Von Silvia Friedrich

(Auszug aus dem Buch „Kurz vor Woodstock“ von Silvia  Friedrich)

 

Jetzt erst sah ich mich um. Rundherum war jeder ehemals freie Platz besetzt, das Zimmer berstend voll.

 

Ich lächelte ein gequältes „Guten Tag“ in die Runde.

 

So viele Leute waren mir immer unangenehm. Dass mich niemand so recht beachtete, entspannte die Situation ein wenig. Am Fenster direkt gegenüber, stand mit dem Rücken zu mir gedreht ein großer Junge im hellen Anzug. Er hatte sich vor Susas Mutter aufgebaut, die im Sessel saß und war mit ihr in ein Gespräch vertieft. Er lachte, hatte offensichtlich etwas Komisches gesagt, denn sie antwortete mit einem weiteren Lachen.

Ich stand in der Mitte des Raumes und kam mir ein wenig verloren vor.

Warum trägt der denn einen Anzug? Kein Mensch, jedenfalls kein junger Mensch trägt so einen Mist, dachte ich. Sicher hat ihn seine Mama eingekleidet und er fügte sich brav.

Der Junge scherzte mit Susas Mutter, unterhielt sich gewandt. Auch die anderen, in der Nähe sitzenden Gäste kicherten mit. Was immer dieser Anzugträger da redete, er schien die Leute mit seinem Quatsch zu verführen. Ich konnte es nicht verstehen, stand zu weit davon entfernt. Ich strengte mich an, Gesprächsfetzen zu erhaschen. Es gelang mir nicht. Ich hatte viel damit zu tun, mich hier gut zu positionieren. Wo sollte ich mich hinsetzen, mit wem sollte ich als erstes sprechen? Ich sah mich um. Alle waren mit irgendwem oder irgendwas beschäftigt.

Dann drehte der Junge sich plötzlich um, stolperte ein wenig, fing sich aber gleich wieder. Er kam auf mich zu, so als hätte man ihm gesagt, gehe jetzt und begrüße die da mal. Und er sah zu mir herüber, direkt in mein Gesicht und seines lächelte irgendwie und um die Augen hatte er so einen witzigen Ausdruck.

Dass dieser Augenblick eine Zeitenwende in meinem Leben markieren würde, ahnte ich nicht. Ich ahnte gar nichts. Ich sah diesem Menschen in das junge Gesicht, unfähig zu reagieren. Er überragte mich um eine Haupteslänge, schaute auf mich herab und war sehr freundlich. Sicher streckte er mir die Hand entgegen, doch ich nahm sie kaum wahr. Hätte ich sie ergreifen wollen, wäre meine Hand wohl ins Leere gestoßen, da ich die seine nicht orten konnte. Zu sehr klebte mein Blick an diesem Gesicht. Besonders die Augen, dunkel und groß, hielten jeden fest, den sie anschauten. Der Mund ein wenig schmal, dahinter recht schöne Zähne, ein wenig klein vielleicht, aber durchaus attraktiv. Weiche Haut, die sicher noch nicht mit einem Bart zu kämpfen hatte. Locken, braun, fast schwarz wippten um seinen Kopf und bildeten das Echo, zu dem was er sagte.

Irgendetwas war passiert. Ich konnte es noch nicht ausmachen, da mir die Situation gänzlich fremd vorkam. Doch die Welt war nicht mehr so, wie sie mir eben noch beim Eintreten in dieses Zimmer erschien. Die Eintönigkeit eines Dorfjugenddaseins gepaart mit Außenseitertum, meine Kindheit,  mein ganzes bisheriges Leben endeten in dem Augenblick, als sich der Fremde umdrehte, als ich diesem Jungen zum ersten Mal ins Gesicht sah. Es gab eine Zeit vor ihm und eine Zeit danach. Eine Zeitrechnung ohne ihn würde es nie mehr geben. Was ich jedoch in diesem Moment noch nicht einmal ahnte. Vielleicht hätte man ihn für einen Römer halten können. Ein unglaublich schöner, junger Römer mit blitzenden Augen. Er sagte etwas zu mir, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich lächelte zurück und starrte ihn an. Irgendetwas rumorte in der Mitte meines Körpers. Vielleicht reichte ich ihm irgendwann meine Hand, ich weiß es nicht mehr. Ob er sie ergriff, kann ich nicht sagen. Ich sah nur noch diesen Menschen an und durch den Kopf schossen mir eine Fülle von Gedanken:

 

Du bist so schön. Ich habe noch nie im Leben einen Menschen gesehen, der so schön ist. Dein Blick trifft mich tief.

Ich werde diesen Blick mein ganzes Leben nicht mehr vergessen.

Ich höre Deine Stimme.

