Von Eva Fischer

Wie kann man sein Kind Carmen nennen, nur weil man ein paar schöne Spanienurlaube erlebt hat und dieses Happy Feeling konservieren möchte? Wenn dann die trüben Novembermonate kommen, kann man seinem Partner sagen: „Guck, das ist unsere Tochter! Ist sie nicht die Schönste von allen, das Highlight unserer Beziehung!“

 

Haben meine Eltern denn nie die Oper „Carmen“ zu Ende gesehen? Wissen sie nicht, was passiert, wenn die Liebe des einen stirbt, während die des anderen lodert? Bah! Ich habe sie immer gehasst, diese Liebestragödien. Romeo und Julia, Bonnie und Clyde, Sonny und Cher oder wie sie alle heißen. Meist enden sie tödlich. Wer kann das denn wollen? Liebe ist eine zarte Blume, die nicht nur Sonne und Wasser, sondern auch Luft braucht. Und keine Blume blüht ewig.  

 

*

 

Alle haben Carmen wegen ihres Namens in der 5. Klasse gehänselt. Vor allem die Jungen! Es war weniger der Name, der sie reizte, als Carmens Reaktion. Wie eine Katze fuhr sie die Krallen aus. Entweder beschimpfte sie ihre Mitschüler aufs Übelste oder sie prügelte sich mit ihnen.

„Carsten! Lass das!“, sagte unser etwas verdattelter Klassenlehrer zu ihr. Kaum hörte Carmen diesen Namen, strahlte sie, entschuldigte sich höflich und zeigte sich von ihrer charmantesten Seite.

„Du wärst wohl auch besser ein Junge geworden“, meinte Herr Sauerbier seufzend und Carmen nickte. Er verstand nur zu gut, was Namen anrichten können.

 

Carmen wohnte mit ihren Eltern auf der gleichen Straße wie ich. Ich hätte einen früheren Bus zur Schule nehmen können als Carmen, was ich aber nicht tat, weil ich die 33 Minuten gemeinsamen Fahrweg mit ihr durchaus genoss. Anfangs schaute sie aus dem Fenster und beachtete mich nicht, aber eines Tages nahm ich meinen Mut zusammen und fragte, ob ich mich neben sie setzen könne. Sie schaute mich zerstreut aus ihren dunklen Augen an. „Ich bin der Jürgen“, stellte ich mich etwas linkisch vor. „Weiß ich doch“, grinste sie. „Du bist in meiner Klasse.“

„Du kannst die Mathehausaufgaben haben von mir“, fügte ich eilig hinzu.

Ich hatte schon mitbekommen, dass Mathe nicht ihre Stärke war.

„Echt?“, strahlte sie.

„Du bist wirklich ein Kumpel! Magst du was von meinem Pausenbrot? Meine Mutter gibt mir immer Käse drauf. Ich mag keinen Käse, und du?“

„Ich schon“, log ich.

„Wir können ja tauschen“, bot ich an.

„Was hast du denn drauf?“, wollte sie wissen.

„Wurst!“

„Wurst? Igitt! Totes Tier! Das ist ja ekelig.“

„Was isst du denn am liebsten aufs Brot?“

„Nutella!“

„Nutella?“

„Ja, kennste das nicht? Schmeckt süß wie echte Schokolade!“

Fasziniert schaute ich auf ihre Zunge, mit der sie sich den Mund abschleckte, als wäre er mit Mus bestrichen.

„Morgen bringe ich ein Brot mit Nutella mit“, versprach ich.

Meine Mutter wunderte sich, dass ich ab sofort nur Nutella aufs Brot haben wollte. War ich doch bisher als begeisterter Wurstesser aufgefallen. Aber sie kaufte mir tatsächlich den ungesunden Kram in der Hoffnung, dass die Phase bald vorbei sei.

 

Es war abgemacht, dass Carmen vor mir den Bus verließ und dass wir auf dem anschließenden Fußmarsch zur Schule kein Wort miteinander wechselten, auch nicht auf dem Pausenhof. Irgendein Mitschüler schien doch etwas gemerkt zu haben, denn als Herr Sauerbier die Tafel öffnete, um neue Vokabeln anzuschreiben, prangte dort ein rotes Herz, in der Mitte C und J in Großbuchstaben.

Die Klasse wieherte und alle drehten sich um. Carmen saß in der vorletzten Reihe links, ich in der letzten Reihe rechts. Jungen und Mädchen hatten sich ganz ohne das Zutun des Lehrers geschlechtlich auseinanderdividiert.

Carmen ging wütend auf Philipp zu – vermutlich weil er am dreckigsten gelacht hatte – und musste von Herrn Sauerbier gestoppt werden, während ich rot anlief, was zum Glück von meinen Mitschülern unbemerkt blieb, weil Carmen im Mittelpunkt stand.

Trotz dieses Zwischenfalls ließen wir uns unsere gemeinsamen Busfahrten nicht nehmen und in Klasse 6 vertraute Carmen mir flüsternd an: „Du bist mein einziger Freund!“ Ich schaute sie verdattert an. Zu gerne hätte ich die Worte laut und in einer Endlosschleife gehört. Zur Besiegelung ihrer Worte drückte sie mir einen Kuss auf die Wange, sprang auf und stellte sich an die Bustür.

