Von Franka Billen

Jetzt stehen wir also hier, du und ich.

Wir stehen beisammen und sind doch so weit voneinander entfernt, wie wir es noch vor kurzem nie für möglich gehalten hätten.

Damals, ja damals, in einer Zuckerwattezeit, die noch nicht immerzu zu weinen gebraucht hat, damals, als unsere unkaputten Herzen im Einklang schlugen, wir uns sagten, dass wir uns liebten und das genug war, um einfach alles zu überstehen.

Doch selbst Zuckerwattezeit fängt einmal zu faulen an und deshalb stehen wir jetzt hier.

Ich greife nach deinen zitternden Händen, blass wie kleine Schneeflocken:

„Bitte lauf nicht weg so wie du es immer tust, bitte bleib bei mir, du darfst noch nicht gehen.“

Meine Stimme bebt genau wie dein immer frierender Winterkindkörper, Apfelblüten und Sonnenschein liegen in meinen Sätzen, fliegen durch die Luft zwischen uns bis sie schließlich an deinem kalten Eisherz abprallen und klirrend zu Boden sinken.

Müde, erschöpft.

Der Frühling meiner Worte hat alles getan, um dich zum Schmelzen zu bringen, doch als du mir antwortest, erkenne ich noch immer so viel Schnee in deiner Stimme:

„Ich kann nicht, es tut mir leid. Ich muss meinen eigenen Sommer finden, keinen von dir auf Zeit geliehenen. Ich muss suchen und das am besten allein.“

Die Lügen deiner Worte strahlen so schneeweiß, mir ist fast als sähe ich die Wahrheit, und dennoch versuche ich es noch einmal:

„Nein, du darfst nicht gehen, du darfst mich nicht allein zurücklassen, das kannst du mir nicht antun.“

Hätten Sätze Farben, so wären diese hier gewiss staubgrau und spinnwebenartig, wie unscheinbare Herbstnebelschwaden, du kannst mühelos durch sie hindurch sehen bis auf den Grund meines verlorenen Seins, doch was du siehst ist dir schlicht egal.

Also probiere ich es ein letztes Mal:

„Bleib hier bei mir, du darfst nicht gehen, hörst du? Ich verbiete es dir. Du musst einfach bleiben, du kannst doch garnichts anderes, was wärst du denn noch ohne mich?“

Als ich verstumme ist es lange still, sehr, sehr still.

In deinen Augen bilden sich wunderschöne Eiskristalle und Schneeblumen während ich spüre, wie es merklich ein paar Grad kälter wird, zwischen uns und auch auf der ganzen restlichen Welt.

Wind fährt flüsternd durch die nackten Bäume und ihre Äste, sie wispern und flüstern:

„Flieh! Lauf weg solange du noch kannst!“

Wir werden wohl nie erfahren, ob sie mit dir sprachen oder mit mir. Langsam werde ich ungeduldig, der Wintersturm zerrt an meinen Nerven, während ich wütend dein schmales Handgelenk packe.

Heute läufst du mir nicht davon.

Ich zwinge dir einen kalten Kuss auf deine blauen Lippen, um zu retten, was zu retten ist, doch die Geschichten, welche sich anschließend in unseren müden Augen spiegeln, belehren mich eines Besseren.

„Winterkind, das Meer ist kalt, ich will nur nicht, dass du ertrinkst. Wir werden uns verlieren, wenn du zwischen all den Eisschollen noch weiter davontreibst. Siehst du denn nicht die Eisbären? Überall, einfach überall. Wie sollen sie, die immerzu am Brüllen und Knurren sind, dich je in deiner Schweigsamkeit verstehen? Winterkind, geh nicht. Die unterkühlte Poesie deines Eiszeitdaseins ist mein letzter Wortschatz.“

All das versuchen meine Blicke dir zu sagen, doch deine erzählen währenddessen ganz eigene Geschichten:

„Ich muss gehen, ich muss. Ich muss lernen, mir selbst warm genug zu sein, ich muss mir erlauben, erst zu schmelzen und dann zu erblühen, immer wieder und wieder, so lange bis ich mir endlich eingestehen kann, mein eigener Sommer zu sein, keine fremden Sonnen brauchend um zu bestehen.