Hat irgendjemand bisher je so geklungen?

Was sagst Du nur, ich kann nichts verstehen.

Sprichst Du mich an?

Ich sehe Deine Hand.

Hat irgendjemand je so schöne Hände gehabt? Weiß und lang und fein.

Wo warst Du so lange?

Ich möchte nie mehr etwas anderes tun, als Dich ansehen.

Ich möchte nie mehr etwas anderes tun, als Dir zuhören.

Ich möchte nie mehr etwas anderes tun, als mit Dir zusammen sein.

Warum gehen wir nicht weg von hier?

Warum sehe ich dich erst heute?

Wo warst du so lange?“  

      

Vielleicht hatte ich schon einmal davon gelesen, dass sich Menschen auf den ersten Blick in einen anderen verlieben, vielleicht sogar zu lieben beginnen in einem allerersten Moment, aber bisher hielt ich das für elenden Quatsch. Und auch jetzt, da ich dastand und einfach nur in Richtung dieses Jungen starrte, merkte ich nicht, dass genau so etwas grade mit mir passierte. Ich sah niemanden mehr im Raum, nahm nicht wahr, wem ich die Hand zur Begrüßung gab und wusste auch nicht, auf welchem Sitz ich Platz nehmen sollte. Ich guckte nur in diese eine Richtung. Jeder, der es sah, musste zwangsläufig aufmerksam werden und räusperte sich ein wenig und da meine Ohren nach einer Weile wieder funktionierten, vernahm ich endlich auch das leise Hüsteln der anderen. So wurde ich rot im Gesicht und sah auf den Boden, rückte meinen Stuhl zurecht und setzte mich mit an den gedeckten Kaffeetisch. Dass ich hier zwischen dem Blümchengeschirr und der Sahnetorte nichts fallen ließ, verdankte ich eiserner Aufmerksamkeit bei jedem Handgriff.

Während der Nachmittag objektiv verlief wie alle Geburtstage meiner ehemaligen Freundin, befand ich mich in einer anderen Welt. Und in dieser Welt gab es nur zwei Menschen: ihn und mich. Immer wieder sah ich zu ihm hinüber. Ob er es auch tat, konnte ich nicht so ohne Weiteres feststellen. Denn meine Aufmerksamkeit wurde immer wieder von den anderen gefordert. Einmal wollten sie irgendein albernes Spiel spielen, dann wieder ein wenig diskutieren. Sie machten Witze, redeten über Schule und Kino und verhielten sich alle unglaublich störend.

Ich wollte nur noch so dasitzen und ihn ansehen, ihm zuhören, wenn er witzige Bemerkungen machte. Oh, bisher hatte niemand in meinem Leben so wunderbar komische Dinge gesagt. Wo holte er das nur her? Wie konnte er bloß so schlagfertig sein? Ich begann ihn zu bewundern, anzuhimmeln, ja beinahe zu vergöttern. Wie, um Himmels Willen, sollte man da noch atmen, lächeln, sprechen, sich bedanken, mitspielen, Kuchen essen und den anderen Aufmerksamkeit schenken. Wie sollte ich von mir erzählen und cool bleiben, auch wenn es das Wort noch nicht gab. Ich hatte ein hochrotes Gesicht. Furchtbar! Und mit jedem Gedanken wurde es glühender. Ich zerrte an meiner dummen Kleidung herum. Warum, warum nur hatte ich mich so schäbig gekleidet, wo ich doch heute dem Menschen meines Lebens begegnete?  

Nach einer Weile wurde klar, dass es sich um Susas Cousin handelte, der mit seinen Eltern für zwei oder drei Tage aus einer entfernten Großstadt gekommen war. Ich sah meine Hoffnungen, ihn besser kennenzulernen mehr und mehr schwinden. Wie sollte das auch gehen, wenn er so weit entfernt wohnte? Wieder zog ich an meiner Kleidung herum. Hätte ich mich doch bloß ein wenig schöner hergerichtet. Was sollte er nur von mir denken?  Ein alter, abgelegter und von Tante Paulina umgenähter Rock zu einem Nylonpullover, der viel zu eng war und überhaupt keine Farbe hatte. Ein ausgeblichenes Beige. Bisher war es egal gewesen, was ich anhatte. Niemand sah mich an, niemand achtete auf mich. Die Haare ungewaschen zu einem Pferdeschwanz gebunden. Alles sollte genau so hässlich sein, um jeden potentiellen Bewerber für immer abzuschrecken. Ich schämte mich furchtbar, wie noch nie zuvor. Wie gern hätte ich diesem unbekannten Jungen gefallen. Wie sehr wünschte ich mir, dass er mich genauso unwiderstehlich fand wie ich ihn.