 

Spätestens ab Klasse 8 waren Mädchen auch für uns Jungen ein Thema und ich hätte Anerkennung von meinen Kumpeln geerntet, wenn Carmen sich neben mich gesetzt hätte. Doch sie wollte lieber allein sitzen, war meistens auf Krawall gebürstet, entfachte eher einen Zickenkrieg unter den Mädchen als sich auf die Avancen der Jungen einzulassen, denn sie wurde von Tag zu Tag hübscher, wie jeder feststellen konnte.

Unsere gemeinsamen Busfahrten waren Vergangenheit, besser gesagt, unsere gemeinsamen Gespräche. Meine Mathehausaufgaben wollte sie nicht mehr. Sie stand zu ihrer Betonfünf, die sie durch Einsen in den Sprachen ausglich. Meist steckte sie sich Knöpfe ins Ohr, hörte Musik und signalisierte damit, dass sie von allen in Ruhe gelassen werden wollte, auch von mir. Einmal nahm sie meine Hand, als ich unglücklich drein schauend an der Bushaltestelle stand. „Du bist ganz ok“, sagte sie.

 

Am Tage der Verleihung unseres Abizeugnisses kam sie überraschend auf mich zu. Sie umarmte mich so fest, dass ich ihre beiden Brüste spüren konnte. „Endlich sind wir frei, Jürgen! Ist das nicht toll?“

„Klaro! The best feeling ever!”, strahlte ich zurück, wobei ich zugegeben ihre körperliche Nähe meinte.

„Komm, lass uns verreisen!“, schlug sie vor.

„Echt? Nur wir beide?“

„Logo!“

Im letzten Jahr hatte sie ihren Anti-Carmen-Widerstand aufgegeben. Sie stand jetzt dazu, dass sie eine attraktive Frau war, ließ sich ihre Haare wachsen, betonte ihre braunen Augen mit Kajalstift und Eyeliner, kleidete sich modisch. Bei ihrer Figur stand ihr sowieso alles.

 

„Du hast doch schon den Führerschein“, kam sie aufs Praktische zu sprechen.

„Ja genau!“, bestätigte ich.

„Und hast du auch ein Auto?“, wollte sie wissen.

„Das wird mein Abigeschenk“, hörte ich mich nicht ohne Stolz sagen.

„Dann können wir es gleich einweihen! Was hältst du davon?“

Ich hielt viel davon, meine Mutter weniger, die fürchtete, ich könnte das Auto an die Wand fahren mangels Fahrübung. Es war wider Erwarten mein Vater, der mir beistand. „Der Junge muss sich seine Hörner abstoßen“, sagte er zu meiner Mutter.

Ich machte mit meiner damaligen Freundin Schluss, was mir nicht allzu schwer fiel.

 

Zwei Wochen später stand Carmen vor unserem Haus, bewunderte mein neues Auto, einen weißen Polo, in dessen Kofferraum sie einen großen Rucksack mit ihren Klamotten verstaute.

Sie drehte das Radio an und los ging es.

„I once had a girl or should I say she once had me“, sangen wir gemeinsam den Beatlessong mit.

“Weisst du noch, was ich früher zu dir gesagt habe“, fragte sie mich.

Ich schüttelte den Kopf, wollte es von ihr hören.

„Du bist mein einziger Freund“, wiederholte sie die Worte, die sich längst in mein Gedächtnis eingebrannt hatten.

„Das wird immer so sein!“, bekräftigte sie und gab mir einen Kuss.

„Keine sex affair wird unsere Freundschaft jemals kaputt machen! Schwör’s!“

„Nun schau nicht so bedröppelt, Jürgen!“, lachte sie. „Wir werden auch so viel Spaß haben. Das verspreche ich dir!“

Sie hatte recht. Wir tingelten durch Frankreich, kletterten auf mittelalterliche Burgruinen, schlenderten über farbenfrohe, duftende Märkte, schwammen im Meer, teilten uns ein Bett, erzählten uns unsere Zukunftsträume oder alberten einfach nur herum, Hand in Hand, zehn  endlos lange und wunderschöneTage!

 

Sie wollte die Welt bereisen, Sprachen studieren, am liebsten in Südamerika oder Australien. Ich  machte tausende Fotos von ihr, in immer neuer Pose, mit wechselndem Hintergrund, am liebsten als Nahaufnahme.

 

An unserem letzten gemeinsamen Abend packte mich die Wehmut. Ich schaute ihr in die Augen, als könnte ich sie hypnotisieren, sie dazu bewegen, für immer bei mir zu bleiben.

Sie lachte wieder ihr glockenhelles, ansteckendes Lachen.

„Ach, Jürgen! Schau niemals zurück, immer nur nach vorn!“, teilte sie mir ihre Lebensphilosopie mit.

 

Dann sah ich sie nicht mehr. Sie studierte Spanisch in Sevilla, hörte ich, während ich mich dem Maschinenbau widmete und danach noch für einige Jahre beruflich nach Asien ging.

Irgendwann nahmen wir wieder Kontakt über Facebook auf. Sie habe jetzt eine ganz reizende Tochter, 11 Jahre alt, teilte sie mir mit.. Ihr fehle zwar nicht der Ehemann, – als Stewardess sei sie eh nicht viel zu Hause, –  aber ihrer Tochter der Vater. Falls ich Lust hätte, könnten wir doch mal einen gemeinsamen Ausflug machen, ganz old fashioned wie mit unseren Eltern, ins Phantasialand oder auf die Kirmes. Was ich davon hielte?

 

  1. Fassung