Und du, du willst doch nicht weiterhin nur blaue Lippen küssen, du wirst müde werden, mir immerzu die Eiskristalle aus dem Winterhaar zu klauben, du wirst ein lebendiges Mädchen an deiner Seite haben wollen, dessen Herz du berühren kannst, ohne zuvor mit Gewalt die Eisschicht aufzubrechen.

Aber noch bin ich ein Winterkind und meine Einsamkeit fast unzerstörbar.“

Ja, so oder so ähnlich muss es wohl in deinen Augen stehen, doch der daraus tropfende Schnee nimmt mir die Sicht.

Genau wie dir.

Wir beide sind blind und so verloren, wie wir erzählen wollen und reden, erklären, alles erklären und die Tragik unserer splitternden Herzen teilen, immerzu teilen, anstatt einfach zuzuhören, auch mal fremde Worte auf sich nehmen, nicht immerzu nur alles abgegeben wollen.

Wir beide sind viel zu still in unserem fortwährenden Geschichtenrausch als das irgendjemand uns verstehen könnte.

Geschweige denn wir selbst.

Jeder spricht immer nur für sich, und das in seiner ganz eigenen Fremdsprache.

Wenn du flüsterst, dass du mich verlassen solltest, dann heißt das übersetzt so viel wie dass du mich noch immer und trotz allem über alle Maßen liebst und wenn ich dir als Antwort mit der flachen Hand ins Gesicht schlage, will ich eigentlich nur antworten:

„Ich liebe dich auch.“

Hast du nicht ebenfalls beizeiten das seltsame Gefühl, unsere Kommunikation ist noch ein ganzes Stück kaputter als beim Rest der Welt?

Wie verzweifelt ich versuche, dich bei mir zu behalten und gleichzeitig der einzige Grund bin, warum du überhaupt erst flüchten willst, beschreibt die Art unseres desaströsen Daseins perfekt.

Aber du bist doch mein Schneeengel, der kühle Verstand für mein brennendes Herz, du kannst mich nicht alleine schmelzen lassen.

„Weißt du denn nichtmehr, damals, die Kinder, wie sie tanzten, du in ihrer Mitte, barfuß und mit Blumen im Haar, weißt du denn nichtmehr, wie glücklich wir waren? Weißt du nichtmehr, der Leuchtturm in der schwarzen See, wie er geflimmert und gestrahlt hat, der Nacht zum Trotz? Was ist mit den Gedichten, die ich dir vorlas, jeden Abend, wenn dein Winterkindkörper zu sehr zitterte, um dich schlafen zu lassen? Weißt du nicht mehr…“ Noch während ich rede, bemerke ich, wie meinen Worte der Zusammenhang zu fehlen beginnt, was ich sage, ist nicht länger unsere Vergangenheit, es ist nurnoch eine Geschichte, so lose und auseinandergerissen wie die Wolken am Abendhimmel, mit zwei unglücklich hineingestolperten Protagonisten, die der Realität entkommen wollten.

Heute, hier wo wir stehen, schlurfen müde Kinder ihren Eltern in Winterschuhen hinterher. Keiner tanzt, die Stadt lässt die Nacht so grell strahlen, ein Leuchtturm würde niemandem weiter auffallen, und vom Meer sind wir sowieso meilenweit entfernt. Die vorbeirasenden Autos rauschen so laut in meinen Ohren, wenn ich meine Augen ganz fest zumache und mich anstrenge, könnte es zwar fast wie ein kaputter Ozean klingen, doch zum Gedichte vorlesen ist es hier definitiv zu laut.

Alles was uns verband ist verschüttet unter unzähligen Schneelawinen und es spielt keine Rolle mehr, ob du sie lostratest oder ich oder wir beide. Ich beginne zu verstehen, dass wir erfrieren werden, genau hier, genau jetzt, wenn wir uns nicht voneinander trennen und ins Warme gehen, jeder seinen Weg. Du scheinst ähnlich zu denken, denn nach einem letzten Kuss auf meine Wange, sanft und leicht wie Schneeeulenfedern, wendest du dich ab und gehst.

Endlich, endlich erlaube ich mir, den Winter loszulassen.