Von Sarah Lechner

Ich sehe noch dein Gesicht vor mir, doch deine Konturen verschwimmen von Tag zu Tag mehr. Es macht mir Angst, ich könnte dich vergessen. Du könntest mich vergessen. Dein Lächeln schwebt über mir wie eine verblasste Wolke am Horizont meiner Vorstellungskraft. Zieht weiter. Bleibt stehen. Kommt wieder zurück und verdeckt den Moment. Den Moment zu genießen. Im Jetzt zu leben ist die schwerste Aufgabe, die mir das Leben je gestellt hat. Ich drifte ab. Hebe ab und schwebe fort, bis ich ferner der Realität nicht mehr sein könnte. Denn zwischen der Realität und den Bildern in meinem Kopf befindet sich eine tiefe Kluft. Verzweifelt versuche ich dann, mich an meinen Fantasiebildern festzuhalten, denn wenn alles andere sich in Luft auflöst, wenn der reale Boden unsicher wird, sind es am Ende die Bilder, die bleiben. Egal ob bunte oder schwarzweiße Geschichten, sie sind da. Halten meine zittrige Hand. Geben mir Halt. Lange war mir nicht bewusst, was es bedeutet in einer Parallelwelt zu leben. Diese Traumwelt gleicht einem abstrakten Muster, das sich langsam mit viel Mühe in meinem Gehirn verankert hat. Wie kleine Wiederhaken hat es sich mit meinen Synapsen vernetzt und ausgebreitet, bis es zu meiner Wahrheit wurde. Bist du zu meiner Wahrheit geworden bist. Durch dich konnte ich mich in der Realität spüren. Durch deine Liebe konnte ich mich selbst lieben. Ich dachte, wenn ich dich loslassen würde, wäre mein Leben vorbei. Weil du bis heute mein Leben warst.

Worte sind zeitlos und für die Ewigkeit. Doch schaffen auch sie es nicht, dass die Erinnerung für immer bleibt. Zwanghaft versuchen wir sie einzufrieren, einzupacken und zu kopieren. Greifen ins Leere, bis wir am Ende merken, dass wir nur um unseren eigenen vergangenen Schatten schwirren. Wir irren herum völlig ahnungslos, doch bloß nicht loslassen. Bloß nicht vergessen, was wir so lange und mühevoll aufgebaut haben. Durch dich durfte ich erfahren, was Liebe ist, die ich bis dahin für die größte Lüge der Menschheit hielt. Ich hatte keine Ahnung auf was ich mich einließ, als du zum ersten Mal die Schwelle meines Studentenzimmers übertreten hattest. Eine neue Welt voller Glitzer und Wärme hat sich mir geöffnet. Ich weiß ja nicht ob ich es dir jemals gesagt habe, aber es war wahrscheinlich die schönste Woche meines Lebens. Wär hätte gedacht, dass der Schleier der Gewohnheit sich auch über unsere Augen legen würde. Uns erblinden und uns gegenseitig nicht mehr wiederfinden ließ. Die Gewohnheit war anfangs mächtiger als das was wirklich war. Doch dann schlug sie zurück, die Sehnsucht, mit doppelter Kraft. Alles nur zu unserem Glück wurde mir dann klar: ich war getrieben von meiner inneren Kraft. Du lagst einfach nur da und hast gar nichts mehr gemacht.

Wie einen bitteren Nachgeschmack spüre ich deinen Körper an meinen gepresst. Kann deine Hände fühlen, wie sie langsam von mir Abschied nehmen. Deine Lippen, wie sie zum letzten Mal mein ahnungsloses Gesicht küssen. Deinen Atem, der immer noch wie ein dumpfes Echo in meinen Ohren wiederhalt. Alles zum letzten Mal, bevor wir einander durch dieses milchige Glas anblicken. Ein Glas, gegossen aus sehnsüchtigen Tränen. Erleichternd und schmerzvoll zugleich, scheinen sich die zwei Körper, die einmal ein Ganzes waren, langsam zu trennen. Ein Vorgang der schon viel früher begonnen hatte. Doch war er vor lauter Hoffnung und Angst, loslassen zu müssen nicht sichtbar gewesen. Lange hielten dünne Fäden aus Liebe und Erinnerung die beiden Körper zusammen. Doch dieses Mal war auch der Druck auch für die Liebe zu schwer und die Verbindung konnte nicht gehalten werden. Wie in Zeitlupe schwebten die beiden Körper nahezu schwerelos in entgegengesetzte Richtungen. Konnten dabei zusehen wie das Band ganz langsam und schmerzvoll zerriss. Zu schwach waren sie beide. Zuviel gekämpft hatten sie, dass sie dann einfach losließen, wie zwei gefallene Krieger, die Rücken an Rücken auf der selben Seite des Schlachtfeldes ihre Waffen auf den Boden legten. Geschlagen befreiten sie sich von der blutigen Rüstung, sodass die Sonnenstrahlen nun endlich ihre Wunden heilen konnten. Gerührt und mit einem Augenschlag, der mehr wert war als tausend Worte, verneigten sie sich demütig voneinander. Und so starb diese tiefe Verbundenheit. Wie eine Blume, die einst wundervoll blühte, verwelkte sie, verlor ihre Blätter, die langsam zu Boden segelten, wie kleine Schiffchen. Diese wiederum wurden im Laufe der Zeit Erde, in der Hoffnung, das bald etwas Neues, Anderes entstehen würde. Etwas dass beide im richtigen Moment verstehen würden.

