Von Beate Fischer

Ich liege auf dem Bett im „Goldenen Löwen“ und starre an die Decke. Meine Körpertemperatur fährt Achterbahn und daran ist nur Moni schuld. Sie hat mich hierher geschleppt.

 

Als vor ein paar Wochen die Einladung zu einem Klassentreffen in unsere Briefkästen flatterte, erlitt Moni einen nostalgischen Anfall.

„Lass uns einen Tag früher ins Dorf fahren und schauen, wer sich da noch so rumtreibt“, bettelte sie.

Ich weigerte mich trotzig: „Wer sagt denn, dass ich überhaupt dorthin gehe?“

„Ich. Du schuldest mir nämlich noch einen Kurzurlaub meiner Wahl.“

 

Und weil sie meine älteste und beste Freundin ist, musste ich all meine Termine verschieben und verbringe nun ein Wochenende auf dem Land.

 

Auf der Zugfahrt konnte Moni meine düstere Miene nicht lange ertragen. Sie kommentierte jeden Fahrgast, jede Kuh auf der Wiese und jede Wolke am Himmel, um meine Laune zu heben. Plötzlich klebte sie am Fenster.

„Schnell, schau mal, da drüben auf dem Feld, ein Ballon. Ich glaube, der geht gleich in die Luft.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich hoffe, die Explosion wird nicht zu heftig.“

Mein Blick streifte die schlappe Riesenkugel. „Genauso fühle ich mich oft: wie ein Heißluftballon ohne heiße Luft, meine Höhenflüge sind vorbei, der zündende Funke fehlt.“

Moni erheiterte mein Vergleich. „Ich halte dir gerne ein Feuerzeug unter deinen Allerwertesten, wenn’s hilft.“

Und weise fügte sie hinzu: „Du wirst sehen, ein Ausflug zurück zu den Wurzeln wirkt Wunder. Danach geht’s dir besser. Ich hab schon lange gemerkt, dass du ganz depressiv wirst, seit du nur noch durch die Welt düst und berühmte Leute triffst.“

 

Für eine Weile sollte sie recht behalten. Als wir heute Abend unsere gute, alte Dorf-Disco betraten, fühlte ich mich gegen meinen Willen sofort heimisch. Nichts hatte sich verändert: dieselben zerkratzten Eichentische, dieselbe Theke aus riesigen Holzfässern, dieselben trüben Stalllaternen, die alles in diffuses Licht tauchten und dieselbe Musik.

 

Anfangs amüsierten wir uns prächtig. Alle Bekannten und Unbekannten, die sich hier tummelten, bekamen von uns ihr Fett ab.

„Schau mal, da drüben, der Charly. Ich hab schon immer gewusst, dass er als Zuhälter endet. Diese Goldkettchen und die Schmiere im Haar…“

„Dort, ist das nicht die Tochter vom Metzger Maier? Die hatte doch so einen aufgetakelten Namen? Patrizia? Hat ganz schön Fleisch angesetzt, die Kleine. Ihre Kleider rücken ihr richtig auf die Pelle.“

 

Unsere Kommentare waren aus der untersten Schublade und sobald mir das klar wurde, verstummte ich peinlich berührt und widmete mich voller Hingabe einem Strudel in meinem Cola-Glas, den ich mit Hilfe eines Strohhalms rotieren ließ, bis Moni mich anstupste.

„Du, der Typ da drüben starrt dich die ganze Zeit an.“

Sie musste mir direkt ins Ohr schreien, um die dröhnende Musik zu übertönen.

„The heat is on, is on the street“, summte ich und dachte: und nicht nur dort.

 Natürlich hatte ich ihn bereits bemerkt, brüllte aber zurück: „Wer? Wo?“ und schaute wie orientierungslos in die Runde.

 

Er saß entspannt mit ein paar Freunden am übernächsten Tisch. Die Jungs redeten über Fußball, das war nicht zu übersehen. Aber hin und wieder verfing sich sein Blick an mir, an meinem Mund, an meinen Händen, in meinen Augen und er verursachte mir glühende Ohren. Ich knöpfte meine Bluse auf und fächelte mir mit einem Bierdeckel Luft zu.

Wir waren uns schon einmal begegnet. Aber wo? Wer war er? Ich durchwühlte die Abgründe meines Gehirns, konnte aber nicht entdecken, wo sich der Besitzer dieses Gesichtes verkrochen hatte.

Moni sprach mir aus der Seele: „Wow, der junge Robert Redford auf dem Dorfe! Das ist ein Kerl! Kennst du den etwa?“ Sie kicherte. „Guck mal, er zwinkert dir sogar zu.“

„Quatsch, der hat nur was im Auge…Ich muss mal aufs Klo. Passt du bitte auf meine Tasche auf?“

Begleitung konnte ich jetzt nicht brauchen. Ohne eine Antwort abzuwarten sprang ich auf und stolperte hinaus.

Ich schloss mich in der Toilette ein und ging in mich. Der vertraute Fremde erinnerte mich an Sonne und Freiheit, an das Gefühl, barfuß über Stoppelfelder zu laufen und an den Geruch faulender Äpfel.

Kein Zweifel, das musste Andi sein.

Er war aus der Stadt gekommen, um die Ferien bei seinen Großeltern zu verbringen, die in unserer Straße wohnten, war eines Tages aufgetaucht und hatte mich zu seiner besten Freundin auserkoren. Wir waren vierzehn und es war der letzte unbeschwerte Sommer meiner Jugend.

