Von Manuel Fiammetta

Frankfurt, 1989

 

„Hast du Zeit? Kann ich zu dir kommen?“

„Was ist los, Mark? Du klingst so aufgeregt.“

„Julia, ich muss mit dir reden. Es ist wirklich dringend.“

„Okay, dann komm´ in einer halben Stunde vorbei.“

„Gut. Danke. Dann bis gleich.“

 

Julia und Mark waren dreizehn. Sie kannten sich seit zwei Jahren und trafen sich seitdem so oft es nur ging. Julia wohnte mit ihren Eltern in einer der vielen amerikanischen Siedlungen der Stadt. Ihr Vater war hier stationiert. Marks Eltern hatten nur unweit der Siedlung ein kleines Häuschen gebaut, in dem seit einem knappen Jahr nun auch zwei weitere kleine Kinder lebten. Zwillinge. Später Nachwuchs.

 

„Hello, Mrs. Wright.“ Mark begrüßte Julias Mutter immer so, obwohl sie sehr gut deutsch sprechen und verstehen konnte.

„Hey Mark. Wie geht es dir?“

„Naja, könnte besser sein. Die Schule…“

Julia zog Mark am Arm in ihr Zimmer und rief ihrer Ma noch ein „bis später“ hinterher.

 

„Was ist los? Du siehst ja furchtbar aus“, befand Julia, während sie ihren besten Freund musterte.

Mark setzte sich auf ihr Bett.

„Mein Vater muss bald wieder auf Geschäftsreise gehen und meine Mutter fährt mit den dämlichen Zwillingen zur Mutter-Kind-Kur …“

„Das ist doch genial. Dann hast du sturmfreie Bude“, unterbrach ihn Julia.

„Nein! Ich soll zu meinem Onkel.“

„Stimmt, der wohnt ja nicht weit weg.“

„Julia, ich möchte dort nicht hin. Meinst du, ich kann in der Zeit hier wohnen?“

Julia schluckte. Sie mochte Mark wirklich sehr und ginge es nach ihr, wäre das gar kein Problem. Auch ihre Mutter würde dem wohl zustimmen. Nicht aber ihr Vater.

„Das geht nicht, Mark. Mein Pa wird etwas dagegen haben. Aber warum möchtest du denn nicht zu deinem Onkel gehen?“

Mark nahm Julias Hand und drückte fest zu.

„Wenn ich dir jetzt etwas sage, versprichst du mir, dass du es für dich behältst?“

„Natürlich“, antwortete Julia.  „Sag schon.“

Mark holte tief Luft. Man spürte, dass das, was er nun sagen würde, alles verändern sollte.

„Mein Onkel macht Dinge mit mir, die nicht schön sind. Dinge, die ich nicht will.“

„Was meinst du, Mark?“

„Er macht das schon seit vielen Jahren. Damals, als ich noch ein Kind war, wusste ich noch nicht, dass das schlimme Sachen sind und er so etwas gar nicht machen dürfte. Ich ließ es einfach über mich ergehen. Ich dachte, es sei etwas Normales …“

Julia unterbrach ihn erneut.

„Was, Mark“, schrie sie ihn an, „was macht er mit dir?“

Die beiden sahen sich intensiv in die Augen.

„Ich glaube, dass ich dich liebe, Julia.“

Ihr entglitten sämtliche Gesichtszüge. Sie hatte so sehr gehofft, dass er es täte und doch immer wieder gezweifelt. Nun war es also raus. Es fühlte sich aber nicht befreiend an.

„Ich mag dich auch. Sehr sogar“, antwortete sie ihm mit sanfter Stimme.

„Versprich mir bitte, dass du es niemandem erzählen wirst. Du bist der erste Mensch, dem ich davon erzähle.“

Julia versprach es. Nochmal.

Mark drückte Julias Hand so fest, dass es ihr schon wehtat, sie aber viel zu aufgeregt war, um den Schmerz zu spüren. Mark wiederum senkte seinen Blick gen Boden und mit zittriger Stimme kam es dann aus ihm heraus.

„Mein Onkel missbraucht mich.“

Eine bedrückende Stille umschlich die beiden. Es schien, als hörte man das Blut in den Venen fließen. Die Herzen pochten wie nach einem Marathon und die Hände waren in Schweiß gebadet.

Julia sagte zunächst nichts. Sie konnte nichts sagen. In ihrem Gesicht vermischten sich Traurigkeit, Fassungslosigkeit, Mitleid und Wut. Mark hingegen schaute weiter zu Boden. Er traute sich nicht, seine Freundin anzusehen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, legte sie ihre Hand um sein Kinn und drückte seinen Kopf sanft nach oben.

Marks Augen waren leer. Es schien, als blickte er durch Julia hindurch. Tränen rangen beiden über ihre Wangen.

Julia nahm Mark in den Arm, bis sie schließlich das Schweigen brach.

„Warum sagst du mir das erst jetzt? Warum hast du es nicht deinen Eltern gesagt? Seit wann macht er das mit dir?“

Sie hatte plötzlich so viele Fragen im Kopf. Ihre Worte überschlugen sich förmlich.