 

„Kommt, wir spielen Schokolade-Essen!“ , lachte Susa und gackerte wie eine Neunjährige.

„Das ist was für Kleinkinder“,antwortete Greta, aber keiner hörte auf sie. Flugs stand ein Teller mit Schokolade vor ihnen auf dem Tisch. Und dann wurde gewürfelt. Wer eine sechs hatte, musste sich eiligst Mütze, Schal und Handschuhe anziehen und dann mit Messer und Gabel eine Tafel Schokolade zerschneiden, um diese zu essen. Meistens kam man nicht ein einziges Mal dazu, sich ein Stückchen abzuschneiden oder auch nur das Besteck in die Hand zu nehmen, weil schon ein anderer eine sechs gewürfelt hatte  und einem die Wollsachen vom Kopf riss. Am liebsten hätte ich mich vor diesem albernen Spiel davon geschlichen. Ich sah verstohlen zu dem Jungen, dessen Abbild sich in meinem Körper als eine Art innere Tätowierung eingebrannt hatte.

Sein Name:

 

Frederik

 

Frederik. Was für ein wunderschöner, unvergleichlicher Name.

Noch nie hatte ich jemanden gekannt mit solchem Namen. Ich konnte mich wage an diesen Cousin erinnern, als wir alle noch im Sandkasten spielten. Damals kam er auch schon einmal zu Besuch. Ein kleiner Junge, der sich für Eisenbahnen interessierte. Und jetzt?

Die ganze Welt schien stillzustehen, wenn man ihm in die Augen sah. Wie musste es erst sein, wenn man ihn berühren durfte. Daran wagte ich gar nicht zu denken, weil ich sonst alles hätte fallen lassen, was man mir so arglos anvertraute. Gedanken in der Richtung hob ich mir auf für später, wenn ich wieder ganz alleine war, im Bett lag und meiner Phantasie freien Lauf lassen konnte. Er war für mich der „son of a preacherman“. Wann immer dieses Lied später irgendwo lief, vermutete ich, dass nur er gemeint sein konnte. The only one who could ever reach me.

 

„SAANDRA!!! Du bist dran!!“ Ich würfelte lustlos und gab den Stein weiter.

 

Ich beobachtete dem Römer, der da so unvermittelt in mein Leben gestolpert war. Er redete viel und lächelte dabei. Was er sagte, hörte ich oft nicht. Ich sah nur zu, wie er es sagte.

 

„Einstein ist tot, Newton ist tot und mir ist auch schon ganz schlecht“, witzelte Frederik. Alles lachte laut auf.

 

Die anderen lachten oft, so dass ich mich jedesmal ein wenig erschrak.

Frederik beugte sich über den Tisch, griff nach dem Würfel. Seine Gesten waren sehr  ja, man könnte fast sagen, elegant. Es gefiel mir, wie er sich bewegte. Ich kannte ihn grade eine Stunde und sehnte mich danach, von ihm berührt zu werden. Diese unglaublich schönen Hände strichen über den Holzwürfel, der durch den Schwung des Anstoßes beinahe leidenschaftlich über den Tisch kullerte. Wenn es nicht zu dämlich gewesen wäre, hätte ich meinen Römer gebeten, den Holzklotz noch einmal für mich zu werfen. Damit ich alle Einzelheiten dieses Schauspiels in mich aufsaugen könnte. Doch ich ließ es lieber und schwieg still. Meine Güte, was war denn bloß los? Alle Blutbahnen zogen sich zusammen oder taten das Gegenteil. So genau wusste ich es nicht. Mein Gesicht wurde ganz heiß. Und da war auch nichts mehr zu machen. Ab jetzt musste ich mit dieser geröteten Birne herumlaufen. Ich zupfte an meinen Haaren herum. Vielleicht konnte ich das Übel ein bisschen weniger übel aussehen lassen. Eigentlich hatte ich schönes Haar. Ganz lang, dick und blond. Jedes Gard-Haarstudio in der schwarz-weißen TV-Werbung hätte mich sicher sofort engagiert und einen Vertrag mit mir, einer Minderjährigen, riskiert. Denn diese Haare schienen sowohl einer Rapunzel aus dem Märchen als auch einer Sisi von Österreich in blonder Version, Konkurrenz machen zu können. Das Problem war allerdings, dass ich sie immer versteckte. Ich zurrte sie ungewaschen zu einem Zopf zusammen. Streng nach hinten gekämmt. Niemand sollte sehen, was ich da besaß. Es ging niemanden etwas an. Und ich wollte es auch niemandem zeigen. Bis heute! Bis zu diesem Nachmittag im Mai in der Feierstube des Bauernhauses, als dieser Junge vor mir stand.