 

Ray Charles jaulte „In the heat of the night“, als ich etwas gelassener den Rückweg antrat. Plötzlich schlossen sich von hinten kräftige Finger um mein Handgelenk und zogen mich um die Ecke. Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Vor mir schnappte Andi nach Luft. Eine Schweißperle kroch über seine Schläfe, in seinen Haaren wippten feine Sägespäne. Sein Geruch nach Holz, Bier und harter Arbeit schlüpfte mir in jede Pore. Er ließ meinen Arm los und trat einen Schritt zurück, aber von der Stelle aus, an der er mich berührt hatte überschwemmte eine Hitzewelle meinen Körper.

„Sylvi?“ Ich nickte. „Andi?“ Er bebte.

„Weißt du noch…?“ Der Satz schwebte einen Wimpernschlag über uns und fiel auf fruchtbaren Boden.

„Unser Baumhaus auf dem schrägen Baum…“

„Es war klapprig, aber wir haben es selbst zusammen genagelt.“

„Wir haben uns dort immer verschanzt, um Lucky Luke und Asterix zu lesen.“

„Und die Wasserschlachten am Tretbecken bei der Hexenquelle…“

„Die alte Frau Schuster hat sich immer furchtbar aufgeregt…“

„…weil danach fast kein Wasser mehr drin war.“

„Die Lagerfeuer auf der Lichtung im Eichenwald…“

„…einmal ist es so spät geworden, dass mein Vater mich am Ohrläppchen nach Hause gezogen hat.“

Die Erinnerungen flogen hin und her, bis sie uns im Hals stecken blieben.

„Ich habe damals vergessen, dir etwas zu geben.“ Andis belegte Stimme drang kaum durch den Vorhang aus Lärm.

Sein Atem streichelte meinen Hals. Und dann küsste er mich mitten auf den Mund, schüchtern, weich, zart. Ein Kinderkuss. Doch ich stand in Flammen.

Mit geschlossenen Lidern ersehnte ich mehr, aber er war verschwunden. Wie am Ende jenes Sommers.

 

Ich versuchte, mich zu sammeln, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Der angelaufene Spiegel zeigte mir eine desillusionierte Mittvierzigerin mit strengem Kurzhaarschnitt und Augenringen. Wie hatte er in mir die lebendige Vierzehnjährige erkennen können?

 

Moni hatte sich derweil nicht gelangweilt. Angelika, die Schönheitskönigin unserer Schulzeit, hatte sich in ihrer gewohnten Pose neben ihr drapiert: über den Tisch gebeugt, die Hände aufgestützt, gewährte sie ungehinderte Einsicht in ihr Dekolleté und streckte ihren Hintern dekorativ in die Landschaft.

Ich ließ mich auf meinen Stuhl plumpsen und suchte den Raum nach Andi ab. Als ich ihn entdeckte, lehnte er an der Bar und kippte einen Klaren. Moni musterte mich mit gerunzelter Stirn.

Angelikas makelloses Gesicht strahlte, als sie uns von ihrem erfüllten Leben erzählte: Haus, Mann, Kinder. Es schien, als hätte sie sich in ihrem Jugendtraum glücklich eingerichtet, während ich durch meinen nur noch schlafwandelte.

 

„Wisst ihr, mein Mann hat vor ein paar Jahren das Haus seiner Oma geerbt und eigenhändig renoviert. Er ist so ein begabter Handwerker. Und so ein liebevoller Vater. Wir haben Zwillinge. Die sind schon aus dem Gröbsten raus. Ich helfe in unserer Schreinerei mit, im Büro…“

War das Neid, der meine Eingeweide rumoren ließ oder die Nachwirkungen des Überfalls im Flur?

„Wir haben ein reizendes Baumhaus im Garten. Er hat es in seiner Jugend gebaut und dann mit den Kindern wieder in Stand gesetzt. Natürlich größer und schöner als früher. Wir haben viel Zeit dort oben verbracht…“

Mir schwante Böses. Andi hatte doch nicht…

Plötzlich unterbrach sie sich und rief: „Oh, hört ihr? ‚Angie‘, unser Hochzeitslied. Bitte entschuldigt mich.“

Mit wehender Mähne strebte sie der Theke zu.

Nein, das durfte nicht wahr sein. Ich flehte alle Engel im Himmel an. Nicht diese Schnepfe in meinem Baumhaus!

Doch tatsächlich: Angelika war Andis Frau. Besitzergreifend zerrte sie ihn auf die Tanzfläche und presste sich unanständig dicht an ihn. In meinem Kopf entlud sich ein Gewitter und verhagelte mir die Laune. Die angestaute Hitze verpuffte. „Komm, lass uns verschwinden. Das ist hier nichts für uns.“

Ich konnte nur lallen, meine Zunge war erstarrt wie eine Schlange im Eisschrank.

„Ach sei kein Spielverderber, es wird doch grade erst richtig lustig.“

Moni drehte sich zu mir um, sah mich an und verstand.

„Den Burschen kauf ich mir. Was hat er mit dir gemacht?“

„Später“, quetschte ich aus mir heraus.

 

Als wir zum Ausgang drängelten, spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Andi hatte sich für einen Moment aus der Umklammerung seiner Frau gelöst und war mir gefolgt.

„Sylvi…Wir sehn uns?!“

Seine traurigen Augen begleiteten uns bis zum Ausgang, während Moni mich vorwärts zog und bald darauf in der Pension mit Schüttelfrost und Hitzewallungen ins Bett steckte.

 

Ich verfluche sie, weil sie mich hierher gebracht hat, aber ich werde ihr auch ewig dankbar sein. Das Feuer unter meinem Hintern brennt.