„Mein Onkel hatte mir damals eingetrichtert, dass meinen Eltern etwas ganz Schlimmes passieren würde, wenn ich ihnen davon erzähle. Ich wollte nicht Schuld daran sein, wenn meinen Eltern etwas zustoßen sollte.“

„Seit wann, Mark?“

„Seit ich acht bin.“

„Fünf Jahre schon.“ Julia war entsetzt.

„Er macht es jetzt nicht mehr so wie früher. Aber schon alleine ihn zu sehen, macht mich fertig. Ich war so glücklich, als ich dich kennengelernt habe. Seit dem denke ich immer an dich, wenn ich zu meinem Onkel muss oder er zu Besuch kommt. Das hilft mir dann, es zu ertragen.“

„Mark, du musst es deinen Eltern erzählen …“

Jetzt unterbrach Tom Julia.

„Ach, meine Eltern. Mein Vater ist beruflich so stark eingebunden, dass er nichts anderes mitbekommt und meine Mutter ist mit den blöden Zwillingen heillos überfordert. Außerdem würden sie es mir eh nicht glauben. Dafür habe ich sie in der Vergangenheit leider zu häufig angelogen. Ich vertraue nur dir. “

„Dann geh´ direkt zur Polizei. Ich komme mit.“

Julia stand entschlossen vom Bett auf und wollte sich schon bereit machen.

„Nein. Nein. Ich möchte ihn einfach nur nicht mehr sehen.“

Julia setzte sich wieder zu Mark und nahm seine Hand.

„Wenn du hier wohnen willst solange deine Eltern nicht da sind, müssen wir es meinen Eltern sagen. Sonst wird Pa dagegen sein.“

„Nein, Julia. Du hast versprochen, keinem etwas davon zu sagen.“

„Ich möchte dir helfen, Mark. Lass´ mich dir helfen.“

„Halt mich einfach nur fest und glaube mir.“

Julia drückte Mark fest an sich. Er spürte ihre Wärme und sie seine flache, hektische Atmung.

 

Die Zeit verging für Mark wie im Flug und es kam der Tag, an dem er für einige Wochen zu seinem Onkel und deren Frau ziehen musste. Sein schleimiges Grinsen beim Verabschieden seines Bruders brachte Mark Übelkeit.

„Na, Mark“, sagte er zu ihm und strich ihm durchs Haar. „Helen ist noch auf der Arbeit. Lass´ uns rein gehen.“

Wie ein Zug, der auf ihn zugerast kam, er aber wie gelähmt auf den Gleisen stehenblieb, kam auch sein Onkel auf ihn zugerast und Mark war wie gelähmt.

So ging es nun wieder tagelang. Wochenlang. Seit Jahren.

***

„Hallo, mein Sohn.“

Die Begrüßung fiel nicht sonderlich herzlich aus, als Marks Vater ihn wieder abholte.

„Er ist anscheinend traurig, dass er gehen muss“, konstatierte sein Onkel.

„Vielen Dank für alles“, sagte sein Vater. Es hatte etwas Ekelhaftes. Auch wenn der Vater nicht wusste, was der Bruder seinem Sohn immer wieder antat, hasste Mark auch ihn.

„Kein Problem, Bruderherz. Immer wieder gerne. Mark und ich hatten unseren Spaß. Nicht wahr?“

Er wuschelte ihm durch die Haare.

Mark nickte nur, während sein Körper von Blitzen durchzogen wurde. Wegrennen oder angreifen? Mark konnte nur stehenbleiben und musste alles ertragen.

***

Die Monate vergingen. Marks Mutter bekam die Zwillinge besser in den Griff und Mark musste immer seltener zu seinem Onkel. Die Treffen mit Julia waren weiterhin sein einziger Lichtblick und wurden immer inniger. Er wusste spätestens jetzt, dass das, was sein Onkel mit ihm machte, nichts mit Liebe zu tun hatte. Julia zeigte ihm, was Liebe war. Bis zu dem Tag, an dem sie ihm sagen musste, dass sie wieder nach Amerika gehen würden. Julia, seine erste große Liebe. Julia, der einzige Mensch, der wusste, was Mark erlebt und durchlitten hatte. Julia, sein Zufluchtsort.

Für Mark brach eine Welt zusammen.

Er wurde mehr und mehr zum Einzelgänger, schottete sich ab. Einzig die Briefe von Julia ließen ihn in eine andere Welt entfliehen.

Seinen Onkel sah er nur noch selten. Zu ihm nach Hause musste er nicht mehr. Kündigte er seinen Besuch an, war Mark immer unterwegs oder schloss sich in seinem Zimmer ein.

Am Abend seines achtzehnten Geburtstages beschloss er, sein Leben endlich zu leben, wieder ein Mensch sein zu wollen.

Er dachte noch immer an Julia. Jeden Tag. Die Abstände der Schreiben wurden größer und größer, bis sie schließlich nicht mehr antwortete. Sie war weg und kam wohl auch nicht wieder. Irgendwann musste er bereit sein für jemand anderen. In ihm keimte außerdem die Gewissheit, dass er seine Tränen wieder zurück haben wollte.

 

V1

Hinschauen. Glauben. Handeln.