Eines Tages werden wir beide wissen, wieso und warum das alles passiert ist, denn im Loslassen sind wir beschissen und vielleicht ist genau das die Erklärung. Ich erinnere mich an diesen Moment an dem ich gezwungen war, den Schritt in den Abgrund zu machen und dich fast nicht atmen ließ wegen meiner Angst. Angst ich könnte tiefer fallen, als zuvor. Und da da fiel ich. Ich schloss die Augen und die Lichter gingen aus.

 

***

 

Ganz leicht spürte sie wie der Wind durch ihre kurzen Haare pfiff. Sie musste sich erst an dieses neue Gefühl gewöhnen, dass ihr keine langen Strähnen mehr ins Gesicht wehten. Aus purem Automatismus rümpfte sie die Nase und tat so als würde sie sich ihre vor kurzem noch ziemlich lange Mähne aus dem Gesicht pusten. Ein Lächeln huschte über ihre vom heulen ausgetrockneten Lippen. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie so etwas wie Freiheit spüren. Immer hatte sie sich gefragt wie sie sich wohl anfühlt diese Freiheit, von der immer alle redeten. Gab es sie überhaupt? War es überhaupt möglich, sich in dieser Welt frei zu fühlen? Doch in diesem Moment wusste sie endlich, dass es dieses Gefühl der Freiheit gab und es machte sie glücklich und ängstlich zugleich. Ich bin aufgewacht, dachte sie. Aufgewacht aus einem Alptraum, der ihr all diese schönen Dinge im Leben verwehrte. Wie ein kleines Kind, dass zum ersten Mal die Welt mit seinen unschuldigen Augen betrachtete, observierte sie alles um sie herum. Saugte alles auf, was sie sah und ließ es auf sich wirken. Sie betrachtete die Bäume, deren Blätter im Sonnenlicht strahlten. Hörte Menschen und Tiere, und wie ihre Klänge zu einer harmonischen Melodie zusammenschmolzen. Nahm den Duft des Lebens war, der durch ihre Nase strömte. Was hatte sie getan? wo war sie gewesen, dass sie all diese Dinge nicht mehr wahrgenommen hatte? Eine Träne kullerte ganz verloren über ihre Wange. Sie war so gerührt und gleichzeitig verletzt, dass am Ende sie selbst es war, die ihr all die schönen Sachen verwehrt hatte. Sie selbst war es gewesen, die vor lauter Hass auf sich selbst blind in der Welt herum irrte. Kein Wunder, dass sie nicht vorwärts kam und ständig überall aneckte, wenn sie ihre Augen nur halb offen hatte. Wie durch einen Schleier blickte sie jahrelang auf das Leben und wunderte sich, warum ihr Herz nicht mehr lachen konnte. Selbstliebe war wohl die Antwort, und kein Mensch auf dieser Welt konnte diese Aufgabe für sie übernehmen. Nur sie ganz alleine kann sich selbst. Ganz von neuem wollte sie sich wieder entdecken und ihre Seele erkunden. Still dachte sie an die Worte, die eine Frau zu ihr gesagt hatte, als sie noch zu sehr gegen sich selbst ankämpfte: Beobachte dich einfach so wie du bist und akzeptiere dich und all deine Gefühle, die du in dir spürst. Was für ein verrückter Esoterik-Quatsch, dachte sie damals. Doch tief im Inneren wusste sie, das diese Frau Recht hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich immer sonderbar leer gefühlt. Als würde da irgendetwas fehlen in ihrem Leben, etwas das sie nicht benennen konnte und von dem sie heute weiß, dass es Liebe war. Sie war auf der Suche nach Liebe und hatte verzweifelt versucht, sie in anderen Dingen und Menschen anstatt in sich selbst zu suchen. Und keine Frage, sie fand diese Liebe von anderen auch, doch konnte sie am Ende nichts damit anfangen, weil sie immer außerhalb jedoch nicht in ihr selbst suchte. Sie traf Menschen, die sie liebten, mehr als sie selbst es tat, doch konnte sie diese Liebe oft nicht spüren. Aufsaugen wollte sie diese Liebe der anderen und damit dieses fürchterlich tiefe Loch in ihrem Herzen füllen. Und ihre Beziehung musste irgendwann schief gehen, damit sie es auch wirklich fühlen konnte, dass nichts und niemand, außer ihr selbst, ihre Wunde heilen konnte. Und dann sah sie es plötzlich. Dieses kleine Mädchen, dass aussah wie sie selbst. Wie es heulend und verlassen vor ihr saß und sie mit großen Augen anblickte. Ja fast verzweifelt anstarrte. Tränen rannten ihr über die Wangen, als sie dieses traurige Mädchen versöhnend in die Arme nahm.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid, dass ich dich so lange im Stich gelassen habe, flüsterte sie der Kleinen ins Ohr. Jetzt gibt es nur mehr dich und mich.