susannes Stimme ist kratzig, als sie endlich sprechen will. Mehrfach muss sie hüsteln, bevor sie sich traut.
„Sie müssen mit Steffi sprechen, damit sie begreift, dass es Sie wirklich gibt, dass er sich niemals scheiden lassen will und wird. Dass er Sie liebt und Steffi nur ein Appetitsel ist. Dass sie nicht wichtig ist. Nicht für ihn! Nur Ihnen wird sie glauben. Sie müssen da sein, wenn sie wach wird. Auf mich hört sie ja nicht.“
Sehr lange dauert es, bis Melanie tief durchatmet und nickt.
Version 2